Gedenkrede Gudendorf 2025
(In der Gedenkstätte Gudendorf1 am 08. Mai 2025, überarbeitet)
Sehr geehrter Herr Landrat Schütt2, sehr geehrter Herr Bürgermeister Höfs3, sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Anwesende, vor allem die Schulleitung und die Lehrerinnen und Lehrer der Gemeinschaftsschule Meldorf4.
Sie haben ja gehört, dass ich von Beruf Lehrer und Didaktiker für den Politikunterricht war. Ich werde etwas über Schulunterricht zum Frieden sagen. Jedoch: Wenn ich mir ansehe, was die Gemeinschaftsschule Meldorf an dieser Gedenkstätte geleistet hat, pädagogische Meisterarbeit, muss ich mich eigentlich erst einmal von dieser Schule über praktische Friedenserziehung informieren lassen5. Eine Frage: Haben Sie dazu in erziehungswissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht? Damit diese Arbeit als vorbildlich wahrgenommen werden kann?
In meinem Vortrag geht es um ein Denkmodell für den Unterricht im Klassenzimmer, das sich ebenso gut für Erwachsene eignet. Man kann mit ihm über einen zukünftigen Frieden des gegenwärtigen russisch-ukrainischen Kriegs nachdenken.
Ich zitiere aus dem Aufruf für diese Gedenk-Veranstaltung6:
„Wir gedenken der vielen Millionen Menschen, die im 2. Weltkrieg und den vielen Kriegen danach – bis in die aktuelle Gegenwart – ihr Leben verloren haben. Diese Toten mahnen uns, Kriege als Mittel der Politik abzulehnen. …
An unsere Regierung richten wir den Appell, alle diplomatischen Mittel zu nutzen, um auf eine Beendigung der Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu drängen und Friedensverhandlungen zu beginnen. …
Immer noch hat die Mahnung des Friedensgutachtens 2022 Bestand: Auch wenn es in der Erregung des Augenblicks illusorisch erscheinen mag, ist jetzt der Zeitpunkt, sich über die Schritte zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa Gedanken zu machen.“
Was ist bei solchen Verhandlungen zu bedenken, was kann darüber im Politikunterricht bedacht werden?
Grundlegend ist im Politikunterricht immer die Frage, wie Konflikte nach Regeln friedlich gelöst werden7. Menschen sind unterschiedlich: Nach Besitz und Eigentum, nach Einfluss, nach Interessen, nach Religion und Weltanschauung. In jedem Staat, in jedem Gemeinwesen herrschen die Reichen über die Mittleren und über die Armen. Diese wollen sich das nicht gefallen lassen, wollen auch ihren Anteil. Dieser Ausgleich setzt Regeln voraus. Schon die alten Griechen beschäftigen sich vor über 2000 Jahren mit genau diesem Thema. In einem Staat sollte es geschriebene und ungeschriebene Regeln geben, solche Streitigkeiten zu lösen. Diese Regeln können im Zweifel auch mit staatlichem Zwang, wiederum nach Regeln, mit Gewalt durchgesetzt werden, wenn jemand sich nicht an sie halten will.
Man kann Schülerinnen und Schüler solche Regeln entwerfen lassen, etwas anderes haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch nicht getan8. Die Schülerinnen und Schüler setzen dann ihre Entwürfe von einem geordneten Zusammenleben in ein Verhältnis zur Demokratie des Grundgesetzes. Der Unterschied zwischen ihren Entwürfen und dem gesatzten Recht kann wieder Gegenstand des Unterrichts sein. So kann ein tiefes Verständnis von den Möglichkeiten entstehen, Frieden in einem demokratischen Staat zu schaffen.
Geht es aber um Konflikte zwischen Staaten, gibt es zwar Regeln, mehr oder weniger verbindliche, aber es gibt weder eine letztverbindliche richterlich entscheidende Instanz noch ein gesetzliches Gewaltmonopol. Politikwissenschaftler sprechen vom anarchischen Charakter der internationalen Beziehungen. Die Aufgabe stellt sich sehr anders dar.
Welche Möglichkeiten und Bedingungen eines dauerhaften Friedens würden Schülerinnen und Schüler entwerfen? Ich weiß es nicht wirklich, ich versuche einen Entwurf für einen Gedankengang, der auch eine Hilfe für das Denken Erwachsener und damit auch für die Politik sein kann. Ich bitte Sie also, dem Roten Faden dieses Gedankenexperiments zu folgen, damit wir gemeinsam einen Weg zum Frieden benennen können. Oder jeder für sich den seinen.
