Die Charta von Paris – eine Norm für den russisch-ukrainischen Krieg und seine Beendigung?!

Provisorische Gedanken für einen Vortrag am 25.02.2023 in Bremen auf der Norddeutschen Friedenskonferenz

 

Dr. Horst Leps – https://www.leps.de – horstleps@gmx.de

 

 

0.1 Vorbemerkung

In einem kurzen Vortrag über die Charta von Paris kann es auf dieser Konferenz nur darum gehen: Schaut mal auf das, was es schon einmal gab, was schon einmal von allen großen Mächten unserer Weltgegende vereindbart wurde, um Frieden stabil zu halten und stabil zu entwickeln. Die Charta von Paris war über fast drei Jahrzehnte die Referenz in den internationalen Auseinandersetzungen, wie die „Experten“ stritten: Ist eine Maßnahme mit ihr vereinbar oder ist sie es nicht?

Zugleich muss man sagen, dass es ja nicht geklappt hat, sie hat den Frieden in Europa nicht auf Dauer gesichert. War etwas falsch? Wenn ja, was? Was kann, sollte bei einem nächsten Mal neu gedacht und anders gemacht werden?

Der Text der Charta von Paris ist ein so gut wie unbekannt, weshalb es gelang, die Charta zwar öfter zu zitieren und dennoch einfach beiseite zu schieben. Sie wurde bis zm 24.02.22 immer wieder angesprochen, seitdem nicht mehr, weder von der westlichen Seite noch von Russland.

1 Zur Bedeutung der Charta von Paris

Wer eine politische Ausseinandersetzung verstehen will, muss sich durch eine Menge Fragestellungen arbeiten. Für den Politikunterricht, ist ja meine Arbeit gewesen, bieten sich da die „Giesecke-Kategorien“1 an.

Für eine Konfliktanalyse … schlägt Giesecke eine Liste von ganz bestimmten Kategorien vor. Sie enthält neben dem Konfliktbegriff selbst genau 10 weitere Kategorien: Konkretheit, Macht, Recht, Interesse, Solidarität, Mitbestimmung, Funktionszusammenhang, Ideologie, Geschichtlichkeit und Menschenwürde. Beim Konfliktbegriff geht es um die Aufdeckung der grundsätzlichen Gegnerschaft. Über die Kategorie Konkretheit sollen die Einzelheiten der Auseinandersetzung erschlossen werden. Die Kategorie Macht fragt nach faktischen Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Die Rechtskategorie zielt auf den formalen Rahmen, innerhalb dessen der Konflikt ausgetragen wird. Über die Kategorie Interesse sollen die Positionen und Perspektiven der Beteiligten transparent werden. Mitbestimmung führt zur Frage nach Möglichkeiten, Interessen zur Geltung zu bringen. Solidarität ist jene sozialethische Grundhaltung, die denen zur Verfügung steht, deren Interessen zu kurz kommen, wenn sie jeder für sich allein vertreten würde. Mit Funktionszusammenhang ist die Tatsache der vielfachen Vernetztheit und der Wechselwirkungen gemeint. Ideologie verweist auf Ordnungsvorstellungen, mit denen Interessen und Handlungen gerechtfertigt werden. Über die Kategorie der Geschichtlichkeit soll bewusst werden, dass jeder Konflikt seine Entstehungsgeschichte hat. Und Menschenwürde ist schließlich der übergeordnete Maßstab zur Bewertung von Konflikten und deren Lösungen.

Es geht um die Ukraine: Wie Waffenstillstand, dann Frieden in und mit der Ukraine aussehen könnten. (Und es geht nicht darum, wie der Krieg geführt werden könnte / sollte / müsste, damit die richtige Seite gewinnt.)

Zunächst wird für eine Antwort auf diese Frage eine Vorstellung von „Frieden“ gebraucht: Was ist Frieden? Was unterscheidet ihn von einem solchen solchen Zustand, der auch Frieden genannt wird, aber nur ein Waffenstillstand bis zum nächsten Krieg ist?2.

Diese Fragen sind nicht schwer zu beantworten. Aber die Antworten sind schwer zu operationalisieren, konkret auszugestalten. Heute dominiert die Vorstellung, der Ausgang des Krieges bestimme den folgenden Frieden3. Das ist sicher nicht falsch, aber nicht hinreichend. Denn wenn der Frieden nach dem Krieg dauerhaft Frieden sein soll, muss er bestimmten Anforderungen genügen.

Wie ein Frieden in Europa zwischen den Staaten aussehen kann und wie man ihn erreichen kann, ist im Prinzip schon geklärt. Der politische Weg dorthin ist schon verabredet worden, und er ist auch schon anfänglich beschritten worden. Man muss sich diese Vergangenheit, in der schon alles da war, nur in Erinnerung rufen. Es ist der Prozess, der mit der „Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ in Europa 1975 begann4 und für die Zeit nach dem Ende des Realsozialismus in der „Charta von Paris“ 1990 erneuert5 und mit dem „Dokument von Istanbul“ 1999 fortgesetzt6 wurde.

 

Und man muss auf jene Irrtümer schauen, mit denen dieser Weg verlassen wurde. Es sind Rückfälle in jene Zeit, in denen das Bestreben nach Macht nach außen, notfalls gestützt und durchgesetzt mit Militär, sowohl als Ziel als auch als Mittel der Außenpolitik galten. Gleichzeitig haben sich viele Staaten und ihre Gesellschaften als unfähig und unwillens gezeigt, diesen Weg zu einem gemeinsamen Frieden zu erkennen und gehen zu wollen. Es war und ist wichtiger, alte Rechnungen einzufordern, alte und älteste Gegensätze zu pflegen und neue auszutragen, wenn es sein muss, auch mit Gewalt7.

Heute, über 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs und fast 30 Jahre jener Fehler, die das schon längst Gelernte wieder verdunkelt haben, können wir genauer wissen, was im nächsten Schritt auf einen europäischen Frieden besser zu machen ist, welche Fehler unterlassen werden müssen.

Der Text / der Vortrag/ das Gespräch muss also in drei Schritten gegliedert sein:

  1. Was hatte man 1990 schon über die Gestaltung eines dauerhaften Fiedens gewusst?
  2. Wie ist all das Gelernte, Gewusste und schon Erreichte vergessen/verspielt worden?
  3. Wie muss man es jetzt besser machen?

 

1.1 Wie geht Frieden?

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine muss, da sind wir uns hier im Saal vermutlich einig, so schnell wie möglich beendet werden. Die Beteiligten müssen sofort mit dem Schießen aufhören und Verhandlungen über den Weg zu Frieden und dessen Ausgestaltung sofort beginnen.

Aber wir können sicher sein, dass nicht jeder auf der Welt das so sieht. Denn es ist ja klar, dass zu jedem Zeitpunkt in einem Krieg die verfeindeten Seiten die Vor- und Nachteile ihrer Lage abschätzen. Die einen sind momentan im Vorteil, es könnte sein, dass sich der Vorteil vergrößern lässt, die anderen sind im Nachteil und wollen ihn erst noch ausgleichen, bevor gesprochen und verhandelt werden kann. Bei uns in Deutschland herrscht die Sympathie für die Ukraine vor, sofortige Verhandlungen hätten vor einem Dreiviertel Jahr, im Sommer, zu ihrem Nachteil ausfallen können, im Herbst hätte es sein können, dass die Ukraine ihre Stärke nicht voll durchsetzen kann; Verhandlungen deshalb erst als Gespräche zur Durchführung der russischen Kapitulation angesagt. Momentan ist die Lage unklar, die einen sagen den Zusammenbruch der ukrainischen Armee voraus, mangels Soldatenmasse, die anderen schneiden gerade die Krim vom russischen Festland ab und wollen danach die Halbinsel erobern.

 

Der Krieg, jedenfalls die aktuelle Etappe des Kriegs, wurde von Russland mit seinen Angriffen am 24.02.2022 begonnen. Manche sagen deshalb, der Krieg ist zu Ende, wenn Russland die Kämpfe einstellt und aus der Ukraine abzieht. Aber der Anfang eines Kriegs muss nicht mit seiner Ursache zusammenfallen. Sollten Anlass und Ursache auseinander fallen, wären ein Ende der Kampfhandlungen und ein Rückzug von Truppen sicher ein gutes Zeichen, aber es wäre nicht schon der Beginn eines anhaltenden Friedens.

Welche Kriegspartei will momentan mit der anderen Seite reden? Aus der Ukraine hört man, dass erst dann Verhandlungen geführt werden können, wenn die russische Armee aus der Ukraine hinter die Grenzen von 2013 zurück getrieben worden ist, dann allerdings sind Verhandlungen kaum noch nötig. Und Russland will, wie man hört, nur dann sprechen, wenn seine Kriegsziele und seine bisherigen Erfolge östlich des Dnepr und der Anschluss dieses Gebiets an Russland von der ukrainischen Regierung anerkannt und zugestanden sind, aber auch dafür gilt, dass Friednesverhandlungen dann nicht mehr erforderlich sind, sondern nur noch Entzerrungs- und Abwicklungsgespräche.

1.2 Grundlagen von Frieden

Was sind grundlegende Bedingungen von Frieden? Für das Leben in Staaten wissen wir das im Grunde. Platon und die Bibel nennen es „Gerechtigkeit“, aber das klärt nicht viel, wenn man nicht sagen kann, wie diese „Gerechtigkeit“ funktionieren soll.

Vielleicht hilft ein provisorischer Versuch8:

  1. Wir Menschen sind verschieden, haben verschiedene Prägungen, Interessen, Ziele. – Diese Tatsache muss zunächst einmal anerkannt werden. Es gibt keine konfliktfreien sozialen Einheiten, weder kleine noch große.
  2. Also sind Verfahren nötig, mit denen diese Unterschiede, ja Gegensätze nicht konfliktfrei, aber doch gewaltfrei zum Ausgleich gebracht werden können.
  3. Die Menschen müssen also sowohl im Kleinen als auch im Großen an der Lösung der Konflikte beteiligt sein, vielleicht am Besten durch gemeinsame Ziele, die wiederum nur im Konflikt entstehen und bearbeitet werden.
  4. Die Menschheit hat verschiedene gesellschaftliche und politische Systeme / Institutionen entwickelt, um das friedliche Zusammenleben im Staat zu gestalten.
  5. Natürlich mit dem Notausgang: Wenn Beteiligte sich nicht an die Regeln des friedlichen Konfliktaustrags halten, wird auch mit Gewalt eingegriffen. Diese Gewalt muss allerdings in friedlich erzeugten Regeln eingehegt sein.

So weit die Regeln im Staat. Aber wie steht es mit Regeln für die Verhältnisse zwischen den Staaten? Da fehlt ja nicht nur die letztlich übergreifende Instanz, die im Zweifel mit Gewalt den Frieden durchsetzt. Da gibt es vor allem keine gegenseitige Anerkennung der verschiedenen Prägungen, Interessen und Ziele. Das ist ja auch zu verstehen, wenn man die Unterschiede weit auseinander liegender Kulturen betrachtet. Nur: Das ändert nichts an der Aufgabe, miteinander – also unterschiedliche Staaten, Kulturen etc. – in Frieden leben zu müssen. Dieses Ziel hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die UNO gestellt. Sie anerkannt die Gleichheit der Staaten und will, dass die Mitgliedsstaaten ihre Konflikte friedlich unter ihrem Dach lösen. Der Einsatz von Militär durch die Staaten ist nur zur Selbstverteidigung erlaubt.

Wir wissen alle, dass der bloße Wunsch allein diese Organisation noch nicht zu einem durchgreifenden Erfolg verholfen hat. Aber die Idee war in der Welt: Konflikte friedlich nach den Regeln eines Rechts zu lösen. Und diese Idee ist nicht nur nicht wieder aus der Welt zu kriegen, sie verlangt auch immer wieder nach Bestätigung, nach Durchsetzung.

1.3 Die Charta von Paris 1990

Wenn es um Frieden im Europa der Zeit nach dem Kalten Krieg geht, dann wird der Anfang von den beteiligten europäischen Staaten mit der Charta von Paris9 gesetzt. Dieses Dokument wurde am 21. November 1990 von den Mitgliedsstaaten der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, also allen damals existierenden Staaten in Europa, den USA und Kanada unterzeichnet10. Mit ihm sollten die Grundlagen für ein Europa der Gemeinsamen Sicherheit gelegt werden, für die Staaten des Westens, des Ostens und die neutralen Staaten. Später entstandene Staaten sind in den Text eingetreten. Aber in unserer Öffentlichkeit ist dieser Text damals erst übersehen, dann fast vergessen worden.

Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.

Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.

 

Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken. In diesem Bestreben werden wir an folgendem festhalten:

Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt an eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet. Sie zu schützen und zu fördern ist vornehmste Pflicht jeder Regierung. Ihre Achtung ist wesentlicher Schutz gegen staatliche Übermacht. Ihre Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.

Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen, der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet. Demokratie beruht auf Achtung vor der menschlichen Person und Rechtsstaatlichkeit. Demokratie ist der beste Schutz für freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit für alle.

 

Wir bekräftigen, daß die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß und daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, diese Identität ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz frei zum Ausdruck zu bringen, zu wahren und weiterzuentwickeln.

 

Freiheit und politischer Pluralismus sind notwendige Elemente unserer gemeinsamen Bemühungen um die Entwicklung von Marktwirtschaften hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum, Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit, wachsender Beschäftigung und rationeller Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen. Der Erfolg von Ländern, die den Übergang zur Marktwirtschaft anstreben, ist wichtig und liegt in unser aller Interesse. Er wird uns allen Teilhabe an erhöhtem Wohlstand ermöglichen. Zur Erreichung dieses uns gemeinsamen Ziels wollen wir zusammenarbeiten.

 

In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlußakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, daß die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.

Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.

Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.

 

Wir sind entschlossen, den wertvollen Beitrag nationaler Minderheiten zum Leben unserer Gesellschaften zu fördern, und verpflichten uns, deren Lage weiter zu verbessern. Wir bekräftigen unsere tiefe Überzeugung, daß freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren Völkern sowieFriede, Gerechtigkeit, Stabilität und Demokratie den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität nationaler Minderheiten und die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität erfordern. Wir erklären, daß Fragen in bezug auf nationale Minderheiten nur unter demokratischen Bedingungen befriedigend gelöst werden können. Ferner erkennen wir an, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein anerkannten Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden müssen. …

Wir sind entschlossen, alle Formen von Haß zwischen Rassen und Volksgruppen, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung irgendeines Menschen sowie von Verfolgung aus religiösen und ideologischen Gründen zu bekämpfen.

 

In dem Bewußtsein, daß die friedliche Beilegung von Streitfällen eine wesentliche Vervollständigung der Pflicht der Staaten ist, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten, und daß beide wesentliche Faktoren für die Aufrechterhaltung und Festigung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sind, werden wir nicht nur darum bemüht sein, nach wirksamen Verfahren zur Verhütung immer noch möglicher Konflikte durch politische Mittel zu suchen, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht auch geeignete Mechanismen zur friedlichen Beilegung eventueller Streitfälle festzulegen. Wir verpflichten uns daher, nach neuen Formen der Zusammenarbeit in diesem Bereich zu suchen, insbesondere nach einer Reihe von Methoden zur friedlichen Beilegung von Streitfällen, einschließlich der obligatorischen Hinzuziehung einer Drittpartei.

Dieses Dokument klärt die Grundlagen eines gemeinsamen Friedens auf der Grundlage von drei Axiomen:

  1. Die Staaten haben ein demokratisches politisches System, sie bauen auf Menschenrechten auf, sie sind als Rechtsstaaten organisiert, ihre Grundlage sind Marktwirtschaften. So sollten die politischen und wirtschaftlichen Systeme miteinander vereinbar/kompatibel gemacht werden.
  2. Es soll ein europäisches System der gemeinsamen Sicherheit aufgebaut werden.
  3. Die Bedeutung der nationalen Minderheiten wird hervor gehoben.

Dies alles mag manchem nicht „links“ genug sein, Marktwirtschaft ist doch Kapitalismus, Kapitalismus ist aber Ausbeutung, und Kapitalismus und Demokratie passen sowieso nicht zusammen, Kapitalismus führt immer zum Krieg. Mag alles richtig sein, aber die Demokratie, wie wir sie kennen, ist der beste bislang bekannte Schutz vor Gewalt und Krieg im Inneren eines Staates. Mehr haben wir nicht, damit müssen wir auch den Frieden zwischen den Staaten gestalten.

Unser westeuropäisches Konzept von Demokratie wird aber auf einen Nationalstaat bezogen: Die Angehörigen dieses Staates stammen voneinander ab, jedenfalls nach ihrer Selbsteinschätzung, benutzen dieselbe Hoch-Sprache, haben oft dieselbe Religion.

Deshalb ist bei uns der Minderheitenschutz, der in der Charta mehrmals erwähnt wird, von besonderer Bedeutung: Die Charta hat hier, wie es scheint, das Ende des Ersten Weltkriegs im Blick: Jede Nation, jedes Volk sollte damals (mit dem US-Präsidenten Wilson) ihren/seinen eigenen Staat haben. Jedoch: Weil (nicht nur) im Südosten und im Osten Mitteleuropas die Völker durcheinander wohnen, waren Mord und Totschlag die Folge, jedenfalls dann, wenn nationalistische Politik sich einmischte11. Nation, Volk und Staat können dort nicht identisch gemacht werden. Es gibt nur die Möglichkeit, die verschiedenen Ethnien, Minderheiten, kulturell, sprachlich, religiös gemeinsam unter einem staatlichen Dach leben zu lassen.

Vollständig hat die Charta das Problem jedoch nicht gelöst: Sie kennt immer noch die Unterscheidung zwischen der einen Nation, die Eigentümerin des Staates ist, und den Minderheiten; sie versucht die Schwäche dieser Ungleichgewichtigkeit(en) jedoch durch die Verankerung der Minderheitenrechte in den individuellen Grundrechten abzumildern12.

Die Staaten verpflichtet sich in der Charta, nach neuen Formen der Streitbeilegung zu suchen und sie zu instutionalisieren, neue Einrichtungen im KSZE-Prozess zu schaffen. Die Sicherheit jedes Staates wurde unteilbar mit der Sicherheit aller verbunden, die Sicherheit aller Staaten mit der Sicherheit jedes einzelnen Staates. Institutionelle Regeln sollten später geschaffen werden, der Phantasie waren keine keine Grenzen gesetzt.

Der Text der Charta enthält aber auch hier folgenschwere Unklarheiten: Jeder Staat sollte über seine Sicherheit selbst entscheiden können, gleichzeitig sollte jeder auf jeden Rücksicht nehmen. Was denn nun: Soll jeder tun und lassen dürfen, was er will? Oder muss es einen ständigen Prozess des Aushandelns geben, in dem jeder auf jeden anderen Rücksicht zu nehmen hat. Und was passiert, wenn die einen gar nicht Rücksicht nehmen wollen, haben dann die anderen ein Veto-Recht?

Dennoch: Die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden in Europa schienen gelegt.

2 Der verfehlte Friede

2.1 Die Nato-Osterweiterung

Allein, es kam anders13. Bei einer KSZE-Konferenz in Budapest 1994 wurde dem russischen Präsidenten Jelzin mitgeteilt, dass der Westen (USA+Nato), die Sicherheit Europas lieber auf der Ausdehnung der Nato basieren lassen wollen. Das ist ja auch nicht so ganz unverständlich: Was man (an Sicherheit) hat, das hat man. In den Ex-Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrags sah man Russland als den Nachfolgestaat einer Besatzungsmacht, die Jahrzehnte geherrscht hatte. So verständlich die Motive, so gefährlich die chaotischen Folgen. Feindschaft gegen Russland breitete sich aus, bevor man das im Westen bemerkte. So wurde die Charta von Paris mental zerstört, bevor sie überhaupt zur Kenntnis genommen worden war.

Der russische Präsident Jelzin war wütend, eine umstandslose Nato-Osterweiterung wäre ein wichtiges Argument der damals noch starken Kommunisten gegen ihn gewesen. Er setzte Verhandlungen zwischen den USA, der Nato und Russland über den Beitrittsprozess durch. Das Ergebnis war die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Sie bestimmte die Nato als eine Organisation, die gemeinsam mit Russland für die Sicherheit in Europa sorgt. Jeder Staat kann Mitglied der Nato werden, aber auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsstaaten sollten weder konventionelle noch nukleare Streitkräfte der Nato stationiert werden dürfen, allerdings sollte erlaubt sein, dass Nato-Truppen dort Manöver abhalten. Mehr als eine pro-forma-Mitgliedschaft, bei der die neuen Mitgliedsstaaten zwar an den großen Nato-Konferenzen teilnehmen können und ihre Rüstung an der der Nato orientieren können, aber ansonsten ein spannungsfreies Gebiet bilden, ist dem Text nicht zu entnehmen. Der Text scheint festzulegen, wie ein Bündnis, in dem es viele kleine Staaten gibt, und ein mächtiger Staat, der nicht dem Bündnis angehört, ein Europa der gemeinsamen Sicherheit gestalten.

Allerdings fielen damals schon Text und politische Absicht auseinander. Weil die osteuropäischen Staaten den Schutz der Nato vor Russland wollten, war also dennoch ein Stück Konfrontation gesetzt. Das ergibt sich schon daraus, dass Stationierungsvorbehalte ausgesprochen werden. Freunden wäre egal, wer was wo stationiert.

2.2 Die Ukraine – 2014

Ein Sprung:

2013/14 wurde international um die bündnispolitische Ausrichtung der Ukraine gekämpft, die Charta von Paris war in der Diplomatie und in der Öffentlichkeit schon längst vergessen. Der politische Teil des Textes der Nato-Russland-Grundakte auch.

Die Ukraine hatte in ihrer Verfassung die Aussage, sie sei bündnisfrei. Damit reflektierte sie u.a., dass sie einerseits auf den russischen Markt orientiert war, andererseits Anschluss an die wirtschaftlichen Entwicklungen des europäischen Westens suchte. Man nannte das eine „multivektoriale Außenpolitik“. Diese Außenpolitik passte zu einem Europa der gemeinsamen Sicherheit.

Mit der Nato-Osterweiterung und den Kriegen der USA im Nahen Osten nach dem September 2001 ging der positive Impuls der Charta von Paris allmählich verloren.

Für Russland war (und ist) vor allem der Flottenstützpunkt Sewastopol von entscheidender, nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ohne Sewastopol gibt es keine russische Mittelmeerflotte, ohne diese Flotte keinen russischen Einfluss im Nahen Osten, insbesondere in Syrien. Mag sein, dass diese Bedeutung des russischen Marinehafens für den Krieg in Syrien damals für die USA von besonderem Interesse war.

Russland hatte in Georgien schon deutlich gemacht, dass es bei Militärangelegenheiten, die seinen Einfluss betreffen, sehr schnell ein rote Linie überschritten sieht und hart zuschlägt. Dieser Kriegshafen gehört zu den elementaren Geltungsansprüchen Russlands. Unvorstellbar für Russland, dass es den Hafen verliert.

Der Machtkampf in der Ukraine hatte deshalb von vornherein eine gefährliche außenpolitische Dimension.

Aber dann wurde in Kiew eine neue Regierung der Ukraine, mit finanzieller, organisatorischer und propagandistischer Unterstützung des Westens – ein völkerrechtswidriger Eingriff in die inneren Angelegenheiten – installiert. Sie war zwar gegen die Regeln der Verfassung an die Macht gekommen, wurde aber dann von dem angeblich so regelfixierten Westen sofort anerkannt, um sie zu stützen – in Vollendung des Eingriffs in die inneren Angelegenheiten und der Sicherung seines Resultats – , während (und weil?) diese Regierung von der Kündigung des Sewastopol-Vertrags sprach.

Russland hatte den Vorteil, dass große Teile der Bevölkerung der Krim sich lieber an Russland orientierten als an der neuen, von antirussischen Nationalisten bestimmten Regierung in Kiew. Aber damit war die ethnische Balance in der ganzen Ukraine zerbrochen.

Der Übergang der Krim nach Russland war schnell organisiert, zumal die auf der Krim stationierte ukrainische Marine die Seiten wechselte.

Aber die Veränderung von Grenzen ist völkerrechtlich nur in Übereinstimmung aller beteiligten Staaten möglich.14 Dass die neue Regierung nicht regelkonform an die Macht gekommen ist, sie nach innerstaatlichem Recht als illegal angesehen werden konnte, ändert nichts an ihrer völkerrechtlichen Bedeutung: Ein Staat wird von jener Institution vertreten, die in ihm die Macht ausübt, wie immer sie zustande gekommen ist15.

