Unser Rathaus


Am Beispiel des Hamburger Rathauses, dazu die Rathäuser von Lüneburg und Ahrensburg – Schreibtischentwurf zu einem Lehrstück

Dr. Horst Leps


Date: 11. August 2023,



Inhalt

of [*] horstleps@gmx.de



Fotos und Screenshots:


Warum Rathaus?

Verschiedene Zugänge sind möglich und auch verschiedene Begründungen1.


Heimatkunde

In der zweiten Klasse, damals 1956, kam der Lehrer mit einer Landkarte in den Unterricht. Es war der Stadtplan von Bevensen; dort bin ich aufgewachsen. Die wichtigsten Straßen konnte ich erkennen, ich ging sie ja täglich zur Schule. Auch die Straßen, in der meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern wohnten. In einigen anderen Straßen war ich schon mal gewesen.

Dann kam der Wandertag: Wir liefen durch Bevensen, der Lehrer zeigte uns die Straßen, aber auch die wichtigsten Häuser in Bevensen. Die Kirche kannten wir schon von der Einschulung. Alle kannten auch das Rathaus, jedenfalls dem Namen nach. Den Schützenplatz lernten wir auch kennen, die Brücke über die Ilmenau und wo Goethes Eckermann mal gewohnt hatte.

Neben der Kirche war das Rathaus besonders wichtig. Da amtierte der Bürgermeister. Das war der große dicke Mann im Frack mit Zylinder, der beim Schützenfest vorne mitmarschierte. Dann war das Haus mit den deutschen Fahnen geschmückt. Eine Fahne konnte kaum jemand zuordnen, dabei war sie besonders wichtig: Die gelb-weiße Fahne des (von Preußen verschluckten) Königreichs Hannover. Obwohl: So recht trauerte niemand den Welfen hinterher.



Das Rathaus zeigte sich also in zwei Bedeutungen:

  1. Im Rathaus wird die Stadt regiert und
  2. hat das Rathaus mit einer für die Stadt wichtigen Vergangenheit zu tun.
Damit sind schon zwei Aspekte genannt, nach denen bei einem Rathaus gefragt werden kann: Die gegenwärtige Politik in der Stadt und die Gegenwart der Vergangenheit in und für die Stadt.



Im Jahr drauf, in der dritten Klasse, fuhren wir in die Kreisstadt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber in der vierten Klasse waren wir in der Hauptstadt des Regierungsbezirks, in Lüneburg, und besichtigten das Rathaus. In das Rathaus kam man damals und kommt man heute nur mit einer Führung. Ich erinnere mich an ein von innen beschlagenes Glasgefäß, in dem sich ein Knochen der Sau befinden soll, die angeblich Jäger zur Quelle jenes Salzes geführt hat, das Lüneburg zu einer der reichsten deutschen Städte des Mittelalters gemacht hat. Lüneburg, das war das Salz der Hanse.

Viele Jahrzehnte später habe ich als Lehrer eine Radtour mit meinen Tutanden aus der zwölften Klasse des Gymnasiums gemacht. Als wir bei der Rückfahrt an meinem Haus vorbei kamen, wollte ich mich von den Schülern verabschieden, sie würden doch allein den Weg zur Schule und damit nach Hause finden, den ich jeden Tag gefahren bin. Nein, sie kannten den Weg nicht und ich musste sie nach Hause bringen, 18 Jahre alt. In der Schule hatten sie die Öko-Probleme von Bangladesh und der Sahara kennengelernt, ist ja auch in Ordnung, aber den Grundriss von Hamburg kannten sie nicht.



Früher hieß das Schulfach „Heimatkunde“. Es zeigte, so habe ich es als Schüler in Erinnerung, in der Grundschule nur das Einzelne aus der Nachbarschaft, es zog keine Parallelen in die große weite Welt, es war nicht explizit exemplarisch. Das damals erworbene Wissen zeigte seine Potenz erst später, als man älter wurde und andere Gegenden Deutschlands kennen lernte.



Dieser Unterrichtsexperimentvorschlag ist für Hamburg geschrieben. Er ist noch nirgends ausprobiert, also ist er als grundlegend unvollständig anzusehen.


Dorfgründung – Verfassungsratschlag

Die Schüler*innen haben gerade ein Dorf gegründet oder eine Verfassung geschrieben. Nun brauchen sie einen Mittelpunkt ihres neuen Gemeinwesens: Ein Haus, in dem man sich versammelt, die Entscheidungen gefällt werden und ihre Ausführung organisiert und überwacht wird. Außerdem muss das Haus dem neuen Gemeinwesen auch einen angemessenen ästhetischen Ausdruck verleihen. Solche Häuser kennen wir schon, es sind in den Städten die Rathäuser. Wir müssen uns also einmal dort umsehen. Vielleicht ist es gut, mehrere Häuser anzusehen, um das Typische herauszufinden, damit das eigene zentrale Haus auch alles enthält, was notwendig ist.

Aber es könnte sein, dass dabei unerwartete Schwierigkeiten auftauchen.


Didaktisch-methodische Besonderheit

Kirchen haben im Westen einen Turm, im Osten den Altar und dazwischen den Raum des Gottesdienstes. Die Büroräume sind in einem anderen Gebäude. Man könnte ein Schema formulieren, mit dem das Allgemeine jeder einzelnen Kirche erschlossen werden kann, egal wie alt sie ist und in welchem Stil sie gebaut ist. Bei Rathäusern findet man mindestens einen Versammlungsraum, einen Amtsraum des Bürgermeisters und oft noch eine besondere Fassade an einem großen Platz, mit der nach außen die besondere Bedeutung des Hauses betont wird und oft auch ein politisches Programm ausgedrückt wird. Kirchen stehen wochentags meist leer und können dann besucht und besichtigt werden. In den Rathäusern wird aber meist noch gearbeitet, so dass ihre Besichtigung nur durch eine Führung möglich ist. Die Führung kann auch oft ausfallen, weil im großen Saal gerade eine Sitzung oder in einem anderen Raum eine Feier stattfindet.

Da zeigt sich gleich eine lehrkunstdidaktische Schwierigkeit: Die didaktisch-methodische Grundfigur – der Lehrer zeigt ein erstaunliches, Fragen hervorrufendes Phänomen und die Schüler erarbeiten handelnd und im Gespräch ihr Verständnis der Dinge – wird durch die ansonsten ja gewünschte Begegnung mit „Realität“ gestört: Zwischen dem Gegenstand und der Lerngruppe steht die Rathausverwaltung mit einem Besichtigungstermin und einem Rathausführer. Ein Rathausführer hat sein eigenes Programme und seine Redensarten; wenn er fünf Führungen am Tag machen muss, sind die Schüler nur eine Gruppe unter vielen. Und was in der Führung nicht vorgesehen ist, das gibt es nicht.

Ein Unterricht, der ein Lehrstück werden will, kann verschiedene Aspekte des Rathauses in den Blick nehmen. Dieser Bericht legt den Schwerpunkt auf die Fassade. Sie will nach draußen etwas mitteilen. Die Architektur eines Rathauses und seine Geschichte können vielleicht klären, was ein Rathaus „eigentlich“ ist.

Ein Rathaus allein reicht jedoch nicht, um ein Lehrstück zu inszenieren. Es muss der Weg zurück versucht werden, sozusagen zum „Rathaus an und für sich und überhaupt“. Hamburgs Rathaus ist vergleichsweise jung, gerade 125 Jahre alt. Ein Rathaus, das über das „Rathaus“ aufklärt, muss älter sein, muss im Mittelalter mit seiner Stadt entstanden sein. Lüneburg liegt auch räumlich nahe2, und für die ganz junge Moderne bietet sich Ahrensburg gleich hinter Hamburg an. Es könnte gelingen, diese drei Rathäuser nacheinander zu befragen, um über „Das Rathaus“ und jedes Rathaus in seiner Zeit etwas zu erfahren.



Die politisch wichtigsten Innenräume werden auch berücksichtigt. An ihrer Ausgestaltung erfahren die Personen des Rathauses, seien es Amtsträger oder Beschäftigte, zu welchem Zweck sie tätig sind. Diese Räume können im Unterricht aber auch weggelassen oder auf andere Weise behandelt werden.


Das Hamburger Rathaus

In Hamburg meint man, ein besonders schönes Rathaus zu haben. Schüler*innen sollten es also kennenlernen, Heimatkunde und politische Bildung gleichzeitig. Es gibt drei Möglichkeiten:

  1. Die Gruppe bestellt gegen Geld bei der Rathausverwaltung eine Führung. Der Rundgang beschränkt sich auf wichtige Räume im ersten Stock: Säle und Räume von Bürgerschaft und Senat. Gefahr: Kaum aktuelle Politik, dafür viele Anekdoten.
  2. Der Lehrer spricht mit einen Bürgerschaftsabgeordneten seiner Wahl an. Die MdBüs machen an den Sitzungsterminen im Rahmen ihrer Wahlkreisarbeit kostenlose Führungen im Rathaus. Es werden die selben Räume gezeigt wie bei einer Profi-Führung, die Erläuterungen sind auch dieselben, stammen sie doch aus Unterlagen derselben Verwaltung. Die Fassade des Rathauses gehört nicht dazu. – Vorteil: Der Abgeordnete kann einige Dinge lebhafter schildern, sitzt er doch selbst alle 14 Tage am Mittwoch auf den unbequemen Sesseln des mit Holz sehr warm, sehr angenehm gestalteten Bürgerschaftssaales. Aber nicht allen Teilnehmern solcher Führungen dürften alle politische Bemerkungen gefallen.
  3. Der Lehrer macht die Führung selbst. Nur kommt er dann nicht in das Innere des Rathauses. Das Äußere des Rathauses enthält politische Botschaften, sie geben Auskunft über das Selbstverständnis der Stadt.