Täglich erreichen uns Berichte vom Leiden und vom Sterben. Wer immer sich äußert, wünscht den Frieden, aber oft sind diese Wünsche mit Bedingungen verknüpft, die auf solche Zugeständnisse der anderen Seite zielen, die diese als völlig unakzeptabel empfinden. So ist mancher Wunsch nach Frieden in Wirklichkeit der Wunsch, der Krieg möge so lange andauern, bis die eigene Seite den Sieg errungen hat.
Aber es muss ein Ende gefunden werden. Und der neue Friede muss dauerhaft halten können.
Man könnte nun mit Schülern alle möglichen geforderten und vorgeschlagenen Lösungen durchdiskutieren. Jeder Vorteil wird durch mindestens einen Nachteil zerstört, der für eine der beiden Seiten unakzeptabel ist. Dieser Weg führt vermutlich nicht weiter.
Die Sache selbst muss analysiert werden, bevor ein Unterricht gedacht werden kann.
Ein Blick in das Grundgesetz kann helfen. Uns ist in der Mittelschule 1962 in der achten Klasse, also vor über 60 Jahren, von unserem Sozialkundelehrer, einem durch den Krieg geschädigten Mann, beigebracht worden, dass das Grundgesetz mit den Rechten der Menschen beginnt, weil die Menschen, jeder einzelne, Vorrang vor dem Staat haben, denn der Staat hat den Menschen zu dienen. Das Grundgesetz enthält den Art. 1 Abs. 2:
„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.
Erst die Menschen, dann der Staat. Erst die Menschenrechte, dann die Staatsräson. So beschloss es der Parlamentarische Rat 1949 unter dem Eindruck des Kriegs. Das ist der Ausgang in der Sache.
Heute gelten in der Politik jedoch andere Denkregeln: Erst der Sieg, dann die Menschen. Die Denk-Verhältnisse sind leider auch in Deutschland wieder verrutscht, vom Grundgesetz weg.
Politische Konzepte müssen beim einzelnen Menschen beginnen. Das erste Grundrecht des einzelnen Menschen ist das Recht auf sein körperliches Leben. Das führt zu seinem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in eigener kultureller Wahl.
Staaten nehmen sich jedoch das Recht, diese Rechte des Einzelnen in gewünschte Bahnen zu lenken, mit mehr oder weniger viel Zwang, mit Schulen und Kirchen.
Staaten muss es nun aber der notwendigen Ordnung und der Daseinsvorsorge wegen geben. Es gibt die Russländische Föderation mit ihrer Armee und es gibt die Ukraine mit ihrer Armee. Staaten wollen Platz und Wirkung für ihre Armeen und deren Verbündete haben. Die Rechte der Einzelnen müssen zurücktreten.
Hier gibt es einen Widerspruch zwischen den Einzelnen und ihren Gruppen und den Staaten. Die Staaten haben die Macht und Gewalt, ihn zu ihren Gunsten zu lösen. Aber das führt zu neuen Spannungen, die zu neuer Gewalt führen können.
Wie also kann eine Friedensordnung aussehen, die diese Spannung austariert? Eine schwierige Aufgabe in der Schule.
Grundlage eines dauerhaften Friedens kann nur die Selbstbestimmung der einzelnen Bewohner eines Landstrichs sein. Die staatlichen Grenzen müssen in ihrer Bedeutung herabsinken. Man kann die Staaten nicht abschaffen, aber man kann ihre außenpolitische Bedeutung verringern, dafür die Bedeutung jener Menschengruppen stärken, die sich ethnisch, kulturell oder sprachlich definieren. Das deutsch-dänische Verhältnis seit 1920 bis hin zur Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 und der darauf folgenden sehr positiven Entwicklung könnte vielleicht modellhaft sein9.
Frieden kann also gelingen, wenn man Bereiche dieser Selbstbestimmung einrichtet, kulturelle Regionen, durchaus durchmischt mit diesen und jenen Menschen anderer Herkunft und Prägung, und den Staat auf Fragen der Macht und mancher Gestaltung beschränkt.
Dann wäre womöglich ein Frieden denkbar, in dem die bisherigen staatlichen Grenzen zwar de jure bleiben, aber eine Weise des Umgangs miteinander über die faktischen Grenzen ermöglicht wird, die die Lösung der großen territorialen Fragen in die nächsten Jahrzehnte verschiebt.