Die westliche Politik des RegimeChanges war völkerrechtswidrig, ein fortgesetzter Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Der Anschluss der Krim an Russland verletzte das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten.

Böses erzeugte Böses, irgendwann ist es auch egal, wer angefangen hat.

 

Die neue Regierung beschloss am 14. April 2014, die aufstandsähnliche Situation im Osten mit dem Militär in den Griff zu kriegen, sie schickte Soldaten16. Die damalige ukrainische Armee war aber klein, schwach, desorientiert, durch Desertion bestimmt. Ich erinnere mich noch an Tagesschau-Bilder, auf denen alte Frauen junge Männer eigenhändig von gepanzerten Fahrzeugen holten und sie nach Hause schickten. Dennoch gelang es dieser Armee mit Unterstützung extremistischer Freiwlligen-Batallone, den größten Teil des Aufstandsgebietes wieder einzunehmen. Ganz im Osten gab es schwere militärische Gefechte, bei denen die Aufständischen stand hielten. Das wird auf eine russische Einmischung/Unterstützung zurück zu führen sein, was schon deshalb plausibel ist, weil Panzer nicht auf einmal einfach so da sind17. Völkerrechtlich war dieser Eingriff Russlands in den Aufstand illegal, allerdings mit dem Schutz von Minderheiten, wie die Charta von Paris sie vorsieht, politisch begründbar18.

Dieser Teil der damaligen Ukraine-Krise endete mit den Abkommen von MinskI und II19 (Ukrainische Regierung, „Volksrepubliken“, Russland unterzeichneten unter Beteiligung Deutschlands und Frankreichs), nach denen mittels einer Reform der ukrainischen Verfassung die aufständischen Gebiete eine besondere Autonomie innerhalb der Ukraine bekommen sollten20:

2014/15 wäre Gelegenheit gewesen, inne zu halten21: Was hat das alles noch mit der Charta von Paris zu tun, mit dem einst so beschworenen Ziel eines Europas der gemeinsamen Sicherheit? Wäre nicht der Zeitpunkt für eine hochrangige Europäische Sicherheitskonferenz gewesen?

2.3 Die Ukraine – nach 2014

Aber so mancher im Westen schien zu meinen, es gäbe nun genau mit dem weiter anhaltenden Krieg im Osten der Ukraine ein Druckmittel gegen Russland.

 

In der Ukraine schritt die „Ukrainisierung“ voran, also die Einschränkung von Minderheiten, vor allem zu erkennen an den öffentlichen Manifestationen einer alten/neuen Geschichtsdeutung, Bandera überall.

Besonders bekannt ist das Sprachengesetz der Ukraine22. Die russische Sprache wird nicht verboten, aber ihre Benutzung doch erschwert. Im öffentlichen Leben soll möglichst nur noch Ukrainisch gesprochen und geschrieben werden. Russisch-sprachige Zeitungen müssen gleichzeitig eine ukrainische Ausgabe herausbringen, was sie wirtschaftlich überforderte, überfordern sollte. Schon allein diese Bestimmung zeigt, dass dieses Gesetz weder mit den Grundrechtsbestimmungen23 noch mit dem Minderheitenschutz24 der Charta von Paris zu vereinen ist.

In Deutschland nahm man diese Entwicklung praktisch nicht zur Kenntnis. Sie sind bis heute an keiner Stelle Teil der politischen Diskussion.

Die Krim und die „Volksrepubliken“ dagegen wurden von Russland an sich selbst angepasst, passten sich selbst Russland an.

Man kann Putins Text „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“25 auch als Antwort auf diese Entwicklung lesen. Es ist schwer, diesen Text angemessen wieder zu geben. Er wird meist als Absage Putins an einen ukrainischen Staat und an eine von der russischen unterschiedene ukrainische Kultur verstanden. Es kommt darauf an, was man unter diesen Begriffen versteht. Wer die gegenwärtige „Ukraine“ als alternatives Projekt zum gegenwärtigen Russland versteht, hat mit solch einem Vorwurf recht. Man kann den Text aber auch als Mahnung und Warnung lesen: Russland und die Ukraine haben eine gemeinsame Geschichte, fast die gleiche Kultur, es wäre völlig normal, wenn sie sich miteinander verständigen und als gute Nachbarn, jeder für sich, nebeneinander leben. Putin nimmt das Verhältnis von Deutschland und Österreich als Vergleich, so soll das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine sein. Die Ukraine darf sich jedoch nicht vom Westen gegen Russland in Stellung bringen lassen. Das würde fürchterlich werden, sagt er.

Im Lauf des Jahres 2022 bereiteten sich die Ukraine26 und die USA27 gemeinsam auf einen Krieg vor.

Russland verschärfte den Ton. Es forderte ultimative Sicherheitsgarantien von den USA und von der Nato. Der Kern waren das Verhältnis der Ukrainer zur Nato. Es sollte zugesagt werden, dass die Ukraine weder rechtlich noch faktisch Teil der Nato wird. Russland berief sich dabei auf die Zusagen der 1990er Jahre: Die Nato solle nicht nach Osten ausgeweitet werden28 und auf die „Europäische Sicherheitscharta“ von 199929. Auch in diesem Papier stehen die Bestimmungen, nach denen zum einen jeder Staat seine Sicherheitspartnerschaften/-bündnisse frei bestimmen kann und zum anderen die Sicherheit eines jeden Staates mit der jedes anderen Staates untrennbar verbunden ist, nebeneinander, ohne dass ein Verfahren bei der Regelung von Konflikten vorgesehen wäre. Dass Russland ein Recht hatte, konsultiert zu werden, kann jedoch schwer bestritten werden.

Diese Forderung wurde von beiden Adressaten als unverhandelbar abgelehnt. Ansonsten könne man über alles reden, wurde gesagt.

Russland wird immer vorgeworfen, es hätte die „regelbasierte Ordnung“, wie sie sich nach dem Kalten Krieg herausgebildet hatte, nicht akzeptiert. Die „regelbasierte Ordnung“ hat es aber gar nicht gegeben. Sie hätte nur auf der Basis der Charta von Paris gestaltet werden können. Aber der Westen hat schon ganz wenige Jahre nach Paris Ausbau dieser Ordnung verweigert und durch eine andere ersetzen wollen, die durch die Ostausdehnung von Nato und EU bestimmt sein sollten, also Russland gerade nicht Teil der „regelbasierten Ordnung“ sein lassen wollten, sie vielmehr gegen Russland um- und ausbauen wollten.

 

Momentan ist nicht mit Gewissheit zu erkennen, wie dieser Krieg weiter verlaufen kann. Das soll in diesem Zusammenhang auch nicht erörtert werden. Denn egal, wie der Krieg ausgeht, die Anforderungen an einen dauerhaften Frieden sind dieseleben.

3 Zum Frieden in und mit der Ukraine

3.1 Moralische Zwischenbemerkung

Es gibt in der europäischen Überlieferung eine lange Tradition der Lehre vom „gerechten Krieg“30. Sie diente der Einhegung der Kriege, es sollte nicht mehr jeder Fürst oder Privatmann Krieg nach seinem eigenen Gutdünken führen können. Diese Lehre ist natürlich umstritten, aber das soll hier nicht diskutiert werden.

Ein Krieg, geführt von einer ordnungsgemäßen Staatsführung, braucht einen gerechten, verständlichen Grund und ein erreichbares Ziel. Und er darf nur geführt werden, wenn der von ihm hervorgerufene Schaden nicht größer ist als der, der von ihm verhindert werden soll. Das gilt auch für die Verteidigung.

Die Gründe für die Nato, die Ukraine zu unterstützen sind dann einfach nachzuvollziehen, wenn man die Vorgeschichte des Kriegs weg lässt und sich auf die Ausweitung / Eröffnung des Kriegs am 24.02.2022 beschränkt: Russland überfällt einen Nachbarstaat, um dort eine andere politische Herrschaft durchzusetzen, die eine russlandfreundliche Politik betreibt, zumindest außen- und militärpolitisch neutral ist und in seiner inneren Ordnung keine Regelungen mehr kennt, die die russische Sprache beschränkt. Die Ukraine sollte danach grundlegende politischen Fragen also nicht mehr durch die eigenen Instanzen entscheiden können. Gegen Russland muss daher mindestens Vorkriegszustand wieder hergestellt werden. – So weit verständlich.

Nimmt man die Vorgeschichte hinzu, sieht die Sache anders aus. Es ging darum, durch eine weitere Nato-Ausdehnung die militärische Position Russlands zu schwächen. , Der Westen hätte die Spannungen mit minimalsten Zugeständnissen – Verzicht auf Nato-Beitritt der Ukraine, Umsetzung von MinskII – verringern können. Es ging um Unterschriften unter zwei Texte: Der eine Text hätte gar keine praktischen Folgen/Auswirkungen/Änderungen für die Menschen dort gehabt, für nichts und niemanden, von Angehörigen politisch-militärischer Zusammenhänge mal abgesehen, der andere Text hätte die Wiedereinrichtung der alten Stabilitätsformel der Ukraine – keine der beiden politisch-kulturellen Seiten darf die andere dominieren – bedeutet. Die Ablehnung dieser Unterschriften bedeutet, dass die Nato bereit war / ist, für ein politisches Ziel, das nur Politik- und Militärstrategen als wichtig ansehen können, den Tod von zehntausenden / hunderttausenden Menschen und die Zerstörung ganzer Landstriche zu riskieren. Bezieht man diese Vorgeschichte mit ein, ändert sich die Bewertung des Verhaltens der Nato und ihrer Mitgliedsstaaten grundlegend.

Die Nato lässt auch keine Angaben zum Verhältnis von Ziel, Mittel und Opfer erkennen31. Der Tod von welcher Anzahl an Menschen ist hinnehmbar, um welches Ziel zu erreichen? Es ist, so wie er von der Seite der Nato gegenwärtig gehandhabt wird, ein Krieg ins Blaue. Man führt ihn halt, weil man sich dafür entschieden hat, Zahl und Leiden der Opfer egal wie auch das Ausmaß von Zerstörung. Irgendwas wird halt passieren, Hauptsache, Russland wird geschädigt.

Anders sieht es mit der Ukraine aus. Ein völkerrechtlich souveräner Staat ist angegriffen worden, er hat das Recht zur Verteidigung. Allerdings muss man auch hier fragen, inwieweit ihn selbst eine Verantwortung trifft. Das geforderte Zugeständnis war minimal, obendrein mit den längst gegebenen völkerrechtlichen Zusagen vereinbar. Aber die politische Führung wollte nicht. Darf sie unter diesen Umständen das Leben von zehntausenden / hunderttausenden Menschen verlangen? Ist die – faktisch eh fiktive – Souveränität dieses Staates bedeutender als das Leben von einigen zehntausend Menschen?

 

Russland hatte 2021 das Recht (Charta von Paris, Dokument von Istanbul), von den USA und von der Nato zu verlangen, dass mit ihm Gespräche über die weitere Nato-Osterweiterung geführt werden. Es hatte angesichts der Kooperation Ukraine / Nato-Staaten die Befürchtung, dass Raketen unmittelbar vor seiner Tür stationiert werden. Und es wollte den andauernden tödlichen kleinen Krieg im Donbass beenden. – Die Verhandlungen zeigten, dass es in den wesentlichen Fragen keine Zugeständnisse seitens des Westens und der Ukraine gab.

Im bisherigen Verlauf des Kriegs ist Russland seinen politischen Zielen letztlich kein Stück näher gekommen. Die Nato ist mit der Ukraine engagierter als je, die Sicherheit der ehemaligen „Volksrepubliken“, jetzt irgendwie Teil Russlands, ist weiterhin nicht gewährleistet. Vor allem zeigt ein Blick auf die Zahl der Toten – und da muss man alle nehmen, die Soldaten und Zivilisten beider Seiten – ist explosionsartig gestiegen. Wenn – wie wahrscheinlich – der Krieg irgendwo am Dnepr stehen bleiben wird, eine Teilung der Ukraine nach koreanischer Art, irgendwie abgeprochen, oder schlimmer noch ein Frieden nach Art Kaschmirs, ständig neu ausbrechend, dann wird die Nato faktisch-praktisch bis an den Dnepr vorrücken.