Natürlich wäre es schön, die Schüler*innen könnten sowohl die Fassade als auch die Innenräume des Hauses erleben. Das dürfte aber nur möglich sein, wenn die Führung durch einen Abgeordneten in einer schulischen Projektwoche stattfinden kann. Das wäre die Luxusvariante, der Normalfall könnte sein, dass die Besichtigung innen oder außen vor Ort gemacht wird und die andere Besichtigung mit JPGs am Beamer. (In anderen Rathäusern dürfte das letztlich genauso sein: Man kann sich in Rathäusern eben nicht so frei bewegen wie in Kirchen außerhalb des Gottesdienstes.)


Die Rathausfassade

Abbildung: Das Hamburger Rathaus und der Rathausmarkt
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Die Lerngruppe kommt auf das Rathaus zu: Sie sieht einen großen leeren Platz, dahinter das Rathaus. Wuchtiger Sandstein umkleidet das Erdgeschoss, weist Angreifer ab, wie sein Vorbild, die Schlösser italienischer Adliger in feindlicher städtischer Umgebung. In der Mitte befindet sich ein eher kleines Tor, schnell verschließbar. (Wenn die Schüler später in das Rathaus hinein gehen, müssen sie sich einzeln durch die Eingangstür quetschen, nicht breiter als die Wohnzimmertür in einem begüterten Haushalt.) Horizontal in der Mitte befindet sich eine Reihe von Statuen, in der Mitte senkrecht springt die Fassade leicht nach vorne, darüber geht der Rathausturm nach oben. Was will das Rathaus nach außen zeigen? Man kann irgendwo anfangen.

Es gibt eine zum Publikum offenen Arkaden, wie man sie an mittelalterlichen Rathäusern findet oder ganz in der Nachbarschaft an den Alsterarkaden oder, etwas entfernt, in den Colonaden findet. Ein entsprechender Vorschlag wurde verworfen, man wollte wohl unter sich bleiben.

Ich würde ganz rechts beginnen: Hinter einem kleinen Vorsprung befindet sich der Sitz des Bürgermeisters. Über seinem Fenster ist das Wappen der Hansestadt Bremen angebracht. Das fällt jedem Schüler sofort auf. Und sofort taucht die Frage nach dem Warum auf. Ein Schüler läuft nach ganz links, dort gibt es das Wappen von Lübeck. Ach, über allen Fenstern sind solche Wappen, Stadtwappen: Hamburg zeigt sich als große Stadt der Hanse. – Der Bürgermeister schaut durch sein Fenster, flankiert von zwei Kaisern. Es sind Joseph II. und Franz II. Joseph II. war Kaiser des alten Deutschen Reiches und zu recht berühmter Reformkaiser in seinen habsburgischen Stammlanden; Franz II. war der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und nach 1803 der erste Kaiser von Österreich, auch ein Habsburger. Aber was hat der Bürgermeister von Hamburg der 1890er Jahre mit den österreichischen Habsburgern zu tun? Der erste steht für ein Kaiserreich, dem Hamburg mal zugehört hatte, das es aber nicht mehr gab, und der andere für dessen Untergang und die Neugründung eines Reichs, zu dem Hamburg nicht gehört? – Man muss sich weiter umsehen.

Abbildung: Das Fenster des Ersten Bürgermeisters
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In der Mitte, unter dem Turm, stehen wieder zwei Kaiser. Sie rahmen den Ausgang aus dem Haus zum Balkon. Es sind Karl der Große und Friedrich II. Karl hält eine Kirche in der Hand, in Kirchen kann man so den Gründer erkennen. Friedrich hat eine Schriftrolle in der Hand, es soll ein Gesetz sein. – Über dem Ausgang zum Balkon eine Abbildung einer Frau, darüber ein lateinischer Text: „Die Freiheit, die schwer errungen die Alten, möge die Nachwelt würdig erhalten.“ –- Eine defensive Haltung, irgendwas bedroht Hamburg. Vielleicht helfen die beiden Kaiser? Karl hat Hamburg gegründet, Friedrich hat es zur freien Reichsstadt gemacht. Diese kaiserliche Herkunft aus dem alten Deutschen Reich muss weiter in Geltung bleiben. –- Dass Karl nie in Hamburg war, noch nicht mal in diesen nassen norddeutschen Gegenden, ist egal, Hamburg gilt unter den Historikern dennoch als karolingische Gründung. Die Urkunde, die die Erbauer des Rathauses Friedrich in die Hand gedrückt haben, dürfte es nicht gegeben haben, die Vorlage im Archiv ist eine Fälschung (oder doch nur eine Abschrift?), das wusste man damals aber noch nicht. –- Damit sind auch die vielen Kaiser auf der Festungsmauer verständlich: Sie stehen für die Abwehr von etwas, das Hamburg fürchterlich bedroht.

Abbildung: Der Balkon des Rathauses
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Sie werden dabei unterstützt von jenen Bürgern aus den Familien, die die Senatoren und Bürgermeister stellen, unterhalb der Kaiser in der Fassade angebracht und von jenen Handwerkern, die oberhalb dargestellt sind.

Was bedroht Hamburg nun aber? -– Die Fassade wurde in den 1880er Jahren konzipiert. Im Süden Hamburgs war Hannover 1866 preußisch geworden und im Norden Holstein 1867. Hamburg war von Preußen umzingelt. Wohin man auch an der Fassade blickt: Jede Menge Habsburger, aber nichts von den Hohenzollern, nichts aus Preußen. Seltsam. Hamburg hatte 1880 Angst, von Preußen wirtschaftlich erwürgt zu werden. Aber Preußen-Deutschland machte Hamburg zu dem Welthafen Deutschlands. Damit begann der rasante Aufstieg Hamburgs zur Millionenstadt. –- Die Fassade ist die Aufstellung zu einer Schlacht, die schlicht ausfiel. Der „Feind“ war klüger. Als das Rathaus 1897 eingeweiht wurde, war die politische Aussage der Front schon Geschichte. –- Dumm gelaufen, man hat es in Hamburg vergessen und man sollte es, ist man in Hamburg, auch nicht ansprechen.

Anders und doch verwandt sieht es in den Innenräumen aus. Ob die Schüler*innen eine Führung erlebt haben oder nicht, die Innenräume müssen im Klassenzimmer besprochen werden. Es gibt genügend Bildmaterial im Internet.


Innenräume des Rathauses

Der Vollständigkeit halber die beiden wichtigsten Innenräume des Rathauses: Der Raum, in dem die Volksvertreter (die Bürgerschaft) tagen, und der Raum der Regierung der Stadt (Senat). Diese beiden Räume, wie immer sie nach den Organen benannt sind, die in ihnen tagen, gehören zur Minimalausstattung eines Rathauses. Fehlen sie, handelt es sich nur um ein Verwaltungsgebäude. – Man könnte im Unterricht auch mit diesen Räumen arbeiten, es hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab.

Abbildung: Der Saal der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (© Bürgersschaft)
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Abbildung: Ratssaal – Sitzungssaal des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg
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Ein Überblick über das Rathaus in Hamburg kann so gewonnen werden. Aber: Was ist ein „Rathaus“? Wo kommt diese Einrichtung her? Lehrstücke wollen einer Angelegenheit auf den Grund gehen, so tief wie möglich.


Das Lüneburger Rathaus

Lüneburg ist nicht weit von Hamburg entfernt, Hamburger konnten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ungefähr einer Stunde mit der Eisenbahn erreichen. Ich vermute einfach mal, dass die hamburgische Rathausbaukommission sich das Lüneburger Rathaus angesehen hat, als es das neue Rathaus in Hamburg plante.


Die Fassade des Lüneburger Rathauses

Rathäuser sind in Deutschland ein Erbe des Mittelalters. Sie entstanden mit den Städten seit ungefähr 1100 n. Chr. Eine genetische Betrachtung müsste also dort ansetzen, um zu verstehen, warum und wozu sie entstanden sind. Aber es sind auch die Veränderungen zu beachten. Die Städte des Mittelalters waren schließlich nicht demokratisch verfasst, sie kannten keine pluralistische weltanschauliche, religiöse und politische Binnendifferenzierung. Aber dennoch: Wir gehen einen Weg zurück, um mit mehr Verständnis in der Gegenwart anzukommen.



Das Hamburger Rathaus aus der Zeit vor dem Brand hatte auch Kaiser an der Fassade wie auch das Rathaus von Lüneburg. Dieses Gebäude ist eines der wenigen in Norddeutschland, das die Jahrhunderte fast unverändert überstanden hat. Allerdings wurde die Fassade im Jahr 1720 grundlegend erneuert, ihre heutige Gestalt erhielt sie 1868/69.

Abbildung: Die Fassade des Lüneburger Rathauses
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Die Fassade scheint – anders als später in Hamburg – im Erdgeschoss einladend geöffnet, zwischen den Fenstern stehen im ersten Stocks vier Kaiser, in der Mitte eine Frauengestalt, und im zweiten Stock fünf Frauengestalten.

Die barocke Fassade stammt macht den Eindruck, als solle sie altüberliefertes Denken noch einmal in Lüneburg befestigen. Vielleicht darf man deshalb so tun, als wäre es eine mittelalterliche Fassade. Sie wiederholen in der Tat ältere Momente.