Es sind mehrere Sachverhalte, die sowohl im Unterricht unter Erwachsenen als auch mit Schülern berücksichtigt werden müssen:
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Das völkerrechtliche Prinzip der territorialen Integrität der Staaten. Völkerrechtlich besteht die Ukraine immer noch in den Grenzen von 2013. Es wird keinen Friedensvertrag geben, in dem neue Grenzen fixiert werden. Aber man wird diese Grenzen auch nicht wieder herstellen können.
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Die Rechte der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Minderheiten und die Rechte der einzelnen sehr verschiedenen Menschen müssen nicht nur geschützt werden, sie müssen vielmehr nach und mit der Charta von Paris vom November 199010, einem Dokument der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zur Entfaltung gebracht werden. Die Friedensbereitschaft der beiden Parteien ist an ihrer Bereitschaft abzulesen, ihre Minderheiten nicht nur zu dulden, sondern sogar zu fördern.
Aus diesen Überlegungen können sich Möglichkeiten für Lösungen ergeben:
- Die jeweils gegenwärtigen territorialen Besitzstände werden vorläufig faktisch anerkannt. Die Möglichkeit einer friedlichen rechtlichen Änderung in der Zukunft bleibt offen.
- Die Pflicht zur Förderung der Minderheiten mindert die Wirkung der Staatszugehörigkeiten.
- Die Außenpolitik der beiden Staaten nimmt, wie in der Charta von Paris geklärt, auf den anderen Staat Rücksicht. Dazu wird ein langer Streifen des militärischen Disengagements an der Grenze festgelegt, der je nach Waffenart sehr breit sein kann. Es gibt Vereinbarungen der gegenseitigen Kontrolle, das, was man früher „vertrauensbildende Maßnahmen“ nannte.
- Der neue Start der Ukraine wird durch Schuldenerlasse und Hilfe von allen Seiten erleichtert. Und es gibt vertragliche Regeln, die die wirtschaftlichen Möglichkeiten und Kraft der Ukraine vor allem der eigenen Bevölkerung zugänglich macht. Alles, was nach kolonialer Ausbeutung aussehen könnte, wird rückgängig gemacht.
So weit die Überlegungen zur Sache.
Ihre Erkenntnis kann im Politikunterricht vorbereitet werden, indem die Schülerinnen und Schüler sich mit den Grundfragen von Krieg und Frieden im Zeitalter der Grundrechte beschäftigen. Ein Unterricht über Krieg und Frieden müsste, ganz grundgesetzkonform, vom Einzelnen ausgehen. Seine Gliederung:
- In einer Urszene, in der Eröffnung, die den Schülern das Problem zeigt und sie zur Suche nach Lösungen schickt, geht es um die Einzelnen, ihre Familien und ihre weiteren Angehörigen als Opfer. Dargestellt beispielsweise durch einen der Filme, die hier in Meldorf in der Schule gedreht worden sind.
- Es folgt eine Phase der Rechtfertigung und der Reflexion: Die Täter des Kriegs haben eine politische Begründung, ihr Kern ist die Räson eines Staates / von Staaten.
- Schüler prüfen Staatsräson anhand etwa des Art 1 Abs 2 GG und erkennen einen kaum aufhebbaren Widerspruch: Der Einzelne und der Staat – das ist nicht unmittelbar deckungsgleich, das fällt nicht so zusammen, dass Staaten den Anspruch haben, über das Leben ihrer Bürger und das aller Menschen auf der ganzen Welt zu verfügen.
- Schüler arbeiten an Lösungen: wie auch immer sie konkret aussehen, sie werden einen Abstand zwischen dem Einzelnen und dem Staat enthalten. Vielleicht gibt es auch keine Lösung, sondern nur die ständige Aufgabe, die Gefahr von Übergriffen so gering zu halten wie möglich.
- Es gibt klassische philosophische Texte zu Krieg und Frieden, etwa zur Lehre vom „gerechten Krieg“, deren Zweck die Zurückdrängung des Kriegs ist, oder von Immanuel Kant. Und es gibt gute aktuelle politische Texte wie die Charta von Paris, die auf diesem Hintergrund mit den Schülern gelesen und geprüft werden können.
Wir wissen jetzt nicht, wie der Krieg weiter geht und wie er enden wird. Aber Schülerinnen und Schüler hätten dann Maßstäbe zur Beurteilung seines Ergebnisses, sie könnten Regelungen auf ihre Friedenstauglichkeit prüfen und ihre Maßstäbe selbst wieder einer kritischen Revision unterziehen.
Solch ein Unterricht ändert vielleicht am Verlauf des Krieges und an seinem Ergebnis nichts, er macht die Schülerinnen und Schüler aber tüchtiger, ihn zu beurteilen und mancher Beeinflussung zu widerstehen.
Dr. Horst Leps