Es ist auch nicht zu erkennen, dass sich diese Lage für Russland verbessern wird. Russland kann, nachdem es nicht gelang, in Kiew eine neue Regierung zu installieren und damit die Herrschaft über die ganze Ukraine zu erlangen, nur noch versuchen, soviel Land wie möglich der Ukraine abzunehmen, um seine Grenzen zur faktischen Nato so weit wie möglich nach Westen zu schieben. Das kann ewig dauern.

Putins Rede vom 21.02.24 zeigt, wie unklar die Zielsetzung ist32.

Um die Menschen in unseren historischen Ländern zu schützen, die Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten und die Bedrohung durch das Neonazi-Regime zu beseitigen, das nach dem Putsch von 2014 in der Ukraine Einzug gehalten hatte, wurde vor einem Jahr beschlossen, das Sonderprogramm zu beginnen Militär Operation. Schritt für Schritt, behutsam und konsequent gehen wir die anstehenden Aufgaben an.

Zu den „historischen Ländern“ könnte auch Galizien mit Lemberg gehören, dass erst 1939 zur Sowjetunion, zur Sowjetunion gekommen ist, in den Jahrhunderten davor nichts mit Russland zu tun hatte. Es gibt aber keinen Angriff von niemandem aus dem Westen auf Galizien33.

Ein rationales politisches Ziel gibt es für Russland in diesem Krieg nicht, also kann er schon an diesem Punkt nicht moralisch gerechtfertigt werden34.

Wichtiger ist jedoch: Auf beiden Seiten gibt es zwar so etwas, das man strategische Überlegungen für diesen Krieg nennen könnte, so pfuschig sie auch sind, die Menschen kommen jedoch nicht in den Blick. Sie sind letztlich nur Verfügungsmasse. Man kann sie als Kämpfer mobilisieren, man kann sie als Opfer beklagen. Aber Rücksicht muss man nicht nehmen.

Aber genau an der Stelle muss friedensethisch nachgefragt werden, müssen friedensethische Alternativen entwickelt werden: Es geht um die vielen einzelnen Menschen.

3.2 Appelle

Über die vielen Appelle und Manifeste soll hier nur wenig gesagt werden.

All die Aufrufe fordern bestimmte Handlungen – erst Waffen liefern und dann bei Erfolg verhandeln, oder erst Waffenlieferungen einstellen und gleichzeitig oder danach verhandeln –, können aber nicht sagen, wie der weitere Verlauf danach aussehen soll. Die „Waffenlieranten“ können nicht zeigen, dass der Krieg damit auch nur einen Tag früher zu den Bedingungen des Westens aufhören könnte; im Gegenteil hat sich der Krieg intensiviert und Russland hat seine Kriegsziele hoch geschraubt, durchaus nicht ohne Chance, sie durchsetzen zu können. Die Gegner von Waffenlierungen können nicht sagen, was nach dem Tag der Einstellung der Lieferungen geschehen wird: Wird Russland dann seine Waffen schweigen lassen und Gesandte zu Friedensverhandlungen schicken? Oder wird es die mindestens zeitweilige Schwäche der Ukraine ausnutzen?

Es wird auch auf unterschiedlichen Ebenen argumentiert35, die einen orientieren sich an den Lebenden und an den Toten, die anderen machen große Strategie.

Die Zukunft hat nun mal den Nachteil, dass sie unbekannt ist. – Aber vielleicht müssen solche Texte auch anders gelesen werden. Sie sind Aufrufe, die eine bestimmten Stimmung anregen und verbreiten sollen, denen die Regierungen sich anpassen sollen. Wer die Einstellung von Waffenlierungen und den Beginn von Verhandlungen fordert, will vor allem eine Änderung der Richtung erreichen: „Fangt endlich an, darüber nachzudenken, wie Europa in Zukunft sicher für den Frieden gestaltet werden kann. Fangt an, kleine Schritte zu gehen, trefft Euch mit der anderen Seite, klärt Interessen, klärt Möglichkeiten für eigene Zugeständnisse und Zugestädnisse der anderen Seite.“

Wolfgang Merkel, einer der Autoren des Offenen Briefs vom 29.04.2022 an den Bundeskanzler, sieht ethische Probleme36:

Der ethische Konflikt im Ukraine-Krieg

Hier brechen die eigentlichen Fragen auf. Welche Lösungen wir auch immer denken, es werden Dilemmata sichtbar, nicht beabsichtigte Konsequenzen drohen, niemand bleibt ohne „schmutzige Hände“ (Sartre).

Worüber streiten wir so erbittert? Es sind, vereinfacht formuliert, zwei Alternativen. Die eine besagt, wir, der Westen, müssen der Ukraine Waffen liefern, sofort, massiv, bedingungslos. …

Die andere Alternative wird u. a. von den Unterzeichnerinnen des „offenen Briefes“ und des „Appells“ formuliert. Ihre Befürchtung ist folgende: Wie massiv die Waffenlieferungen auch sein mögen, sie brechen nicht die Eskalationsdominanz des politisch-militärischen Blocks des Putin-Regimes.

Sie verlängern den Krieg, sie verheeren auf unbefristete Zeit Städte, Landstriche, Infrastruktur und Seelen. Und vor allem: Sie kosten zusätzliche Menschenleben, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.

Wie viele Menschenopfer lassen sich ethisch verantworten, um die Krim zurückzuerobern? Wie viele die Vertreibung russischer Truppen aus Luhansk, Donezk und Mariupol? Zu argumentieren, dies habe allein die ukrainische Regierung zu entscheiden, überdehnt den auch ethisch gebundenen Repräsentationsgedanken und entbindet nicht diejenigen von eigenen ethischen Überlegungen, die massiv Waffen liefern.

Hier kommen Menschen in den Blick, „Menschenopfer“. Das ist eine Dimension, die von den Befürwortern des bisherigen „Lieferns-aber-Nichtverhandelns“ gar nicht in den Blick genommen werden. Die vielen Einzelnen lösen sich ihnen in eine strategisch handhabbare Masse auf, das ethische Problem wird „gelöst“, indem es ignoriert wird.

Diese zusätzliche Perspektive – es geht um die Menschen! – ermöglicht es, über einen Grundriss einer zukünftigen Friedensordnung nachzudenken. Merkel greift dazu auf Diskussionsergebnisse einer internationalen Arbeitgruppe zurück, die vom 06.-07.06.2022 im Vatikan getagt hat37.

Während wir uns auf die praktische Weisheit (Phronese) der gesegneten Friedensstifter stützen, basierend auf den feststellbaren Wurzeln des Konflikts, den Verhandlungen im März und den bisherigen Friedensinitiativen, schlagen wir die folgenden Richtgrößen für einen Waffenstillstand und ein positives Friedensabkommen vor:

(1) Neutralität der Ukraine, d. h. der Verzicht auf den staatlichen Ehrgeiz, der Nato beizutreten, bei gleichzeitiger Anerkennung der Freiheit der Ukraine, Abkommen mit der Europäischen Union und anderen abzuschließen;

(2) Sicherheitsgarantien für Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine durch die fünf ständigen Mitglieder der Vereinten Nationen (P-5: China, Frankreich, Russland, Großbritannien und Vereinigte Staaten) sowie der Europäischen Union
und der Türkei, was militärische Transparenz und Beschränkungen der Stationierung von Militär und groß angelegter Übungen in Grenzgebieten unter internationaler Beobachtung im Zusammenhang mit der Aufhebung von Wirtschaftssanktionen beinhalten könnte;

(3) Russische De-facto-Kontrolle der Krim für einen Zeitraum von Jahren, danach würden die Parteien auf diplomatischem Weg eine dauerhafte Dejure-Lösung anstreben, die den erleichterten Zugang für lokale Gemeinschaften sowohl zur Ukraine als auch zu Russland, eine liberale Grenzübergangspolitik für Personen und Handel, die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte und finanzielle Entschädigungen einschließen könnte;

(4) Autonomie der Regionen Lugansk und Donezk innerhalb der Ukraine, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Aspekte einschließen könnte, die kurzfristig genauer festgelegt werden;

(5) Garantierter wirtschaftlicher Zugang sowohl der Ukraine als auch Russlands zu den Schwarzmeerhäfen beider Länder;

(6) Die schrittweise Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland verknüpft mit dem Rückzug des russischen Militärs gemäß dem Abkommen;

(7) Einen multilateralen Fonds für Wiederaufbau und Entwicklung der vom Krieg gezeichneten Regionen der Ukraine – an dem auch Russland beteiligt ist – und sofortigen Zugang für humanitäre Hilfe;

(8) Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats zur Bereitstellung internationaler Überwachungsmechanismen zur Unterstützung des Friedensabkommens.

Der Text wird ausführlich zitiert, um deutlich zu machen, dass für einen zukünftigen Friedensprozess ein realistischer Weg und ein realistisches Ziel bestimmt werden kann. Er ist in Deutschland fast unbekannt, in den Massenmedien kommt er nicht vor, obwohl immerhin ein leibhaftiger ehemaliger italienischer Ministerpräsident ihn mit verfasst hat. – Es ist kein Text aus einer politisch und intellektuell belanglosen Querdenker-Ecke.

Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, was der Westen gegen Gespräche über eine Lösung auf dieser Grundlage haben könnte: Die Ukraine erhält fast ihr ganzes Territorium zurück, wenn auch in einigen Regionen besondere Regeln gelten. Die Ukraine bleibt politisch neutral, ihre Souveräntität wird international garantiert, sie kann Mitglied der EU werden. In den Einzelheiten sind natürlich viele weitere Schwierigkeiten verborgen, die bei ihrer Operationalisierung zu Tage treten würden.

Die Frage der ethnischen und sprachlichen Minderheiten fehlt allerdings völlig. Das ist ein erheblicher Mangel. Das wäre für Russland sicher ein Problem.

Man muss, sagt ein kritischer Text aus den USA 38

… begreifen, was die Biden-Administration nicht versteht: dass Putin nicht dem Drehbuch folgt, das wir für ihn in der Ukraine geschrieben haben. Dieses Drehbuch beinhaltet eine Berechnung von Kosten und Nutzen, die ihn dazu bringen wird, von einer Konfrontation mit den Vereinigten Staaten und der NATO Abstand zu nehmen, die er nicht gewinnen kann. Wenn wir diese Kosten deutlich machen, so argumentieren wir, wird er erkennen, dass sie alle potenziellen Vorteile einer Aggression für ihn und für Russland bei weitem überwiegen.

Aber immer wieder, als wir ihn gezwungen haben, mit diesen Kosten zu rechnen, hat er nicht so reagiert, wie wir es erwartet hatten. Als er Anfang dieses Jahres mit der ausdrücklichen Warnung vor drakonischen US-amerikanischen und europäischen Wirtschaftssanktionen und militärischen Gegenmaßnahmen konfrontiert wurde, wenn Russland in die Ukraine einmarschieren sollte, setzte er seine Drohungen um, anstatt sich zurückzuziehen. Dann, als die Kombination aus ukrainischem Mut und westlicher Militärtechnologie seinen Versuch, Kiew einzunehmen, blockierte, erhöhte er den Einsatz, indem er eine brutale Flut von Artillerie- und Raketenangriffen auf die ukrainische Verteidigung in der Donbas-Region entfesselte und darauf wettete, dass Russlands riesige Munitionsvorräte die der Ukraine und des Westens überdauern könnten.

Jetzt, als Reaktion auf die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Donbass, verdoppelt er erneut, anstatt sich zurückzuziehen. Indem er sich dafür entscheidet, Russlands Militärreservisten zu mobilisieren, Russlands Verteidigungsindustrie hochzufahren, mehr ukrainisches Territorium zu annektieren und mit einer nuklearen Reaktion zu drohen, wenn Russland angegriffen wird, intensiviert er den Krieg eher, als dass er ihn entschärft.

Jeder, der auch ein paar Stündchen über den Umgang mit anderen Menschen nachdenkt, weiß sofort, dass solche politisch-militärischen Konzeptionen bestenfalls in aller Abstraktheit am Kamin als regulative Ideen zu gebrauchen sind, aber niemand klug beraten ist, auf irgendeine Art von praktischer Umsetzung zu denken.