Abbildung: Die Kaiser an der Fassade des Lüneburger Rathauses
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Die Kaiser stehen für ihre (tatsächlichen oder nur behaupteten) Leistungen bei der Entstehung des gesatzten Rechts. Die weibliche Figur in der Mitte trägt die Inschrift „Gerechtigkeit“ mit der Erläuterung „Jedem das Seine“. Unter der Fassade ist ein öffentlicher Gerichtsort. Die Stadt ist ein Ort des gerechten Rechts. Das sagt sie nach außen, zu ihren Handels- und Bündnispartnern, und nach innen, am Marktplatz, zu ihren Bürgern. Inhalte dieses Rechts werden nicht erklärt. Von Freiheit oder Sozialstaat ist nicht die Rede, das sind spätere politische „Erfindungen“. Aber eine Bindung wird erklärt, man kann nicht willkürlich machen, was man will.

Abbildung: Die Inschriften bei den Kaisern des Lüneburger Rathauses
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Über dem Gesetz stehen die Göttinnen der Tugenden.

Abbildung: Die Göttinnen und die Tugenden
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Die Bürger sollen ihr Verhalten an diesen Tugenden ausrichten, aber auch die Rechtsprechung muss sich an Tugenden orientieren. Der Fall muss genau ermittelt werden, die Wahrheit soll gefunden werden. Das Urteil muss klug alle seine Folgen bedenken, es muss streng und nachsichtig zugleich sein. – Man müsste etwas darüber wissen, inwieweit diese Tugenden Teil der Alltagskultur waren, im politischen, im wirtschaftlichen und im juristischem Leben.

Interessant ist die mittlere Statue. Weil die Inschrift ein langer Satz ist, beginnt sie schon am Sockel der Figur und nicht erst auf dem Schild: Wenn Barmherzigkeit wichtiger ist als der Rechtsspruch, dann wird das Recht in einem doppelten Sinn aufgehoben: Das gesatzte Recht ist unvollkommen, es kann dem einzelnen Menschen oft nicht entsprechen, den Streit zwar an der gegebenen Norm entscheiden, aber oft bleibt die Entscheidung unbefriedigend. Jeder Jurist, jedes Gericht heute kennt diesen Mangel. Die christliche Barmherzigkeit ist von größerer Wichtigkeit. Von ihr her ist das Recht zu lesen und zu verstehen. – So gesehen, wird das kaiserliche Recht gleichsam auf einen vorläufigen Platz verwiesen.

Die politische Aussage der Lüneburger Fassade – Das Recht ist für das Zusammenleben in der Stadt von großer Wichtigkeit, aber es muss für jeden einzelnen Menschen in jedem einzelnen Fall barmherzig angewendet werden – gilt auch heute noch, so auslegungsbedürftig sie ist. Sie ist uns ein wichtiger Hinweis. Die Aussage des Hamburger Rathauses – Wir müssen uns wehren, da will uns jemand was wegnehmen, das uns die alten Kaiser gegeben haben – ist dagegen zeitbedingt, heute unverständlich, für unser neues Gemeinwesen nicht brauchbar.



Aber irgendetwas stimmt nicht. Will man durch die offenen Rundbögen der Fassade in das Rathaus, kommt man nicht hinein. Da ist kein Zugang. Sucht man den Eingang an den Seiten, stößt man links auf das Tourismus-Büro und danach auf einen Zaun, hinter dem sich einige irgendwie mit der Fassade verbundene Häuser befinden. Geht man nach rechts, trifft man nah der Putzwand auf eine geschlossene Ziegelwand, mit Eingängen in das Haus in unregelmäßigen Abständen. Es sieht also so aus, als ob das „Rathaus“ eine Zusammenstellung von Gebäuden ist, die auf der linken Seite zusammen geführt werden, zum Marktplatz hin von einer Fassade so verdeckt werden, als ob sich dahinter ein großes Herrschaftsgebäude befindet, während es zur linken Seite eine Ansammlung verschiedener miteinander verbundener Gebäude oder Gebäudeteile ist.

Abbildung: Luftbild vom Lüneburger Rathaus (© Ganzert)
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Die Fassade soll das Publikum beeindrucken, sie ist „Show“. Im Haus ist alles womöglich viel bescheidener, auf jeden Fall älter.

Sie ist auch nicht die älteste Fassade, man muss nicht nur einen Schritt weiter zurück gehen. Schon die Spätgotik hatte eine Fassade vor das Rathausensemble gesetzt. Die Fassade ist auf die Repräsentation zum Markt hin bedacht, mit den Gebäuden dahinter ist sie nur lose verkoppelt, weshalb sie ein paar Jahrhunderte durch eine neue ersetzt werden konnte.

Abbildung: Die Fassade des Lüneburger Rathauses um 1608 (© Ganzert)
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Abbildung: Die Erneuerung der Fassade des Lüneburger Rathauses (© Ganzert)
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Sie hat vor allem einen ästhetischen Nutzen, soll das Selbstverständnis der Stadt ausdrücken und bei den Bewohnern der Stadt befestigen.



Schüler*innen zeichnen einen groben Grundriss der gesamten Anlage. Die Zeichnung muss nicht besonders genau sein, es reicht, wenn sie erkennen lässt, dass mehrere Häuser zusammen gewachsen sind.


Exkurs: Die Genese des Rathauses

Es sieht also nach einem langsam gewachsenen Ensemble von Gebäuden aus, das nach außen den Eindruck einer Einheit (das Rathaus!) erzeugen soll. Wenn man das Wachstum zurück verfolgen kann, bekommt man vielleicht auch eine Antwort auf die bisher noch gar nicht explizit Frage, was denn ein Rathaus überhaupt ist.

Glücklicherweise gibt es für das Lüneburger Rathaus eine noch recht frische Untersuchung3, deren Bericht Joachim Ganzert herausgegeben hat, einige Beiträge stammen vom Herausgeber selbst. Im Folgenden wird dieser Bericht mitsamt einigen Materialien, die immer mit „© Ganzert“ markiert sind, verwendet. Den für die Frage nach dem Wachstum des Gebäudekomplexes wichtige Abschnitt hat Ganzert geschrieben.

Man muss sich den Anfang dieses Rathauses (jedes Rathauses der damaligen Zeit?) wohl so vorstellen:

  1. Anfang stand eine Kapelle, wer auch immer sie aus welchen Gründen in die Landschaft gestellt hatte. Ein Bischof hatte sie geweiht. Um diese Kapelle herum gab es eine Siedlung. Man traf sich zum Gottesdienst und redete dort miteinander über alles, was von gemeinsamem Interesse war.
  2. An günstig gelegenen Orten kamen Händler vorbei, bei besonders günstig gelegenen Kapellen wurde eine feste Unterkunft für den Handel gebaut.
  3. Wo gehandelt wird, braucht es Regeln. Diese Regeln müssen aufgeschrieben werden, damit sie im Streitfall präsent sind. Es muss einen Kreis von „Regelaufstellern“ und „Regeldurchsetzern“, einen Aktenschrank und ein Verfahren bei Streitigkeiten geben.
  4. Für Aktenschrank, Versammlung und Gericht wird zusätzlich gebaut.



Ganzert rekonstruiert aus den archäologischen und architekturgeschichtlichen Befunden die Entstehung dieses (des?) mittelalterlichen Rathauses. Lehrstücke arbeiten mit einer genetischen Konstruktion. – Es müsste möglich sein, den Weg der Entstehung des Rathaus-Gebäudes in einem Gedankenexperiment mit Schüler*innen selbst zu erzeugen.

Abbildung: Der alleranfänglichste Anfang eines Rathauses (© Ganzert)
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Abbildung: So könnte das Rathaus-Ensemble nach der ersten Entwicklung ausgesehen haben. (© Ganzert)
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So kann auch deutlich werden, was ein „Rathaus“ ist. Ein Rathaus ist nicht schon dann ein Rathaus, wenn ein Haus als Rathaus gebaut ist. Nach Joachim Ganzert]4 re-präsentiert ein Rathaus jenes, in dessen Obhut es selbst für Obhut sorgt. Seine Regeln müssen wahre, gültige Regeln sein. Es reicht nicht, wenn der Rat sie sich nur ausgedacht und dann beschlossen hat. Sie müssen von einem Rat erlassen sein, der selbst in der Obhut der höchsten denkbaren Instanz, also Gottes, steht und in der Verwirklichung des göttlichen Heilsplans arbeitet. Deshalb braucht der Rat den christlichen Gottesdienst vor seiner Arbeit. – Die Entwicklung dieses weiteren Schritt der Rekonstruktion dürfte im Unterrichtsgespräch möglich sein.

Siehe im Anhang den Text von Joachim Ganzert S. [*]



Die christliche Religion kannte nun weder damals noch kennt sie heute aus ihr hervor gehende Regeln der staatlichen Ordnung, der staatlichen Beschlussfassung oder der staatlichen Konfliktregelung5. „Unruhig ist unser Herz, o Gott, bis es Ruhe findet in dir. (Augustinus)“ Das ist der Kern dieser Religion. Man kann sagen, dass ihre Ethik unvollständig ist. Deshalb setzt sie Bereiche des sozialen Lebens frei, die sie zwar unter göttlichen Schutz setzen kann, für die sie aber keine göttlichen Regeln zur Verfügung stellen kann. So entsteht zwangsläufig ein Raum, der anders gefüllt werden muss.

  1. Die christliche Gemeinde bringt die politische Gemeinde hervor. Es sind dieselben Leute am selben Ort, man kann weder aus der christlichen noch aus der politischen Gemeinde austreten. Aber die christliche Gemeinde wird ergänzt durch Einrichtungen, die nicht schon in ihr angelegt sind, sich jedoch als notwendig erweisen. – Der Sinn der politischen Einrichtungen ist jedoch die christliche Gemeinde, die Aufgabe dieser zugleich religiösen und politischen Gemeinde in der christlichen Heilsgeschichte.
  2. Diese Unvollständigkeit der christlichen Religion eröffnete und eröffnet Freiräume für Gedanken anderer Herkunft, vor allem aus der griechisch-römischen Antike. Was immer dort in den politischen Dingen gedacht wurde, konnte übernommen werden, konnte „getauft“ werden. Wenn etwa das Polis-Denken von Aristoteles nicht oder nur eingeschränkt übernommen wurden, hatte es eher Gründe in der gegebene Herrschaftsstruktur der damaligen Zeiten als an ideologischer oder religiöser Unverträglichkeit.

Man kann daher erwarten, dass die dekorative Ausstattung der Rathäuser zwar vornehmlich christliche Motive zeigt, aber auch solche aus der griechisch-römischen Antike, wenn sie zu den politischen Aufgaben des Rathauses passen.


Innenräume des Lüneburger Rathauses

Fotos aus den Innenräumen des Lüneburger Rathauses sind nicht leicht zu bekommen, man darf bei einer Führung ohne Sondererlaubnis auch nicht fotografieren. Die Grundrisse der Räume und ihre Inneneinrichtung sind einfach gehalten, man sitzt im Viereck. Viel wichtiger ist der Schmuck der Wände und der Fenster. Sie enthalten Selbstverständnis und Programm.


Die Ratsdörnse

Die „Ratsdörnse“ von 1328 war der Sitzungsraum im Mittelalter. Er wurde in der Reformation und der Renaissance durch die „Große Ratsstube“ ersetzt, sie wird jetzt „Gerichtslaube“ genannte. Die Verglasung entstand um 1410.

Abbildung: Die „Neun Helden“ am Fenster der Ratsdörnse
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Die „Neun Helden“ – vor allem christliche Herrscher, aber auch vorchristlich-antike – sind ein in mittelalterlichen Rathäusern häufiger Topos für eine gute Regierungsweise6, sozusagen die Vorbilder der Ratsherren.

Abbildung: Das Jüngste Gericht auf der Rückseite der Ratsdörnse
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Die Rat ist Teil der großen Heilsgeschichte, die Ratsherren müssen bei ihren Entscheidungen bedenken, dass sie auf ewig zur Rechenschaft gezogen werden.


Die Große Ratsstube

Das Haus für die „Große Ratsstube“ wurde von 1564 – 1567 gebaut und bis 1584 mit Schnitzereien und Gemälden ausgestattet.

Abbildung: Der Große Ratssaal (© Ganzert + Dott)
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Die Gemälde zeigen wieder das politische Selbstverständnis des Rates.

Abbildung: Respublica (© Ganzert + Dott)
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Die Erläuterung zur „Respublica“ von Maike G. Haupt7 zeigt, dass die Republik unter dem Herrgott, geleitet vom Heiligen Geist, mit Hilfe der Gerechtigkeit und dem Bemühen um Eintracht Frieden in der Stadt ermöglicht. Der Rat ist unter der Silhouette der Stadt Lüneburg daran beteiligt, allerdings eher passiv entgegennehmend8.

Siehe im Anhang den Text von Maike G. Haupt S. [*]

Die Schüler*innen beschreiben das Bild, sie versuchen, es zu interpretieren. (Wie macht man das? Kunstdidaktik?)

Die Respublica ist etwas später auch in der alten Ratsdörnse angebracht worden.

Abbildung: Respublica 2 (© Ganzert + Dott)
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Exkurs: Gute und Schlechte Regierung im Rathaus von Siena

Sie war also eine sehr beliebte Allegorie. Sie war in Europa weit verbreitet. Die berühmteste Darstellung befindet sich im Rathaus von Siena. Nähere Beschreibungen des „Buon Governo“ und des „Mal Governo“ bei Dagmar Schmidt9.

Abbildung: Respublica – Die gute Regierung
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Das Bild ist etwas anders aufgebaut. Es sieht zweigeteilt aus: Auf der rechten Seite ein großer Regent mit seiner Umgebung, links eine kleinere Frau Gerechtigkeit, in der unteren Hälfte beide verbindend die Bürgerschaft Sienas. In der Mitte der Friede, eine besonders schön und angenehm gemalte Frau, am rechten Rand Bewaffnete und Gefangene.

Gott und Heiliger Geist fehlen. Diese „Gute Regierung“ beruht auf Bürgertugenden, nicht auf Re-Präsentanz eines Religiösen. Sie mahnt die Bürger, sie warnt vor dem Gegenteil, der „Schlechten Regierung“.

Siehe im Anhang den Text von Dagmar Schmidt S. [*]

Abbildung: Respublica – Die gute Regierung 2
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Der Regent mit seinen Ratgeberinnen: Pax, Fortitudo, Prudentia, Magnanimitas, Temperantia, die Justitia hat eine eigene Bildhälfte.

Abbildung: Pax – Friede
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Der Friede ist besonders schön gestaltet (Dagmar Schmidt):

Lassen wir unseren Blick noch einmal über das Fresko gleiten, so wird uns eine Figur besonders auffallen: die Pax. Sie besticht durch ihre Schönheit und ihre anmutige Pose. In ihrem durchschimmernden, fliessenden Gewand, das ihren Körper umhüllt, lenkt sie alle Blicke auf sich.

Abbildung: Justitia – Gerechtigkeit
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Die Gerechtigkeit ist aristotelisch sowohl strafend als auch austeilend, Strafjustiz und Sozialpolitik / Sozialfürsorge im selben Zusammenhang.

Die Schlechte Regierung sieht ganz anders aus.

Abbildung: Respublica – Die schlechte Regierung
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Ohne die Verfassung der Stadtrepublik von Siena zu kennen: Der Gegensatz von „Guter“ und „Schlechter“ Regierung dürfte eine Aufnahme der Unterscheidungen von Aristoteles sein10.



Herrschende Gemeinwohl Eigennutz
Einer Monarchie Tyrannis
Wenige Aristokratie Oligarchie
Viele (Alle) Politie Demokratie



Die „Gute Regierung“ scheint eine Kombination aus Monarchie und Aristokratie zu sein, eine Mischverfassung. Diese Variante kommt bei Aristoteles zwar nicht vor, aber er würde vermutlich einfach sagen: „Wenn es denn gut geht, wenn es denn nützt, warum nicht?“ Aristoteles klärte Grundfragen, lehrte keine Dogmen.

Die Grundfrage, die in diesem Bild aufgegriffen wird, ist jedoch ganz aristotelisch: Welche Institutionen sind für einen guten Staat erforderlich und wie ist das Zusammenspiel dieser Institutionen zu konzipieren?

Siehe dazu im Anhang den Text von Volker Reinhardt S. [*]



In Siena kannte man also das Gegenbild zu einer guten Regierung. Nach Volker Reinhardt11 erfüllte diese Allegorie zwei Funktionen:

  1. Sie diente der politischen Selbsterziehung der städtischen Elite. Sie sollten jene Tugenden ausbilden, die für das Gemeinwohl erforderlich sind.
  2. Sie diente aber auch der Selbstdarstellung nach außen – „So sind wir!“ –, wenngleich sie im Alltag eben doch im Rat nach ihren ganz persönlichen, ganz egoistischen Interessen entschieden. Es ist eben auch die Dekoration des Rathauses durch die herrschende Klasse.

Aber diese Elite hatte die Katastrophe immer vor Augen: Wenn nicht letztlich nach den Tugenden regiert wird, schlägt die Herrschaft in der Stadt in die Tyrannis um. – Ein Widerspruch von Selbstbild und Realität, der in Klassengesellschaften zwangsläufig auftritt, auch in den modernen Demokratien: Die einen haben faktisch-praktisch mehr zu sagen als die anderen; diese einen arbeiten für anderen am Gemeinwohl und doch fließen ihre eigenen Klasseninteressen in diese Arbeit ein.

Dieses Gegenbild der schlechten Regierung fehlt in Lüneburg, in der Ratsdörnse steht dafür die große Darstellung des Jüngsten Gerichts, die die Ratsherren an ihre unendliche Rechenschaftspflicht vor Gott erinnert; im Großen Ratssaal ist die Gerichtsdarstellung schon etwas kleiner geraten.

Damit fehlt in Lüneburg noch mehr: Die Prüfung der Frage nach der Beteiligung der Einwohner oder auch nur der „Bürger“. Es fehlt auch die Frage nach den richtigen Institutionen und ihrem Verhältnis zueinander.





Heute brauchen wir für diese Bilder eine Lesehilfe. Die gebildeten Menschen, die die Bilder zur Zeit ihrer Entstehung sahen, konnten sie deuten. Die Lüneburger Patrizier hatten eine umfassende humanistische Bildung / Ausbildung – dazu Hermann Hipp12 –, die sie an verschiedenen deutschen und ausländischen Universitäten erworben hatten. Es ist durchaus möglich, dass einer von ihnen in Siena gewesen war oder solch ein Bild in einer anderen Stadt gesehen hatte und den Maler auf das Motiv aufmerksam gemacht hat. Den „einfachen“ Leuten, die weit überwiegende Mehrheit der Lüneburger, musste man diese Bilder natürlich erklären. Wäre interessant zu wissen, ob man das auch gemacht hat.

Siehe im Anhang den Text von Hermann Hipp S. [*]


Hamburg – von Lüneburg aus gesehen

Wie kann man hier eine Falle vermeiden: Von Lüneburg nach Hamburg, vom Original zur schlechten Kopie?

In Hamburg wird mehrmals tief in die Geschichte zurück gegriffen, aber eher zum Zweck der Erinnerung als dem der Legitimation. Zwar schweben die Heiligen der vier Kirchengemeinden auf den vier Ecken des Hauses, aber man sieht sie kaum, und wer sie sieht, weiß noch längst nicht, was sie bedeuten. Der Rückgriff auf die Antike an der Außenwand des Bürgerschaftssaals ist recht genierlich ausgefallen, man übergeht ihn besser.