Allerdings, nicht nur deutsche Kaminzimmergeneräle und deren promovierte und habilitierte Alice-Schalek-Begleitungen bleiben in solchem Unfug stecken. Putin muss ein Wunder eingeplant haben, als er zum 24.02.2022 den Sieg von 180.000 gegen 500.000 befahl; der Plan schien voraus zu setzen, dass die ukrainische Armee sich genauso freiwillig der russischen anschließen würde, wie sich die ukrainische Marine der Krim der russischen von Sebastopol angeschlossen hatte, nämlich weitgehend.

Denkfehler scheinen zur DNA des Militärischen zu gehören. Militärs arbeiten mit hocheffizienten Geräten in Lagen, die sie nicht überblicken, oft nur auf Gut-Glück oder rein zufällig verstehen. Deshalb neigen sie zu komplexen Konstruktionen, die dem Laien als hochfachlich erscheinen, nur vom Experten verständlich, und oft doch nur Spökenkiekerei sind.

In Wirklichkeit ist solche Politik die tausendste Wiederholung des Chicken-Game: Jeder Akteur hofft, er käme in all seiner Unwissenheit mit seiner Dreistigkeit durch, während der andere zu blöd sei, seine Unwissenheit auch nur zu ahnen. Jeder Akteur kennt diese Situation aus seiner Pubertät: Der Junge, den kurzen Hosen gerade entwachsen, fühlt sich stark wie ein Bär, allerdings fehlen im die Gelegenheit, seine Kraft zu zeigen. Und weil er sein gewaltiges Können noch nie erproben konnte, macht er schnell einen lächerlichen Eindruck. Kompetenzinszenierung gehört deshalb zum militärischen Beruf: Die Parade auf dem Marktplatz, unter dem Arc de Triomphe oder an der Kreml-Mauer genauso wie die Inszenierung von Theoriekompetenz selbst dort, wo es nur um heiße Luft geht39.

Den Staatsmacht-Spielern der Großen Politik ist nicht nur nicht zu trauen; sie sind im höchsten Maße gemeingefährlich.

Die (mögliche) Popularität von Waffenstillstandsforderungen bringt auch Leute auf den Plan, die als richtige „Experten“ gelten40. Mehr inhaltliche Substanz findet sich da jedoch nicht.

Das ist keine Auffassung vom Rande der Politik mehr. Der in der US-Außenpolitik einflussreiche Politikwissenschaftler Michael McFaul41 hat Anfang 2021 in der Zeitschrift „Foreign Affaires“ einen programmatischen Aufsatz zur Russland-Politik der Biden-Regierung veröffentlicht42. Kurz zusammengefasst:

  1. Russlands Einfluss muss überall auf der Welt eingedämmt werden,
  2. die Nato muss erheblich aufrüsten,
  3. wirtschaftlichen Aktivitäten Russlands im Westen, die politische Auswirkungen haben könnten, müssen unterbunden werden, insbesondere die NordstreamII-Gasleitung,
  4. Die Ukraine muss politisch und militärisch gestärkt werden,
  5. die innere Opposition in Russland muss gestärk werden,
  6. aber man sollte schon so viel mit Russland reden, dass man nicht aus Versehen Krieg führt.

Alles, was nach einem „Gemeinsamen Haus Europa“ oder einem System gemeinsamer europäischer Sicherheit aussehen könnte, ist in diesen Überlegungen noch nicht mal mehr gestrichen worden. Es gibt sie einfach nicht. Die Charta von Paris ist dort noch nicht mal tot.

In Deutschland wurden solche Gedanken übernommen43. So schreibt der SPD-Außenpolitiker Michael Roth (MdB, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheit des Deutschen Bundestags) 44:

Mit Blick auf Russland brauchen wir mehr Realismus statt naives Wunschdenken. Russland ist eine imperialistische Macht, die unsere europäische Friedensordnung und regelbasierte Ordnung zerstören will. Putin will eine neue internationale Ordnung bauen, die ganz auf Zwang und Gewalt basiert, in der Großmächte über Einflusssphären verfügen, in denen sie schalten und walten können, wie sie wollen. Das widerspricht nicht nur unseren Ordnungsvorstellungen, sondern auch der UN-Charta, die Russland mit Füßen tritt. Deutschland hat jahrelang versucht, den Dialog mit Russland aufrechtzuerhalten, um Frieden und Sicherheit in Europa zu wahren. Diese Politik, die auf Verständigung und wirtschaftlichen Austausch setzte, hat Russland nicht von seinem aggressiven Kurs abbringen können. Fakt ist: Sicherheit kann es in Europa nur noch gegen, nicht mehr mit Russland geben. …

Wir müssen deshalb eine europäische Sicherheitsarchitektur gegen Russland errichten, die auf militärische Abschreckung sowie auf die politische und wirtschaftliche Isolation Russlands baut. …

Künftig kann es keinen deutschen Sonderweg mehr mit Russland geben, der zulasten unserer mittel- und osteuropäischen Partner geht. Eine gemeinsame europäische Ostpolitik muss die Sicherheitsinteressen von Polen und den baltischen Staaten, die sich ganz konkret von Russland bedroht fühlen, stets mitdenken.

3.3 Wie müsste ein dauerhafter Frieden aussehen? – Ein neuer politischer Rahmen

Zuerst einmal das unzureichende Herangehen an diese Frage durchaus guter, um den Frieden besorgter Leute: Wie kann ein Kompromiss zwischen den kriegführenden Staaten / Parteien aussehen? Welche territorialen Veränderungen sind zu wessen Gunsten und zu wessen Nachteil möglich oder gar erforderlich?45 – Auf diese Weise werden Zonen der Konflikte für den nächsten Krieg geschaffen.

Es muss um einen Frieden gehen, der dauerhaft sein kann, und zwar unabhängig vom militärischen Verlauf und Ausgang des Kriegs. Ein Frieden, der die Interessen der Staaten und der Menschen nicht in den Mittelpunkt stellt, wird scheitern. Für Großstrategen ist bei Friedensverhandlungen kein Platz. Deshalb ist auch schon jetzt für beide Seiten unsinnig, im Krieg um möglichst günstige Ausgangspositionen für Verhandlungen zu kämpfen. Soll der Frieden dauerhaft sein, werden militärische Erfolge im Krieg nur ein Faktor unter vielen sein und vermutlich noch nicht einmal die wichtigsten.

Es muss ein „demokratischer Frieden“ sein, mit dem die weit überwiegende Mehrheit der Menschen der verfeindeten Staaten und Bevölkerungsgruppen sich identifizieren kann46.

Die Prinzipien solch eines Friedens sind, wie schon gesagt, bekannt, die Charta von Paris enthält sie: Demokratie im Inneren, Sicherheitspartnerschaft nach außen47. Allerdings müssen die Mängel dieses Textes von 1990 in den Blick genommen werden: Nicht hinreichende Beachtung und Regelung der inneren Vielfalt der Staaten, fehlende Mechanismen bei der Konfliktregulierung.

Ihre Umsetzung verlangt eine Betrachtung der verschiedenen Dimensionen dieses Konflikts, der jetzt gewaltsam als Krieg ausgetragen wird. Jede dieser Dimensionen muss berücksichtigt werden. Dieser Krieg ist48:

  1. (auch wenn es immer wieder bestritten wird) ein ukrainischer Bürgerkrieg,
  2. ein Krieg zwischen zwei Nachbarstaaten um große Territorien des einen Staates,
  3. ein Krieg um die Sicherheit in Ganz-Europa,
  4. ein Krieg zwischen Russland und den USA49.

Eine Lösung muss auf diesen vier Ebenen zu befriedenden Lösungen führen. Lässt man eine der Ebenen weg, könnte ein Frieden nur eine Etappe auf dem Weg zum nächsten Krieg sein.

 

Als Frieden kann nur ein Zustand bezeichnet werden, der nicht den Keim zum nächsten Krieg wieder in sich trägt. Daraus ergeben sich in Anwendung der Charta von Paris Anforderungen für einen Frieden, der den Krieg beenden kann, ohne einen neuen vorzubereiten:

  1. Außenpolitisch:
    • die Ukraine wird in den Grenzen von 2013 wieder hergestellt,
    • sie ist ein bündnisfreier Staat, weil ihre Nato-Mitgliedschaft unter der Annahme einer mindestens unterschwelligen Feindschaft/Gegnerschaft einiger osteuropäischer Staaten die Kräfteverhältnisse in Europa ungünstig beeinflussen würde,
    • die Mitgliedschaft in der EU und anderen internationalen Vereinigungen steht ihr offen,
    • ein militärisches Vertrauensprogramm zwischen Russland und den anderen osteuropäischen Staaten wird entwickelt, zB gegenseitige Mitteilungen, gegenseitig Inspektionen.
  2. Innenpolitisch:
    • Die Ukraine entwickelt eine repräsentative, föderalistische und pluralistische Demokratie mit einem weit ausgestalteten vielfältigen Institutionenwesen,
    • sie orientiert sich sprach- und kulturpolitisch an der Schweiz, indem die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Sprachen im Staat und seinen Diensten, in der Öffentlichkeit, im Bildungswesen und im Kulturbereich festgeschrieben und aktive entwickelt wird50.
  3. Alle am Krieg beteiligten Staaten, insbesondere Russland, leisten einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes.

Es könnte sein, dass solch ein Zustand nur über viele Zwischenschritte zu erreichen ist, wie es das Papier der Arbeitgruppe aus dem Vatikan vorschlägt. Demokratische Politik kann sich vielleicht auch unter der Bedingung der Stationierung fremder, gar feindlicher Truppen entwickeln.

Natürlich reicht das noch nicht. Wenn dieses eine Land über einen Friedensvertrag demokratisiert und auf die genaue Beachtung der Beteiligung aller ethnischen etc. Gruppen verpflichtet wird, muss dasselbe auch in allen umliegenden Staaten geschehen. Das betrifft hinsichtlich der Demokratie natürlich Russland, aber auch Polen, hinsichtlich der Minderheitenrechte die baltischen Republiken und vermutlich auch Russland.

Ein dauerhaft gefestigter Friede setzt intensiven kulturellen und vor allem auch geschichtspolitischen Austausch voraus. Nichts wird schnell gehen.

 

Das bedeutet für die vier Ebenen des Konfliktes/Kriegs:

  1. Eine Gleichberechtigung der Sprachen, Religionen und kulturellen Besonderheiten der verschiedenen Gruppen in der Ukraine soll die inneren Auseinandersetzungen beenden,
  2. die territoriale Integrität der Ukraine (Stand 2013) wird wieder hergestellt; es sind jedoch genau auszuhandelnde Kooperations- und Übergangslösungen möglich,
  3. die Sicherheit der Ukraine wird in einem auf der Charta von Paris aufbauenden, völkerrechtlich gültigen Vertrag gewährleistet, sie kann Mitglied der EU, aber nicht der Nato werden,
  4. Die USA, Russland und die Ukraine schließen einen Vertrag über die immerwährende Neutraliät der Ukraine.

 

Das Procedere der Implementation eines solchen Friedens – Welche Macht steht wo mit ihrem Truppen? Gibt es längere Besatzungsverhältnisse und / oder Stationierungen? Sind internationale Hochkommissare nötig, die die örtlichen Selbstverwaltungen anleiten51? Müssen Bevölkerungsgruppen getrennt werden? Jetzt, für eine Übergangszeit, für immer? – kann gar nicht vorher gesagt werden, da wird man sehen müssen.

Europäische Politik, die solch eine Ziele verfolgen will, müsste allerdings ihr Verhältnis zu den USA überdenken, das wäre wohl der schwierigste Teil der Politik52.

 

Was muss sofort passieren? Meine – unmaßgebliche – Meinung:

  1. Sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen, durch beide Seiten, ohne alle ultimativen Vorbehalte, egal, ob die jeweiligen Kriegsziele schon erreicht sind oder nicht. Jeder Tag länger tötet mehr.
  2. Und danach Friedensverhandlungen auf der Basis der oben genannten Prinzipien.

Die wichtigste Frage der aktuellen Gegenwart ist damit aber immer noch nicht beantwortet: Wie kommt man denn zu solchen Verhandlungen, zuerst Waffenstillstand, dann Frieden? Schließlich will doch der Westen / will doch Russland keine Verhandlungen. Und dann kann man mit niemandem reden. – Dabei ist er Beginn ganz einfach: Biden ruft Putin – Putin ruft Biden an. Der Hörer wird schon abgenommen werden. Man einigt sich natürlich nicht sofort, denn die Gegensätze sind zu groß. – Aber die fehlende moralische Berechtigung bringt vorhersehbare politische Schwierigkeiten für beide Seiten. – Gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass weitere Gespräche vereinbart werden, zunächst auf niedriger Ebene, damit man überhaupt eine Vorstellung von den Motiven und Zielen der anderen Seite bekommt, an die die eigenen Vorschläge anschließen können.

Wichtig ist, dass die Völker Verhandlungen verlangen. Wir brauchen eine politische Bewegung, die solche Verhandlungen fordert. Sie allein wird es nicht schaffen, es werden politische Änderungen in den beteiligten Staaten und zwischen ihnen hinzukommen müssen. – Aber ohne solch eine Bewegung aus den Völkern der betreffenden Staaten wird es auch nicht gelingen.

 

Wie auch immer: Jenseits des Erbes der Charta von Paris gibt es keine stabile europäische Friedensordnung. Aber dieses Erbe muss kritisch geprüft und verbesseert werden.

Manche könnten sagen, dass der Fehler schon darin liegt, dass Kapitalismus und bürgerliche Demokratie zu den Grundlagen der Charta zählen.

Wie Jaurès es sagte, der Kapitalismus enthält den Krieg wie die Wolke den Regen. Mag sein, aber dieses Bild ist um die Möglichkeiten zu kurz, Politik zu gestalten. Es ist eben nicht egal, wer wie mit welchen Zielen in diesem Kapitalismus regiert. Das kann beeinflusst werden. Auch wenn es richtig sein dürfte, dass Kapitalismus mit Notwendigkeit Kriege hervorbringt, so können durch Politik Kriege und Kriegsgefahren minimiert werden. Wenn es auch in einem eher linken Kontext ungewöhnlich ist, dass zu sagen: Ohne Nato und EU hätten wir seit Jahrzehnten schon wieder ein Wettrüsten in Europa wie vor dem ersten Weltkrieg. – Frieden kann auch im Kapitalismus gestaltet werden.

Was muss an der Charta von Paris neu gedacht werden? Die Charta konzipiert den Frieden als kooperatives Verhältnis von Nationalstaaten mit nationalen Minderheiten. Sie zieht die Lehre aus dem Scheitern der Wilson-Doktrin53, aber nicht konsequent genug. Es käme vielmehr darauf an, Nation und Staat zu trennen. Wird der Staat als Rahmen und Instrument der Selbstbestimmung / Selbsverwirklichung einer Nation verstanden, ist der Konflikt mit den nationalen Minderheiten schon gesetzt. Kriege wie der jugoslawische Auflösungskrieg nach 1911 können dann die Folge sein. Es sind obendrein jede Menge innenpolitischer Spannungen möglich, die Auswirkungen auf die Außenpolitik haben. Entweder ist die Ukraine ein multinationaler Staat mit innerem Ausgleich, so schwierig er auch sein mag, oder sie ist ein Land des Kriegs; eine Ukraine in den Grenzen von 2013, in der nur das „Ukrainische“ in Sprache und Kultur gilt – dazu, wie vom Gesetz vorgesehen, ein paar Eingeborenen-Stämme –, wäre nur als Ergebnis eines mehr oder minder gewaltsamen Erziehungs- und kulturessen Umgestatltungsprozesses denkbar, und auch dann werden sich immer noch „katalanische“ Dissidenten melden. – Man könnte nun alle europäischen Länder durchgehen, man würde nicht nur in den ost- und südosteuropäischen Ländern ethnische Konflikte von unterschiedlich großem Ausmaß finden, sondern auch in Westeuropa. Großbritannien ist durdurchaus vom Zerfall bedroht.

Ein Staat kann in einem Europa des Friedens nur als gemeinsamer Rahmen der auf seinem Territorium lebenden Ethnien gestaltet werden, Vorbild Schweiz: Anerkennung der Sprachen, auch der kleinen ( = eigene Schulen und Medien), Anerkennung der Religionen, Anerkennung der unterschiedlichen Gebräuche des Alltgslebens, und was auch immer.

 

Man könnte es mit Guérot/Ritz so beschreiben54

#+begindquote

Aus diesen Wünschen ergibt sich die Frage, welche Form von europäischer Staatlichkeit diesen europäischen Wesenskern schützen kann. Gesucht wird eine Form von Staatlichkeit, die die europäischen Regionen in ihrer kulturellen Vielfalt belässt, sie vor neoliberaler Globalisierung und globalen Konzentrationsbewegungen schützt und die den Mittelstand und das europäische Sozialmodell, zwei Alleinstellungsmerkmale europäischer Wirtschaftskultur, bewahrt. Ein Leben in kleinen, autonomen, selbstverwalteten Regionen mit kultureller Eigenständigkeit und sozialem Ausgleich ist der Wunsch der meisten Europäer.28 Subsidiarität und Kohäsion sind die Stichworte dafür. …

Der europäische Moment im 21. Jahrhundert wäre dann genau das: der Friedensschluss der Ukraine wird gekoppelt an eine Europäische Staatsgründung und eine kooperative, föderale Friedensordnung mit Russland. Anstatt für eine national geeinte Ukraine zu kämpfen oder Waffen zu liefern überwindet Europa endlich den kulturell homogen gedachten Nationalstaat, denn dazu ist es seinem Wesen nach 1945 angetreten. Alle Nationen und Völker Europas könnten stattdessen in eine europäische Staatlichkeit eingebettet werden, wie es dem Kleid der Europa in der Buchmitte entspricht. Die Nation bleibt, die Staatlichkeit wird europäisch! Es geht nicht darum, europäisches Recht über nationales Recht zu stellen, sondern den politischen Raum und den rechtlichen Raum kongruent zu machen. Dazu könnten gedankliche Konzepte herangezogen werden, die die Nation nicht primär als identitären, sondern als einheitlichen sozialen Raum definieren.33 Europa könnte ein solcher Raum werden. Soziale und rechtliche Gleichheit für alle europäischen Bürger, aber unterschiedliche Herkünfte und Identitäten, beides garantiert durch eine föderale europäische Staatlichkeit, so könnte die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert aussehen!

#+endquote

Ein Friedesnvertrag für die Ukraine mussdaher mit einer neuen Charta von Paris einhergehen, einem gesamteuropäischer Friedens- und Kooperationsvertrag mit Russland, beide Verträge können nur gemeinsam funktionieren.

3.4 Neue Entwicklungen und Folgerungen

Stimmen denn die Voraussetzungen? Hat der Krieg diese Welt nicht verändert, geradezu zerstört?

Der Westen hat seine Position zur Charta nicht geändert, jedenfalls nicht offiziell, aber es herrscht weiterhin eine selektive Interpretation der Charta vor: Jeder könne, ohne Rücksicht auf alle anderen, Bündnispolitik machen, wie er will, Einwände seien unerlaubt.

Anders dagegen Russland. In den Begründungen seiner Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 bezog es sich auf die KSZE, auf die Charta von Paris55, das Istanbul Dokument56 und sogar auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Das alles findet man in aktuellen russischen Texten57 nicht mehr.

Da ist zunächst der Text von Sergei Karaganow: „Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin“58 vom 26.02.2022 (Man beachte das Datum, der Text ist wohl vor dem 24.02.2022, dem Kriegsbeginn, geschrieben). Seine These ist, dass Russland sich von allen nach 1991 eingegangenen Bindungen befreit, um eine neue selbständige Außenpolitik zu entwickeln, die auf ein nach Osten ausgerichtetes Bündnis zielt. Einige Auszüge:

Ein weiterer Trumpf ist die dominierende Rolle des Westens im bestehenden euro-atlantischen Sicherheitssystem, das zu einer Zeit geschaffen wurde, als Russland nach dem Kalten Krieg stark geschwächt war. Es ist sinnvoll, dieses System allmählich zu beseitigen, vor allem indem man sich weigert, an ihm teilzunehmen und nach seinen veralteten Regeln zu spielen, die für uns von Natur aus nachteilig sind. …

Die schön formulierte Charta von Paris für ein neues Europa, die 1990 unterzeichnet wurde, enthielt eine Erklärung über die Assoziationsfreiheit – die Länder konnten sich ihre Verbündeten aussuchen, … Damals, 1990, konnte die NATO jedoch zumindest als „Verteidigungs“-Organisation bezeichnet werden. Das Bündnis und die meisten seiner Mitglieder haben seitdem eine Reihe aggressiver Militäraktionen durchgeführt – gegen die Überreste Jugoslawiens, aber auch im Irak und in Libyen. …

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist überholt. Sie wird von der NATO und der EU dominiert, die die Organisation nutzen, um die Konfrontation in die Länge zu ziehen und die politischen Werte und Normen des Westens allen anderen aufzuzwingen. … In den 1990er-Jahren diente sie als Instrument, um jeden Versuch Russlands oder anderer, ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem zu schaffen, zu begraben; …

Der vielversprechendste Weg für Russland liegt in der Entwicklung und Stärkung der Beziehungen zu China. Eine Partnerschaft mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches steigern. Wenn der Westen seine erbittert feindselige Politik fortsetzt, wäre es nicht unvernünftig, ein zeitlich begrenztes fünfjähriges Verteidigungsbündnis mit China in Betracht zu ziehen.

Mag sein, dass die russische Führung darauf hoffte, nach einem schnellen Sieg über die Ukraine an einen Neuaufbau der internationalen Beziehungen zu gehen, dem der Westen sich letztlich anschließen müsse. Russland hat zwar große Landgewinne gemacht, aber keinen Sieg über die ukrainische Regierung erzielt. Und ob diese territorialen Erfolge dauerhaft bleiben werden, ist noch nicht ausgemacht. Ohne Sieg in Kiew ist aber eine politische Lösung, die die ganze Ukraine umfasst, für Russland nicht möglich.

Der Anschluss der vier Oblaste Donezk und Lugansk, Cherson und Saporoschje ist Folge einer notwendigen Umorientierung: Behalten wollen, was man hat; eine Maßnahme der Frontbefestigung auf dem Rückzug. Denn anderes bedeutet, dass Russland die Gebiete westlich dieser Bezirke der ukrainischen Regierung, damit letztlich dem Zugriff der Nato überlässt.

 

Vom Europa der Charta von Paris ist momentan in den Texten der russischen Politik nichts zu lesen, eine Wiederherstellung der Charta, gar ihre endgültige Realisierung findet sich nicht in diesen Texten.

Stattdessen lässt sich diese Politik so umreißen: Ziel ist, angesichts westlicher Herausforderungen so stark zu werden wie irgend möglich. Dazu gehört eine Politik der „Sammlung der russischen Erde“59. 2014 ging es um die Krim und den Donbass, jetzt wieder um den Donbass und weitere Teile der Ukraine. Es kann sein, dass diese Politik in / auf weiter Staaten der ehemaligen Sowjetunion ausggreifen wird, wobei nicht klar ist, zu welche staatsrechtlichen Formen sie führen soll. (Man kann diese Politik als späte konzeptionelle Antwort auf die Nato-Ost-Erweiterung lesen.)

Aber das hilft dem Frieden in Europa nicht. Russland hat gegenwärtig kein Konzept für den Frieden, über das man sagen könnte, der Westen möge es in Verhandlungen austesten. Die europäische Friedensbewegung ist ihm egal, denn sie ist ohne wirkliche politische Bedeutung. Das alles unterscheidet Putins (jetzige) Außenpolitik grundlegend von der der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder60.

Mit dem gegenwärtigen Russland ist momentan, ausgehend vom „Einfrieren“ des Konfliktes / Kriegs über einen vereinbarten Waffenstillstand, ein völkerrechtlich klarer dauerhafter Friede nur um den Preis einer beschädigten Ukraine zu haben: Die Ukraine gibt und Russland nimmt.

Man wird, wenn man die Fortsetzung des Kriegs bis zu einem (natürlich vom Westen) erzwungenen Waffenstillstand / Frieden nicht als Weg und Ziel sieht61, eine Lösung unterhalb des Völkerrechts suchen müssen. Die Ukraine erkennt die Anschlüsse an Russland (2014 und 2022) nicht an, aber es wird ein praktischer Umgang gesucht. Die Grenze wird teils wieder geöffnet, Handel und Wandel wird teilweise wieder möglich. Vorbild könnte der „Grundlagenvertrag“ BRD – DDR von 197262 sein. Von dort her könnte vielleicht auch ein KSZE-Nachfolge-Prozess entwickelt werden, der die gescheiterte „Charta von Paris“ erneuert.