Ansgar wurde 831 für Hamburg zum Bischof geweiht, er errichtete eine Taufkapelle. Im großen Festsaal des Rathauses gibt es sehr großes Wandgemälde, das an die Christianisierung Hamburgs erinnert.

Abbildung: Die Taufe Hamburgs
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Schaut man genauer hin, scheint der Bischof ins Leere zu segnen. Niemand steht dort, wo er hinblickt. Da stand allerdings mal ein Täufling, das Knie leicht gebeugt vor dem Bischof. „In diesem Zusammenhang gibt es die Auffassung, dass der dargestellte missionierte Heide von der Rathausbaukommission nicht gewollt gewesen sei, da kein Hamburger vor einem Bischof die Knie beugen würde. Daraufhin habe man Vogel (den Maler; HL) gebeten, diesen zu übermalen.“13

Dieses Rathaus ist nicht dem christlichen Gott unterstellt, der Senat re-präsentiert als Obhut über die Stadt nicht die göttliche Obhut, für die er die Stadt leitet. Wenn auch zur Zeit des Rathausbaues sicher fast 100 % der Hamburger einer christlichen Kirche angehört haben, sofern sie nicht zur jüdischen Gemeinde zählten, – die christliche Ortsgemeinde und die politische Gemeinde sind zwei verschiedene Dinge, die politische Organisation Hamburgs ist nicht mehr die andere, nämlich politische Fassung der christlichen Ortsgemeinden. Beide Gemeinschaften sind voneinander getrennt; jede hat ihre eigenen Aufgaben, die sie nicht als Vollendung der anderen Gemeinschaft begreift.

Die Institutionen trennen sich, es ist ein Schritt auf ein modernes weitgehend säkulares Institutionengefüge.

Die Architektur des Rathauses und sein Baustil sind zusammengeklatscher Historismus14. Aber genau damit geht das Rathaus über seine mittelalterlichen Vorgänger hinaus: Es verweist auf eine Moderne, die sich mit selbst begnügt, sich auch mit sich vergnügt.



Können die Schüler*innen den gesellschaftlichen Fortschritt erkennen, der sich in dieser Bauweise und diesem Dekorationsstil erkennen? Im Allgemeinen wohl nicht. Wäre da nicht die misslungen Taufszene, die den Unterschied etwa zur Lüneburger Ikonografie, zum Weltbild des Lüneburger späten Mittelalters und der frühen Neuzeit geradezu rissartig zeigt.


Das Ahrensburger Rathaus


Die Aussenseite des Ahrensburger Rathauses

Auch heute noch werden Rathäuser gebaut. Auch sie brauchen Sitzungsräume für die Politik und eine Fassade nach außen, die eine bedeutsame Mitteilung macht. Gleich in der Nähe von Hamburg, im Speckgürtel, liegt Ahrensburg, dort ist das Rathaus 1970 gebaut worden, vielleicht typische Nachkriegsmoderne, aber nicht die klare Schlichtheit der Bauhausarchitektur der Provinz, wie man sie in den 1950er Jahren oft sah, sondern in der Art der 1960er Jahre brutalistisch überdreht. – Sechs oder sieben Stockwerke, die ersten beiden Fensterreihen sind Teil eines breiten Fundament, darüber drei Reihen, ganz oben eine Funkstation. Die Stockwerke zeigen Sichtbeton mit Kieseln und darüber Fenster, die wie ohne Rahmen gesetzt scheinen.

Erst 50 Jahre alt. Und doch schwer verständlich, wie aus längst vergangenen Tagen.

Abbildung: Das Ahrensburger Rathaus – Modell
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Abbildung: Das Ahrensburger Rathaus
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Über dem Eingang sind vier Reliefs angebracht, die vier Lebensalter darstellen: Kindheit, Jugendalter – Verliebtheit, Erwachsener – Vater und Mutter, alter Mensch. Nicht nur die unleserliche Art der Darstellung befremdet; ein Mitarbeiter der Hausverwaltung konnte mir nicht erklären, was auf den schwer erkennbaren mittleren Reliefs abgebildet ist. – Vor allem: was haben diese Inhalte mit der Arbeit eines Rathauses, mit Kommunalpolitik zu tun? Irgendwie ist das Rathaus auch für Kinder, Schule, Eltern und Alte zuständig, aber das gilt für die Bundesländer und die Gesamtrepublik auch.

Abbildung: Die Abschnitte des Lebens – Relief am Ahrensburger Rathaus
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Im Inneren des Ahrensburger Rathauses

Abbildung: Die Eingangshalle des Ahrensburger Rathauses
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Abbildung: Sitzungssaal im Ahrensburger Rathaus
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Der Sitzungssaal des Rathauses bezieht seine Dekoration nur aus dem Material der Wandverkleidung und der Oberfläche der Schränke.


Von Lüneburg über Hamburg nach Ahrensburg

Das Ahrensburger Rathaus will, genauso wie das Lüneburger und das Hamburger, ein besonderes Haus in der Stadt sein. Es ist in seiner Höhe und seiner Ausdehnung ein für eine Kleinstadt geradezu mächtiges Gebäude, das einen großen Platz beherrschen will.

Der Bau erinnert an aufgeschichtete Klötze, ohne jeden Schmuck außer unmittelbar über dem Eingang. Es scheint, als habe der Architekt während des Entwurfs Adolf Loos „Ornament und Verbrechen“ gelesen. Der Bau verlangt nach Anerkennung seiner Wichtigkeit, aber er hat nun gar keine Geschichte mehr zu erzählen. Der Fries über dem Eingang verweist nur auf das menschliche Leben selbst, mehr nicht. Selbst die politische Gemeinschaft – das Gemeinwesen Stadt – kommt dort nicht mehr vor. Sie hat sich in der Vielzahl der Würfel versteckt, in den unüberschaubaren Bereichen moderner Verwaltung geschieht überall Wichtiges, mehr muss man aber nicht wissen. Die Schmucklosigkeit lässt die Unübersichtlichkeit der funktionalen Ausdifferenzierungen der modernen Politik und der modernen Verwaltungen verschwinden, schafft also gerade keine Klarheit.



Reicht diese zurückhaltende, gar versteckte politische Symbolik für eine Stadt in der Demokratie aus? Sie will ja nicht nur irgendwie „modern“ sein, sie will ein Lebensraum ihrer Bürgerinnen und Bürger sein, ob jung, mittel oder alt, Demokratie als Lebensform.

Aber vielleicht ist solche Bildersturm-Architektur zu bestimmten Zeiten notwendig, vielleicht wollte man sich in Ahrensburg damit von den Jahrzehnten davor befreien? Vielleicht wird damit Raum geschaffen für eine Gestaltung von Rathäusern, die eine Formensprache der Demokratie entwickeln? – Die Schüler*innen können sich daran versuchen.


Zur didaktischen Struktur


Ausgangslage

Lehrstücken wollen einen kulturell bedeutsamen Schritt nachvollziehen, ob es sich um eine wissenschaftliche Entdeckung, eine technische Erfindung oder um eine kulturelle Neuschöpfung handelt. Sie beginnen mit einer irritierenden Situation, weil man etwas nicht versteht. Man versetzt die Lerngruppe in eine didaktisch modellierte Wiederholung einer ursprünglichen Aufgabe. Ein altes Rathaus taugt nur noch als Museum, es ist sogar abgebrannt, ein neues Rathqus wird gebraucht. Vielleicht ist die Stadt größer geworden, vielleicht haben die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung so sehr zugenommen, dass ein neues Rathaus gebaut werden muss.

Vielleicht ist auch nur das von den Schüler*innen gegründete Dorf größer geworden oder die Verfassungsgeber suchen nach einem Haus.



Man kann im Internet jede Menge an Informationen über Rathäuser finden. Man könnte sie groß in vier große Gruppen einteilen:

  1. Die im Mittelalter gebauten Rathäuser, die im Mittelalter aus einem Gebäudeensemble zusammen gewachsen sind und mit einer Front zum Markt abschließen: Lüneburg, Rostock oder Stralsund.
  2. Die Rathäuser aus späteren Zeiten, die alte Gebäude ersetzen sollen. Sie stehen oft mit einer recht breiten Traufseite zum Markt; diese Seite hat in der Mitte einen Schaugiebel (oder einen Turm) mit Balkon, großem Portal und großer Treppe, oft auch mit einen Bogengang: Hamburg, Hannover oder Boizenburg.
  3. Die erst in den letzten Jahrzehnten und der Gegenwart gebauten Rathäuser, die sich einerseits von den Formen der Tradition absetzen wollen, manchmal jedoch eine besondere gegenwartsbezogene Bedeutung transportieren wollen: Ahrensburg, Uelzen oder Freiburg (Stühlinger).
  4. Das sind jene Rathäuser, die in Gebäuden untergebracht sind, die nicht als Rathäuser geplant waren und später umgewidmet worden sind: Kühlungsborn oder Bad Bevensen.

Die Listen sind noch nicht mal entfernt annähernd vollständig. Einige dieser Häuser habe ich gesehen, andere habe ich im Internet gefunden. Jeder, der hier liest, wird genau „sein“ Rathaus vermissen. Hamburg, Lüneburg und Rathaus sind bei mir nun mal „um die Ecke“.

Man trifft auch auf Seltsames: Gadebusch ist Rom.

Abbildung: Das Wappen des Gadebuscher Rathauses von 1618
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Senatus Pop(ulus)que
Gadebuscensis
1618
In hanc formam
redacta curia est


Senat und Volk
von Gadebusch
1618
In diese Form wurde
das Rathaus versetzt.


Gadebusch als Zentrum eines Weltreiches. So hoch haben noch nicht mal die Lüneburger gegriffen. Hat aber vielleicht seinen noch zu entdeckenden Sinn.



Welche Rathäuser wählt man für sein Lehrstück aus?

Idealerweise sind es drei Häuser:

  1. Ein Rathaus, das die Schüler*innen kennen,
  2. ein Rathaus, das genetisch Erkenntnis ermöglicht,
  3. ein Rathaus, das die Auseinandersetzung einer Stadt und der Architekten mit modernen Herausforderungen zeigt.

Das erste Haus ist schnell gefunden, es steht in der eigenen Stadt gleich am Marktplatz in der Mitte der Stadt, in der die Schüler*innen wohnen, schräg gegenüber von der Stadtkirche – jedenfalls so ähnlich. Auch das moderne Haus ist sicher irgendwo in der Nähe, denn nach dem Krieg reichten die alten Gebäude meist nicht mehr aus, sofern sie überhaupt noch standen; es ist neu gebaut worden.

Aber Häuser, die Einblicke in die Anfangszeit der Rathäuser ermöglichen, dürften selten sein. Und wenn ein schönes mittelalterliches Rathaus halbwegs in der Nähe der Schüler*innen finden ist, ist es womöglich nicht erforscht oder die Forschungsergebnisse sind nicht gut zugänglich. Und dass Lerngruppen in Süddeutschland oder der Schweiz für das Lüneburger Rathaus begeistert werden können, ist durchaus nicht sicher anzunehmen. Es wäre auszuprobieren, ob eine Kombinationen der genetischen Sicht Joachim Ganzerts mit anderen mittelalterlichen Rathäusern möglich ist.



Die Lüneburger Fassade zeigt nichts Lüneburg-Spezifisches, sondern allgemeine Forderungen an die Politik im Mittelalter: Das gemeinsame Leben braucht die Schaffung rechtlicher Regelungen und Verfahren. Das gilt auch heute noch. - Die Hamburger Fassade zeigt nichts Allgemeingültiges, sondern Zeitbedingtes, und das zeigt sie auch noch verspätet. Aber sie zeigt auch Lokales, eine konkrete Aufgabe einer konkreten Stadt. – Wie ist die Ahrensburger Fassade einzuordnen? Man wollte „modern“ sein, in die Zeit passen und für die Zukunft planen. Aber die Zukunft der Energieeinsparung wurde nicht vorher gesehen. Daran arbeitet man in Freiburg.

Die drei Gebäude in Hamburg, Lüneburg und Ahrensburg stehen unter Denkmalschutz. Sie wurden und werden renoviert und haustechnisch immer wieder auf den neuesten Stand gebracht, so weit es möglich ist. Änderungen darf der Bauherr nur den Genehmigung der vernünftigerweise sehr strengen Denkmalschutzbehörden vornehmen.



Wir wollen aber neu bauen. Wir brauchen – das haben wir nebenbei erfahren – ein Haus mit einem größeren Saal für Versammlungen und Feiern, einem kleineren Saal für die Ratsherren / Abgeordneten, vielleicht noch einen kleineren Raum für Sitzungen der Stadtregierung und einem möglichst repräsentativen Amtszimmer des Bürgermeisters, in dem er die wichtigen Gäste aus Berlin, Bern und aus Übersee empfangen kann. – Ein Architekt wird uns das schon zusammenstellen.

Viel wichtiger ist der politische Eindruck, den das Haus machen soll. Wie steht das Haus am wichtigsten Platz der Stadt? Was sehen die Bürger, wenn sie auf das Rathaus zugehen? Welcher Eindruck wird vermittel? Welche Ideen werden ausgedrückt?

Wir lassen uns von den alten Rathäusern, ihren politischen Funktionen und den mit den Gebäuden und ihren Gestaltungen ausgedrückten Regierungsgrundsätzen anregen, wir entwerfen aber für unsere Zeit und unsere Zukunft. Wir nehmen die Arbeiten der vergangenen Generationen und entwerfen, darauf aufbauend, unsere eigene Gegenwart und Zukunft.


Die Lehrstückkomponenten

Susanne Wildhirt hat in ihrer Dissertation acht Lehrstückkomponenten herausgearbeitet15.

Siehe im Anhang den (stark gekürzten) Text von Susanne Wildhirt S. [*].

(1) Reizvolles Phänomen Die Schüler*innen haben die S-Bahn-Station Richtung Rathaus verlassen, stehen auf dem großen leeren Platz „Rathausmarkt“ vor einem großen Haus und fragen, den Polizisten, der dort Wache hält, nach dem Weg zum Rathaus. „Ihr steht unmittelbar davor!“ – „Das hier? Ist das kein Schloss?“ – „Ich dachte, das ist eine Kirche.“ – Auf dem Rathausmarkt hat auch noch nie ein (Wochen-)Markt stattgefunden ...

Die Schüler*innen sehen ein großes, breites Haus, das unten eine breite festungsartige Mauer aus Naturstein hat, nach oben viele Verzierungen und viele Statuten, selbst auf dem Dach schweben noch Engel herum. Den Eingang muss man suchen, nicht sehr, aber auf Anhieb sieht man ihn nicht. Dieses Phänomen ist weniger als reizvoll als irritierend.

Schaffen sie mit dem Lehrer den Weg durch den Eingang, stehen sie in einem Raum, von dem nicht klar ist, ob er schon im Haus ist oder noch vor dem Haus? Dicke Säulen bestimmen diesen Raum und an den beiden entgegengesetzten Seiten sind Treppen zu sehen, die irgendwie in die Höhe des Gebäudes führen.

Dieses Haus erschließt sich Schüler*innen überhaupt nicht. Es ruft noch nicht mal solche Irritationen hervor, die nach Auflösung verlangen. Es ist nur fremd. Aber der Lehrer sagt, dass das Haus ein Rathaus ist und also wichtig. Der Lehrer hat mit einem Abgeordneten eine Führung durch das Haus vereinbart. Die Schüler*innen bekommen Einblick in die Räume von Senat und Bürgerschaft, erfahren dabei auch etwas über die wichtigen Einrichtungen des Bundeslandes und der kommunalen Gemeinde Hamburg.

Das Haus „Rathaus“ ist also wichtig für das Leben der Menschen in Hamburg, aber warum sieht es so seltsam aus?



(2) Organisierende Sogfrage Was ist also ein „Rathaus“? Das Hamburger Rathaus allein lässt das nicht erkennen. Man muss „tiefer“ fragen: in Deutschland und ähnlichen Ländern gibt es Rathäuser seit Jahrhunderten, vielleicht schon seit tausend Jahren. Da muss es also einen Grund geben, wenn man überall in den Ländern des christlichen Mittelalters solche Gebäude errichtet hat, meist in der Mitte der Stadt und obendrein besonders geschmückt.

Das Lehrstück muss rückwärts schreiten: Was ist ein Rathaus an und für sich? In Hamburg hat man Glück: In Lüneburg, mit der Eisenbahn nicht weit weg, ist vor 20 Jahren das Rathaus bis hin zu seinem alleranfänglichsten Anfang ausgegraben worden, um seine Entwicklung bis zur Gegenwart rekonstruieren zu können. Das betrifft nicht nur das Gebäude „Rathaus“, sondern auch die Ausbildung von Fassaden und die Verzierungen durch Statuen und Gemälde, in denen der Sinn des Hauses für die in ihm Handelnden und für die Menschen in der Stadt zum Ausdruck kommt. So wird ein Einblick in eine andere Welt gewonnen, die doch die unsere ist, denn unsere Welt ist aus diesem Mittelalter hervorgegangen. Es gibt große Unterschiede, aber eben auch Kontinuität, und die Rathäuser verkörpern diese Kontinuität vielleicht noch mehr als die viel mehr beachteten großen Kirchengebäude: Aus der Kirche treten viele aus, vom Rathaus und seinem Gemeinwesen bleibt jeder umfasst.

Also muss der Weg vom Anfang wieder in die Gegenwart gegangen werden: Was soll uns ein Rathaus heute sein? Wie soll es sich selbst und unsere Zeit für uns heute ausdrücken?



(3) Ich-Wir-Balance Ein Rathaus-Lehrstück holt die Erfindung eines örtlichen Rahmens – in Architektur, Institutionen und Ästhetik – von Politik in das Klassenzimmer und lässt nacherfinden und wieder und neu zu konstruieren. Den Schüler*innen muss (mindestens) Gelegenheit gegeben, ihr eigenes Verhältnis zum Thema „Rathaus“ durch eigene Entwürfe zum Ausdruck zu bringen.



(4) (Aus einer Urszene) dynamisch entfaltete Handlung Die Urszene für den Bau eines Rathauses könnte sein, wenn man Ganzert folgt: An einem verkehrsgünstigen Ort steht eine Kapelle für die Bewohner einer kleinen Siedlung. Dort treffen regelmäßig Fernhändler ein. Es wird gehandelt und also auch gestritten. Nach dem Gottesdienst sitzen die wichtigen Männer noch eine Stunde vor der Kapelle, um die Probleme und Streitigkeiten mit den Händlern und auch zwischen den Einwohnern zu besprechen und vielleicht Entscheidungen zu treffen.

Die Händler brachten ihre eigenen Maße und Gewichte mit, das führte zu Missverständnissen und zu Streit. Es gibt Verbrechen, man muss sich darum kümmern, schon wegen der Rechtssicherheit und des inneren Friedens. Aber welches Recht sollte gelten? Das Recht des Landesherren oder das, was am Ort beschlossen wird?