Es ist schwierig, am Schreibtisch Procedere und Inhalt solch eines Vertrags zu entwerfen, das Leben entwickelt sich dann doch anders. Aber die Richtung kann angegeben werden.

Von Seiten der USA und der Nato gibt es auch keine Vorschläge, wie der Krieg beendet werden kann. Kritik an der russischen Politik kann also nicht zum Wechsel ins Nato-Lager führen.

Die Erklärung einer Arbeitsgruppe mit Jeffrey Sachs und Romano Prodi, die im Vatikan getagt hat, ist immer noch der beste Text63.

Fußnoten:

2

Bismarck, so sagt man, wollte 1871 Elsaß-Lothringen nicht für das Deutsche Reich annektieren. Die Franzosen würden sich damit nicht abfinden, sondern bei nächster Gelegenheit versuchen, es zurück zu gewinnen. Damit war politische Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich gesetzt, sie bestimmt die folgenden Jahrzehnt der Außenpolitik in Europa. Diese Eroberung mag die militärische Sicherheit erhöht haben, wie die Militärs argumentierten. Aber sie klemmte die deutsche und die französische Außenpolitik in Imperative ein, die die außenpolitische und damit letztlich auch die militärische Sicherheit grundlegend beeinträchtigten.

Ein Beispiel für politische Forderungen, die gegen Russland ein Versailles und Reims/Karlshorst gleichzeitig durchsetzen wollen und deshalb den Krieg bis ins Unendliche verlängern können: https://twitter.com/GLandsbergis/status/1568932265031520257

3

Dabei gäbe es viel zu erklären. „Vielen ist derzeit gar nicht klar, dass der Ausgang des Krieges unmittelbar darüber entscheidet, welche Sicherheitsordnung wir in Europa haben werden“, sagt Puglierin. Sie unterschätzten, dass in der Ukraine dafür gerade die Weichen gestellt würden. „Wenn sich Putin mit seinem Krieg in der Ukraine durchsetzen sollte, wäre das ein Präzedenzfall“, so die Politologin. Die Folgen in Europa – vereinfacht ausgedrückt: mehr Recht des Stärkeren, weniger Stärke des Rechts. – https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/ukraine-krieg-195.html

7

Die verstorbene ehemalige US-Außenministerin Albright soll einmal gesagt haben, in Osteuropa sei es deshalb oft so schwierig, zu politischen Vereinbarungen zu kommen, weil die Kriege und Feindschaften der Vergangenheit in jeder Verhandlung gegenwärtig seien, sind sie auch noch so lange her. Jede Vergangenheit ist auch Gegenwart. – Ich lese ab und zu Tweets polnischer Accounts. Dort wird aoft auf längere Texte polnischer Autoren verwiesen. MS Edge macht sie auf Deutsch lesbar. Der Eindruck ist: Polen, jedenfalls seine außenpolitischen Schreiber und auch Angehörige der Regierung, wollen die polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts rückgängig machen, um (zusammen mit Litauen) die damals gegen Russland verlorene Vorherrschaft in Osteuropa wieder zu gewinnen. Das geht bis zu Vorschlägen, Russland zu verkleinern und auf seinem Gebiet neue Staaten entstehen zu lassen. – Von solchen Überlegungen (oder soll man sagen: nationalistischne Phantasien?) erfährt man in Deutschland nichts. Da geht es vielmehr immer um das von Deutschland vernachlässigte Polen, das Deutschland gefälligst gegen russische Aggressionen zu schützen ist. –

8

In Anlehnung an Überlegungen von Hannah Arendt zum Wesen von Politik. – Man kann diese Übrerlegungen aber auch von der Denkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ S. 52ff her lesen, die Abschnitte 77, 81, 84, 88 und 96. https://www.ekd.de/friedensdenkschrift.htm, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_friedensdenkschrift.pdf

Allerdings: Diese Denkschrift legt zwar sehr nachvollziehbar die grundlegenden Prinzipien eines „gerechten Friedens“ dar, vermag es jedoch nicht, sie auf Europa zu beziehen. Es gibt nur eine kurze Erwähnung der OSZE, die „Charta von Paris“ und die Nato-Osterweiterung bleiben unerwähnt. Europäische Sicherheitsprobleme scheint es für die Denkschrift nicht zu geben. – So wundern die Stellungnahmen aus der EKD zum Ukraine-Krieg nicht. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die sicherheitspolitisch umkämpfte Vorgeschichte des Konfliktes / Kriegs nicht zur Kenntnis nehmen. Sie scheint sich vor den 24.2.2022 mit den Problemen der europäischen Sicherheit gar nicht beschäftigt zu haben. – In den gegenwärtigen Diskussionen / Debatten um eine Beendigung dieses Kriegs spielt sie keine Rolle.

10

Die danach aus Jugoslawien und der Sowjetunion entstandenen Staaten haben sich später angeschlossen.

11

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Goralen, ein Völkchen in den polnischen und tschechischen Bergen, während der deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe gefragt wurden, so sie sich für Deutsche oder für Polen halten: Ihre Antwort soll verblüffte Staunen gewesen sein: „Wir sind die von hier … “ – Stattdessen: „Polen kämpfte gegen die Tschechoslowakei um Teschen, gegen Deutschland um Posen (→ Großpolnischer Aufstand) und gegen die Ukraine um Galizien (→ Polnisch-Ukrainischer Krieg). Seit Ende der Besetzung mit Kriegsende 1918 entwickelten sich Grenzkonflikte zwischen vielen unabhängig gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas: Rumänien kämpfte gegen Ungarn um Siebenbürgen, Jugoslawien gegen Italien um Rijeka; Ukrainer, Belarussen, Litauer, Esten und Letten bekämpften sich gegenseitig und/oder die Russen. Winston Churchill kommentierte bissig: ‚Der Krieg der Giganten ist zu Ende, der Hader der Pygmäen hat begonnen.’“ https://de.wikipedia.org/wiki/Polnisch-Sowjetischer_Krieg

12

Die drei baltischen Staaten etwa gehen sehr eigene Wege, die von der Charta von Paris nicht gedeckt sind. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/242513/minderheitenintegration-in-den-baltischen-staaten/

13

Es war von Seiten der USA auch nie anders gewollt. „Die Rolle der Bush-Regierung lässt sich aufgrund neu zugänglicher Quellen inzwischen differenzierter rekonstruieren. Mary Elise Sarotte hat diesbezüglich bereits 2009 Pionierarbeit geleistet und mit ihrer „Prefab“-These die Basis für spätere Studien gelegt, in denen die Politik der US-Regierung neu interpretiert wird. Sie widersprach der bis dahin aufgrund der Memoirenliteratur vorherrschenden Sicht, wonach die Bush-Regierung mit ihrer Zurückhaltung und Passivität ein friedliches Ende des Kalten Krieges gefördert habe. Interne Akten zeigten ihr vielmehr, dass diese 1990 anstelle einer neuen kooperativen Sicherheitsstruktur inklusive der Sowjetunion bewusst eine NATO-Lösung und damit eine exklusive Sicherheitsordnung (ohne Moskau) förderte, die auf der fortwährenden US-Militärpräsenz in Europa beruhte und damit auch über den Kalten Krieg hinaus die US-Dominanz in Europa bestätigen würde.

Der Essay enthält vielmehr eine Reihe von Zitaten, die bestätigen, was Zeithistoriker in den vergangenen knapp zehn Jahren zu den Versprechen westlicher Staatsmänner von kooperativen Beziehungen und einer Stärkung einer inklusiven paneuropäischen Sicherheitsarchitektur geschrieben haben – Versprechen, die in internen Akten der Bush-Regierung als irreführende Rhetorik enttarnt worden sind. Die wahren Ziele der amerikanischen Europapolitik bestanden demnach 1989/90 in der Perpetuierung der NATO und weitergehenden US-Dominanz in Europa, die Sowjetunion sollte möglichst geschwächt und unten gehalten werden.“

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2018-4007/html

17

Eine Seltsamkeit dieser Ereignisse: Obwohl die Truppen der Aufständischen überlegen waren, stießen sie nicht weiter nach Westen vor, sondern machten am Stadtrand von Donezk halt. Vermutung: RU/Putin hat für diesen Stopp gesorgt, um die westlichen Staaten – Deutschland und Frankreich – für ein Abkommen zu gewinnen.

18

Russland begründete sein Verhalten jedenfalls nicht mit der „responsibility to protect“, einer völkerrechtlich zweifelhaften Argumentationsfigur, die der Westen mit seinem Eingriff in den libyschen Bürgerkrieg faktisch zerstört hat. R2P steht unter dem Verdacht, nur eine Scheinlegitimation für Eingriffe in andere Staaten zu sein, deren Regime dem Westen aus irgendeinem Grund nicht passt.

19

„Für den 11. Februar war im Unabhängigkeitspalast in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, ein Gipfeltreffen zur Umsetzung des deutsch-französischen diplomatischen Plans geplant. An ihr nahmen der russische Präsident Wladimir Putin, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande, der DVR-Führer Alexander Sachartschenko und der LPR-Führer Igor Plotnitsky teil. Die Verhandlungen dauerten über Nacht sechzehn Stunden und wurden vom deutschen Außenminister als „sehr schwierig“ bezeichnet.“

Das Dokument wurde unterzeichnet von den Separatistenführern Alexander Sachartschenko und Igor Plotnitsky, der Schweizer Diplomatin und OSZE-Vertreterin Heidi Tagliavini, dem ehemaligen Präsidenten der Ukraine und ukrainischen Vertreter Leonid Kutschma, dem russischen Botschafter in der Ukraine und russischen Vertreter Michail Surabow“

https://en.wikipedia.org/wiki/Minsk_agreements#Minsk_II,_February_2015

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„Das Russische abwürgen … In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind nicht verboten, doch parallel dazu muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage ge­druckt werden. Für die Verlage ist das freilich unrentabel. Die letzte landesweite russische Tageszeitung „Westi“ wurde kürzlich auf Ukrainisch umgestellt, viele Blätter erscheinen nur noch im Netz.“

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ukraine-neues-sprachgesetz-soll-das-russische-zurueckdraengen-17736397.html

„Zum Beispiel sollten die ersten Worte eines Kellners, die er von sich aus an einen Gast richtet, auf Ukrainisch sein. Der Gast kann die Sprache verwenden, die er möchte. ‚Das Gesetz besagt: Der Dienstleister, sein erster Satz, zu der Person, die seine Dienste in Anspruch nimmt, sollte auf Ukrainisch sein‘, sagte dem ukrainischen Sender ‚Hromadske‘ Iryna Podoljak von der Partei ‚Selbsthilfe‘, die das Gesetz mit initiiert hat. Podoljak wies darauf hin, sollten sowohl der Gast als auch der Kellner miteinander Russisch sprechen wollen, so sei dies natürlich erlaubt.

Welche Strafen sind vorgesehen? Bürger der Ukraine sind verpflichtet, über Grundkenntnisse der ukrainischen Sprache zu verfügen. Falls sie kein Ukrainisch beherrschen, drohen ihnen dafür aber keine Strafen. Eine andere Sache ist, dass ohne eine Ukrainisch-Prüfung und ohne Grundkenntnisse der ukrainischen Sprache kein Ausländer oder Staatenloser Bürger der Ukraine werden kann. Künftige Geldbußen.Für Verstöße in den Bereichen Bildung, Kultur, elektronische Informationssysteme und Postdienste wird eine Geldstrafe von 3400 bis 5100 Hrywnja erhoben. Für das Fehlen ukrainischer Inhalte im Rundfunk gibt es eine Geldstrafe von 8500 bis 10200 Hrywnja und in Printmedien von 6800 bis 8500 Hrywnja. Bei Verstößen gegen die Regeln zur Platzierung der ukrainischen Sprache in der Werbung wird eine Geldstrafe von 5100 bis 6800 Hrywnja erhoben. Wenn ein Beamter mit einem Bürger nicht Ukrainisch spricht, muss er eine Geldstrafe von bis zu 6800 Hrywnja entrichten.“

Оригінал статті – на сайті Українського кризового медіа-центру: https://uacrisis.org/de/71737-will-new-language-law-change

https://newsinfo.inquirer.net/1413849/new-law-stokes-ukraine-language-tensions

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„Wir bekräftigen, jeder einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf: Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigung und friedliche Versammlung, Freizügigkeit; …“

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Da sagt man, dass es die russische Sprache bei den Russischsprachigen in den Ukraine kein Moment von Identität sei, sondern ein letztlich auswechselbares Verständigungsmittel. Eine russische Identität einer Minderheit gibt es schon gar nicht. – Nur: Mit Rabulistik löst man keine politischen Probleme.