Orte des Vertrauens mussten geschaffen werden: Eine Ratswaage, die den Maßstab der Genauigkeit setzt, eine Ratsapotheke, damit die Kranken auch mit heilende Medizin versorgt wurden, oder ein Ratskeller, damit der Unterschied zwischen trinkbarem Wein und giftigem Fusel deutlich wurde. Heute würde man das Verbraucherschutz nennen.

15 Jahre später braucht man einen Schrank in einem Raum, in dem die Entscheidungen archiviert sind. Für den Handel hatte man schon ein eigenes Haus neben der Kapelle gebaut, dort kommt das Archiv hinein. Bald wird ein Haus gebraucht, in dem es einen kleinen Saal für die Sitzungen der wichtigen Männer eingerichtet wird. Das Archiv zieht um; ein Arbeitszimmer für den wichtigsten Mann, den Bürgermeister, wird eingerichtet.

Man musste sich auch um die Bildung des Nachwuchses kümmern: Eine Stadt kann nur leiten, wer die große Literatur und die (damalige) Welt kannte.

Man könnte eine Verhandlungs- und Entscheidungssituation im Klassenzimmer organisieren: Unklarheiten und Betrug beim Handel, Diebstahl in der Nachbarschaft. (Beachten: Zwischen gestaltender Politik und Rechtsprechung wurde damals nicht unterschieden.)

Aber darf die Stadt alles, was sie tut? Begründungen der höheren Art müssen her, die christliche Religion allein ist nicht umfassend genug, sie hat keine Lehre vom richtigen Staat, der richtigen Politik und der richtigen Rechtsprechung. Es muss weiter auch in die Welt der heidnischen Antike zurück gegriffen werden. Ein sehr eigenes Weltbild mit seinem eigenen ästhetischen Ausdruck wird herausgebildet.

Bei aller Kontinuität: Wir leben in Zeiten, in denen Kirche und Religion für die Politik immer weniger bedeuten, eine religiöse Legitimation des Staates wird kaum noch verlangt und hat in der Ästhetik dieses Gebäudes kaum einen Platz. Statt dessen müsste die Demokratie durch das Haus und seinen Schmuck ausgedrückt werden, seine Technik müsste auf die ökologischen Herausforderungen reagieren. Ein heute nicht mehr befriedigender Entwurf ist das Rathaus von Ahrensburg.



(5) Originäre Vorlage Die Forschungen zum Lüneburger Rathaus und ihre Darstellung durch Joachim Ganzert sind nicht nur die fachliche Grundlage des Lehrstücks, sie geben zugleich die wesentlichen Anregungen zu seiner Entwicklungslogik.



(6) Kategoriale Aufschluss Auch hier sind die Arbeiten von Joachim Ganzert und seinen Mitarbeitern leitend: Was ist ein Rathaus an sich und überhaupt – Das Rathaus und die Frage der Legitimation von Ordnung und Herrschaft. Was bedeutet seine ästhetische Gestaltung? Was sagen die Fassaden, die Statuen und Gemälde? (Noch unvollständig; HL)



(7) Werkschaffende Tätigkeit Ein neues Rathaus? Oder eine Umgestaltung? Eine Ergänzung?

Jedenfalls müssen Demokratie und Ökologie in einem neuen Gebäudentwurf zum Ausdruck kommen. Und sei es auch nur ein Bündel von Renovierungsmaßnahmen.



(8) Grundorientierendes Denkbild Eine grafische Darstellung des Denk- und Arbeitsprozesses, vielleicht so, dass es den Weg vom Hamburger Rathaus über das Lüneburger Rathaus zum eigenen Rathausentwurf darstellt.

Abbildung: Grundorientierendes Denkbild
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Die Trias der Lehrkunstdidaktik

So lässt sich das vorliegende Lehrstück beschreiben:

  1. Exemplarisch: Die Schüler*innen werden mit einem Gegenstand konfrontiert, den irgendwie jeder kennt und schnell erklären zu können meint. Ein Rathaus ist jenes Gebäude, in dem der Bürgermeister amtiert und die so lästige Verwaltung sitzt. Eine erste Begegnung zeigt jedoch vor allem ein seltsam gestaltetes Gebäude, irgendwie prächtig, etwas Besonderes sein wollend. Schaut man näher hin, löst sich seine Gestaltung in viele Einzelheiten auf, deren Deutung spontan nicht gelingt und die einen geheimnisvollen Zusammenhang ergeben. Aber vielleicht ergeben sich von ihm her Verweise auf die Stadt, in der es steht, auf die Politik und die Gesellschaft der damaligen und der heutigen Zeit, auf damalige und heutige Weltanschauungen, auf Recht und Rechtsprechung, auf die Geschichte der Bildung, der Religion und der politischen Philosophie und auf die heutigen Aufgaben moderner Politik und Verwaltung. Und, nicht am Schluss, wird die näherer Heimat erschlossen.
  2. Genetisch: Das Hamburger Rathaus kann zwar zeigen, was in einem Rathaus heute geschieht, aber nicht, was ein Rathaus „ist“, wie die Menschen überhaupt auf die Idee gekommen sind, Rathäuser zu bauen. Man muss zurück an den Anfang im hohen Mittelalter. Das Rathaus ist eine Ausgliederung aus der Taufkapelle, die für Handel und Recht gebraucht wird. Daraus entstand ein Gebäudesystem, das eine besondere Architektur bekam. Im Inneren zeigte es den Ort der Stadt in der Heilsgeschichte und seine grundlegenden politischen Aufgaben, nach außen zeigt es die prächtige Verankerung der Stadt in der großen Ordnung der Welt und des Rechts. – Aber diese Verankerung löst sich, die religiöse Vielfalt muss berücksichtigt werden, der gesellschaftliche und politische Pluralismus weitet sich bis in die Unübersichtlichkeit, nur noch da elementare Leben selbst wird mit dem Rathaus ausgedrückt, obwohl im Rathaus an der Bewältigung und Ausgestaltung genau dieser Vielfalt gearbeitet wird.
  3. Dramaturgisch: Das Besondere, das das Rathaus von den anderen Gebäuden der Stadt unterscheidet, will sich so schnell nicht zeigen. Der Rückgang auf den Anfang ist erforderlich. – Hm, das ist noch keine dramaturgische Gestaltung. – Irgendwas muss ausgehandelt, gestaltet werden, das genau das bis jetzt Unerkannte, Ungeschaffene überwindet. Vielleicht am Anfang der Ausgründung des Rathauses aus der Kapelle?

Aber diese Trias muss je nach heimatlicher Gegend und je nach politischen Herausforderungen, die ausgedrückt werden sollen, anders gestaltet werden. Gegenwärtig sind die repräsentativen Teile von Rathäusern, die kein ökologisches Programm ausdrücken, schwer denkbar und politisch kaum zu vermitteln.


Das Rathaus und die kategoriale Bildung

Abbildung: Das Rathaus-Lehrstück und die kategoriale Bildung (nach Klafki)
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Erläuterungen zur kategorialen Bildung (nach Klafki):

  1. Fundamentale und elementare Kategorialbildung = Kategorialbildung wird überfachlich erweitert und betrifft Grundfragen und Grundlagen von Mensch und Welt,
  2. Kategorialbildung als wechselseitige Erschließung von Mensch und Welt = Am Exempel bilden sich zunächst exemplarische Denkfiguren, Paradigmata und Inbilder aus und sodann fachliche Grund- und Leitbegriffe, eben Kategorien

Abbildung: Inhaltliche Bezüge eines Rathauses – Thematische Landkarte
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Die Phasen des Unterrichtsvorhabens

Zuerst sollte eine Notwendigkeit entstehen, dass die Schüler*innen sich mit dem Gegenstand „Rathaus“ beschäftigen. Es kann aus der Heimatkunde gehen oder einem Bemühen um das grundlegende Verständnis von Staat, Demokratie, Kommunalpolitik und / oder Verfassung. Es geht in diesem Vorschlag, wie schon gesagt, um Schüler aus Hamburg. Also geht es um das Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg, zum Vergleich und zum tieferen (= genetischen) Verständnis werden das alte Rathaus in Lüneburg und das neue Rathaus in Ahrensburg heran gezogen.

  1. Das Hamburger Rathaus: Analyse der Fassade als politisches Programm – Irritation
  2. Blick nach Lüneburg:
    1. Ach, so waren Fassaden in den alten Zeiten gemeint!
    2. Rückgang von der Fassade zur Baugeschichte und zum Wesen von „Rathaus“.
    3. Die Respublica – Von der Aufgabe der Stadt
  3. Blick nach Ahrensburg: Noch eine unverständliche Fassade
  4. Entwurf einer Fassade oder vielleicht gar eines ganzen Rathauses für die eigene Stadt, die eigene Polis mit Dokumentation und Begründung

Seitenblicke auf die Innenräume der Rathäuser zeigen, wozu man praktisch-politisch ein Rathaus in der Gemeinde benötigt. Damit wird der eigene Entwurf inhaltlich gefüllter.

Aber dieser Ablauf ist, wie schon gesagt, je nach Gegend in der die Schüler*innen wohnen, zu modifizieren.



Dieses Unterrichtsvorhaben lässt sich am besten in einer Projektwoche verwirklichen. Ein Tag wird mit dem HVV in der Hamburger Innenstadt verbracht, das Rathaus wird von außen und möglichst auch von innen besichtigt; am nächsten Tag geht es per Bahn nach Lüneburg, dort ist eine Besichtigung gebucht; für den Besuch in Ahrensburg sollte man Kontakt mit der Hausverwaltung aufnehmen, geführte Besichtigungen gibt es dort nicht. Und an den nächsten beiden Tagen werden die Besuche in der Schule erst ausgewertet und dann wird ein eigener Entwurf erstellt. – Das Handy ist zum Fotografieren immer dabei, das Internet liefert auch schnell zusätzliche gewünschte / erforderliche Informationen.