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„Die Ukraine behält sich gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der Gesetzgebung der Ukraine vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger, die Unabhängigkeit, die staatliche Souveränität und die territoriale Unversehrtheit zu schützen. – Das Ministerkabinett der Ukraine entwickelt und genehmigt einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der Strategie für die Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, auf dessen Grundlage die zuständigen staatlichen Stellen Aktionspläne ausarbeiten und umsetzen, um die Entbesetzung des vorübergehend besetzten Gebiets sicherzustellen.“

https://www.president.gov.ua/ru/news/prezident-zatverdiv-strategiyu-deokupaciyi-ta-reintegraciyi-67321

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„Die Vereinigten Staaten und die Ukraine: Bekräftigen die Bedeutung unserer Beziehungen als Freunde und strategische Partner, die sowohl auf unseren gemeinsamen Werten als auch auf gemeinsamen Interessen beruhen, einschließlich des Engagements für ein geeintes, freies, demokratisches und friedliches Europa.Sie bekräftigen, dass die zwischen unseren beiden Nationen bestehende strategische Partnerschaft 10 für die Sicherheit der Ukraine und Europas insgesamt von entscheidender Bedeutung ist. … Sie betonen Sie das unerschütterliche Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich der Krim und der Ausdehnung auf ihre Hoheitsgewässer angesichts der anhaltenden russischen Aggression, die den Frieden und die Stabilität in der Region bedroht und die globale regelbasierte Ordnung untergräbt.“

https://www.state.gov/u-s-ukraine-charter-on-strategic-partnership/

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Diese Zusagen hat es gegeben, allerdings nicht in schriftlicher Form. Im Westen schließt man daraus auf ihre Belanglosigkeit und Ungültigkeit, für Russland ist dagegen genau diese Haltung ein Beleg der Unzuverlässigkeit des Westens.

29

„8. Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil des OSZE-Gebiets als seinen/ihren Einflussbereich betrachten.

9 Wir werden unsere Beziehungen im Einklang mit dem Konzept der gemeinsamen und umfassenden Sicherheit gestalten, im Sinne von gleichberechtigter Partnerschaft, Solidarität und Transparenz. Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden. Wir werden uns mit der menschlichen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Dimension der Sicherheit als einem unteilbaren Ganzen befassen.“

https://www.osce.org/files/f/documents/b/f/125809.pdf, https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Sicherheitscharta

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„Moral kann keine Kompromisse machen, ohne sich aufzugeben. Das reale Leben verlangt aber auf Schritt und Tritt Kompromisse von uns, und in unserem Konzept von Demokratie ist der Kompromiss sogar essentiell.

Max Weber hat versucht das Dilemma so aufzulösen, dass er zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterschied. Wie sinnvoll das ist, sei dahingestellt. Aber für den Krieg in der Ukraine ist den Anhängern militärischer Lösungen weder das eine noch das andere zuzubilligen. Denn ihr Kriegsziel – sei es ein militärischer Sieg der Ukraine, oder auch nur die militärische Durchsetzung einer starken Verhandlungsposition – ist weder moralisch noch verantwortungsvoll.

Der Tod der anderen

Denn moralisch völlig inakzeptabel ist es, auf unkalkulierbare Zeit eine unkalkulierbare Zahl von Menschen in den Tod zu schicken. Baerbock & Co. können sich nicht kaltschnäuzig um die Frage drücken, ob sie zehntausend, fünfzigtausend, hunderttausend oder mehr tote Soldaten und Zivilisten akzeptieren, um ihr Kriegsziel zu erreichen.“

Peter Wahl: ZWISCHEN MORAL UND REALISMUS – Ukraine: Schießen oder verhandeln? – https://makroskop.eu/31-2022/ukraine-schiessen-oder-verhandeln/

33

Es könnte sein, dass Polen wieder nach Galizien will, wenn die Ukraine durch den Krieg so geschwächt wird, dass sie ihre Staatlichkeit nicht aufrecht erhalten kann. Es gibt ja Teilungsgerüchte. Aber gerade dann würde der Krieg die Westukraine nicht verteidigen.

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„(115) Die Absicht einer bewaffneten Intervention muss eindeutig auf das Ziel bezogen sein, die Opfer vor lebensbedrohlichem schwerem Unrecht zu schützen, die Grundlagen staatlicher Existenz zu sichern und die Bedingungen politischer Selbstbestimmung der einheimischen Bevölkerung wiederherzustellen. Hinsichtlich der Frage, wie diese politische Selbstbestimmung wahrgenommen und ausgestaltet wird, muss die Intervention unparteilich bleiben.“ Friedensdenkschrift des Rates der EKD 2007, https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_friedensdenkschrift.pdf S. 77, der russische Angriff vom 24.02.2022 hält diesen Kriterien nicht stand.

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Die „Offenen Briefe“ an den Bundeskanzler https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463 und die Antwort https://www.zeit.de/2022/19/waffenlieferung-ukraine-offener-brief-olaf-scholz zeigen schon dieselben Strukturen wie die folgenden Auseinandersetzungen: Die einen argumentieren politisch-ethisch, die anderen politisch-strategisch. So redet man entschieden aneinander vorbei. Aber manche ahnen das Problem schon mal https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/rhetorik-des-offenen-briefes-verhandlungen-statt-waffenlieferungen-18036217.html.

36

Wolfgang Merkel: Suche nach Lösungen im Ukraine-Krieg – Je früher Verhandlungen beginnen, desto mehr Leben werden gerettet, Tagesspiegel 04.07.2022, https://plus.tagesspiegel.de/politik/suche-nach-losungen-im-ukraine-krieg-je-fruher-verhandlungen-beginnen-umso-mehr-leben-werden-gerettet-527265.html

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Eine militärferne, militärkritische Militärwissenschaft ist dringend erforderlich.

41

„Michael Anthony McFaul (* 1. Oktober 1963 in Glasgow, Montana) ist ein US-amerikanischer Professor für Politikwissenschaften und Diplomat. Er war vom 10. Januar 2012 bis zum Februar 2014 US-Botschafter der Vereinigten Staaten in Russland. McFaul ist Absolvent der Stanford University. … Für Präsident Obama war McFaul, der ebenfalls Mitglied der Demokratischen Partei ist, gleichsam der Architekt seiner Russland-Politik und der Präsident beschloss deshalb im September 2011 ihn … zum amerikanischen Botschafter in Russland zu ernennen.[2] Am 10. Januar 2012 trat McFaul den Posten als Botschafter in Moskau an, kehrte je- doch schon zwei Jahre später, im Februar 2014, aus familiären Gründen nach Kalifornien in die USA zurück, wo er seitdem wieder als Professor für Politikwissenschaften an die Universität Stanford arbeitet. … Michael McFaul gilt als einer der führenden Experten auf dem Gebiet des postkommunistischen Russlands, weshalb auch schon der vorhergehende Präsident George W. Bush dessen Beratung hinsichtlich Russland und Wladimir Putin in Anspruch genommen hatte. Ebenfalls hatte schon Mitte der 1990er Jahre der damalige russische Präsident Boris Jelzin McFauls Rat gesucht.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_McFaul

45

Die Aufforderung zu solchen Überlegungen findet sich immer wieder bei Johannes Varwick, zb https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/krieg-gegen-die-ukraine-politikwissenschaftler-waffenlieferungen-loesen-diesen-konflikt-nicht. Das kann jedoch weder Ausgangspunkt noch Ziel sein. Denn dann wird es nicht zu einem dauerhaften, weil von den Staaten und den Menschen akzeptierten Frieden kommen. – Obendrein ist diese Position angreifbar: Verrat an der Ukraine.

46

S. dazu auch die Forderungen der UNO-Generalversammlung vom 02.03.2022, https://www.un.org/depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf

47

Zum miserablen Zustand der Charta von Paris gehört der Niedergang der OSZE, https://www.nachdenkseiten.de/?p=88064.

48

So ähnlich der Bw-General aD Schwab: „Wie soll der Zustand nach einem Krieg aussehen? Dies gilt sowohl für einen Aggressor als auch für denjenigen, der sein Land legitim verteidigt. Einen stabileren und besseren Frieden kann es meiner Meinung nach nur im Kontext der den Krieg überwölbenden Fragen geben.

Wir haben hier ja drei Ebenen zu betrachten. Erstens geht es um einen USA-Russland Konflikt um strategische Stabilität. Zweitens um einen Nato-Russland Konflikt um Sicherheitsarchitektur in Europa. Und drittens um einen Russland-Ukraine-Krieg mit nicht ganz klaren russischen Zielen.“

Es fehlt die innerukrainische Dimension, sie ist in den letzten Monaten aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. https://www.heise.de/tp/features/Russland-verfuegt-immer-noch-ueber-die-Eskalationsdominanz-7194125.html?seite=all

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Genau diesen Anspruch erfüllt dieser Text (noch?) nicht: Wenn es richtig ist, dass der gegenwärtige Krieg eine Folge der US-Politik in Europa ist (Guérot/Ritz S. 39f, ebenso Dohnanyi S. 66ff)), dann ist es zu wenig, die Rückkehr zur Charta von Paris zu verlagen. Es muss vielmehr auch über das Verhältnis der USA zu einem Europa des Friedens nachgedacht werden.

54

Guérot / Ritz S. 165, 168

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„Im Zentrum der russischen Forderung steht die Charta für die Europäische Sicherheit, die von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1999 in Istanbul verabschiedet und 2010 während eines Gipfels in Astana erweitert wurde. In dieser Charta findet sich der Grundsatz, dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis wählen dürfe. Gleichzeitig wird aber auch festgehalten, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe. Diesen Widerspruch nutzt Russland für seine Argumentation und beklagt, dass der Westen stets nur das Recht auf Bündniswahl für sich reklamiere, den zweiten Teil der Vereinbarung aber nicht respektiere. „So funktioniert es nicht“, schreibt Lawrow, „die Bedeutung der Vereinbarung über die Unteilbarkeit von Sicherheit heißt doch, dass es entweder Sicherheit für alle oder keine Sicherheit für niemanden gibt.“

Der Widerspruch im Vertragstext ist bekannt und war bisher nur unter Experten thematisiert worden In der OSZE wurde darüber in einem sogenannten strukturierten Dialog beraten. Auch der Nato-Russland-Rat beschäftigte sich damit. Andere Verträge zur europäischen Sicherheit wie die Charta von Paris oder die Nato-Russland-Grundakte verweisen ausschließlich auf die Souveränität der Staaten und die Unverletzbarkeit von Grenzen. Auch die Anwendung der Verträge in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch Russland selbst, trägt zum Interpretationsspielraum bei.

Lawrow hatte die neue Argumentationslinie Moskaus bereits bei den letzten Begegnungen mit US-Außenminister Tony Blinken oder der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock aufblitzen lassen. Der Brief macht nun deutlich, dass Russland dieses Thema ins Zentrum der Verhandlungen mit den USA und den Nato-Staaten schieben könnte.“

https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-ukraine-osze-lawrow-diplomatie-1.5519884

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Ich verwende dazu Texte aus RT und Reden des Präsidenten Putin. Die innerrussische Bedeutung der RT-Texte, verfasst von Leuten, die als wichtibe Politologen vorgestellt werden, kann ich natürlich nicht einschätzen.

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Das ist etwas anderes als „russischer Imperialismus“, allerdings auch nicht widerspruchsfrei: Sind nur die ethnischen Russen gemeint? Was gehen diese Leute die vielen „russländischen“ (ungleich: russischen) Völkerschaften Russlands an?

60

Der Kampf gegen russische Desinformation ist wohl falschen Erinnerungen an den Kalten Krieg Nr. 1 geschuldet. Bekämpft werden ja nicht „falsche Fakten“, sondern unerwünschte Deutungen, demonstriert an Texten, die für ein russischsprachiges Publikum bestimmt sind.

Datum: \today, \uhrii

Autor: Dr. Horst Leps

Created: 2023-02-23 Thu 16:41

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