Eine Schrumpffassung müsste sich damit begnügen, die Fassade des Hamburger Rathauses anzuschauen und, wenn man schon mal da ist, auch die Diele und den Hygeia-Brunnen, die Innenräume und die Rathäuser in Lüneburg per Dia-Vortrag mit einem Beamer in den Klassenraum zu bringen. Das wäre eine Frage der Gestaltung und der Begeisterung des Lehrers für die Sache.



Jedes Rathaus ist anders. Ein heimatkundlicher Unterricht hat natürlich das heimatliche Rathaus zum Gegenstand, er kann aber auch weitere Rathäuser aus der Umgebung hinzunehmen. Das wichtigste Haus müsste von den Schülern betreten und mit Erklärungen kundig besichtigt werden können. Dieser Unterrichtsvorschlag soll noch nicht einmal ein Muster sein, er mag für Kollegen eine Orientierungshilfe bei der Planung und Durchführung sein.

Wer nicht mit seiner Lerngruppe nach Lüneburg kann, findet vielleicht in seiner Umgebung ein Rathaus, das auf das Mittelalter zurück geht.

Es wäre auch möglich, Rathäuser aus fernen Gegenden mit einzubeziehen. „Kunst am Bau“ oder auch Kunst im Bau war in der DDR gesetzlich vorgesehen. Wie in den Rathäusern des Mittelalters ging es um die „höhere“ Legitimation des Hauses. Hat die DDR Rathäuser neu gebaut? Da gibt es noch ein weites Feld.



Kategorien der Analyse eines Rathauses, die in Forschungs- und Schülerfragen umgewandelt werden können:

Abbildung: Zur Analyse eines Rathauses
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  1. Außen (Turm, Fassade, Treppe, Balkon, Portal, Treppe)
  2. Innen (Festsaal Ratssaal Amtszimmer des Bürgermeisters, Arbeitsräume der Verwaltung, Archive)
  3. Bauart (Ensemble von Gebäude, einzelnes Gebäude, Baustil und Architektur)
  4. Ausstattung (Statuen, Reliefs, Gemälde, Wandmalerei, Glasfenster, Schnitzereien)
  5. Re-Präsentanz (Gott, Gottes Herrschaft, Gottes Heilsgeschichte, Gottes Gesetz, Gottes Gebot)
  6. Souveränität (Fürst – Landesherr, Patriziat, Bürger, Volk)
  7. Politische Ordnung - heute (Wahlen, Parteien und Wählergemeinschaften)
  8. Institutionen (Rat, Bürgermeister, Stadtdirektor)
  9. Öffentlichkeit (Lokalzeitungen, Verbände, Vereine, Kirchen)



Diese Kategorien können auch in Entwurfsaufgaben umgewandelt werden, beispielsweise:

  1. Eine äußere Gestalt, die die besondere Bedeutung des Hauses nach außen hervorhebt und eine besondere Botschaft vermittelt,
  2. eine innere Gestaltung als Ort des demokratischen Austausches und der demokratischen Entscheidung zeigt, jedoch unter den Bedingungen der gegenwärtigen ökologischen Herausforderungen,
  3. eine Bauart, die den gegenwärtigen Herausforderungen gewachsen ist, darin Vorbild für ihre Bürger,
  4. eine Ausstattung mit „Kunst am Bau“: Demokratie und ökologische Herausforderung,
  5. diese Herausforderungen repräsentierend und legitimierend,
  6. die demokratische Souveränität der Bürger – des Volkes,
  7. darin auch die Grundzüge der politischen Ordnung darstellend,
  8. den Institutionen Möglichkeiten zur Arbeit und zur Selbstdarstellung geben,
  9. und Zugangsmöglichkeiten für das gesellschaftliche Leben schaffen.

Abbildung: Zum Entwurf eines Rathauses
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Anhang


Joachim Ganzert – Was ist ein „Rathaus“?

Die Errichtung/Einrichtung des Consistoriums mag nun den Eindruck der entscheidenden Herausbildung gewissermaßen der eigentlichen Urzelle des Rathauses erwecken, scheint damit doch das vermeintlich wichtigste Element eines Rathauses, nämlich ein Versammlungsort für den Rat, geschaffen. Diese allzu einleuchtende Vorstellung sozusagen von einem Rathaus-, Kernbau' soll in diesem Exkurs durch eine weniger pauschale Sicht auf die „Rathaus“-Genese und die Beantwortung der Frage „Was ist ein Rathaus?“ ersetzt werden. ...

Würde man unter „Rathaus“ also lediglich ein Haus verstehen, das einen Saal (oder Versammlungsraum wie z.B. das Consistorium und eine Schreibstube beinhaltet, ... so wäre dies natürlich ergänzungsbedürftig insofern, als es bei einem Rathaus ja eben nicht nur um „Räume“ geht. Unabhängig aber davon, wie dies letztlich gemeint war, sind mit „Saal“ und „Schreibstube“ durchaus Räumlichkeiten benannt, die zu einem Rathaus schlechthin natürlich dazu gehörten bzw. dazu gehören; doch damit wäre es noch kein Rathaus.

Versuchen wir dies am Beispiel einer „Ratsapotheke“ zu veranschaulichen, was ja mehr als nur „Apotheke“ bezeichnete, nämlich eine Apotheke unter der Obhut des Rates, womit Herstellung und Verteilung von „Heil-“ und nicht von „Unheilmitteln“ gewährleistet werden sollten. Mit „Rat“ war hier also in erster Linie eine Instanz der Obhut (hinsichtlich Rechten und Pflichten), der Gewährleistung von Gemeinwesensfürsorge angesprochen. Dementsprechend bezeichnet „Rathaus“ zwar auch ein Haus unter der Obhut des Rates, darüber hinaus aber vor allem und in erster Linie ein Haus der „Ratsobhut“ als öffentliche Instanz. Da „Obhut“ Anwendung von Recht und Ausübung von Herrschaft bedeutete und sie vor Eigennutz und Eigenmächtigkeit, also vor Missbrauch geschützt und damit ebenfalls unter „Obhut“ gestellt sein musste (damit das Rathaus, ähnlich der Apotheke, für „Heilsherrschaft“ und nicht – sozusagen – für „Unheilsherrschaft“ bürgte), konnte die Ratsobhut ja nun nicht unter ihrer eigenen, nämlich des Rates Obhut stehen – das wäre ein Zirkelschluss und damit wertlos gewesen. Deshalb bedurfte es einer weiteren Instanz, nämlich gewissermaßen einer „*Ob*-Obhut“, und darunter verstand man: „göttliche / himmlische Obhut“ als nichtirdische „Richt-Instanz“. Dieses transzendentale Dimensionieren folgt einem prinzipiell universalen Bewusstseins- und Anspruchsniveau, dessen Anliegen eine entsprechende Referenz- und Gewährleistungstiefe sowie Verwirklichungsernsthaftigkeit hinsichtlich Ratsobhut ist. ... Nur durch solch „heilige“ Rechtfertigung seines an besagten Richt-Idealen gemessenen Heilsherrschaftshandelns („Ratsobhut“) gegenüber der nichtirdischen Instanz („Ob-Obhut“) also konnte der Rat Legitimation gewinnen; ...

Höchste Gerechtigkeit verband man seit je mit göttlicher Herrschaft, ja, sie war dadurch per definitionem gekennzeichnet. Und sie als „Heilsherrschaft“ auf Erden zu verwirklichen, sie zu vergegenwärtigen, war „heilige“ Pflicht „sakraler Herrschaft“. ... Der Herrscher hatte „Ver-Gegenwärtiger“, also „Re-Präsentant“ göttlicher Heilsherrschaft: zu sein und sich mit ihrer Gewährleistung zu rechtfertigen. ... Nur durch Eingliederung in den überlieferten „heilsgeschichtlichen Rechtfertigungszusammenhang“, nämlich durch tradiert-ritualisierte Verpflichtung zu bindender „Stellvertretung/Vergegenwärtigung göttlicher Heilsherrschaft“ ließ sich der überkommene Geltungsanspruch einlösen. ...

Der Beispiele, auf die man sich dabei immer wieder beschwörend bezog bzw. zu beziehen hatte, gab es viele – ob zurecht oder nicht, sei dahingestellt, denn es ging weniger um historische Korrektheit (was immer das auch heißen mag), als um erneuert wahrgenommene, aktualisiert-interpretierte Ideale und deren Deklaration als solche: Sowohl Könige und Kaiser der heidnischen Antike, als auch das nicht nur jüdisch-christliche, sondern auch in anderen Religionen/Konfessionen als Beispiel par excellence geltende Vorbild für einen gerechten König, nämlich Salomo, kamen dabei in Frage. Hinsichtlich Rechtsprechung galt das Beispiel der Salomonischen Rechtsprechung als ein stets in Erinnerung gebrachtes, unbestrittenes Ideal und die Verpflichtung zu beständig neuer Bindung an dieses Ideal und seine Verwirklichung gab dem Rechtsprechenden die nötige Legitimation ... .

Durch die verbindliche, d.h. der „*Ob*-Obhut“ heilig verpflichtete Festlegung auf „Heilsherrschaft“ und damit auf Verbürgung von gerechter Obrigkeit und gelingendem Gemeinwesen wurde der qualitativ-zentrale Sprung von (irgend)einer sich nur beratenden Personengruppe zu einem „re-präsentierenden, d.h. ver-gegenwärtigenden Rat“ garantiert und stellte auch in Lüneburg —- verglichen z.B. mit einem Kristallisationsprozess -— den essentiellen „Kristallkern“ dar, dem dann „Kristalle“ entwachsen konnten. Und „Kristalle“ heißt dann eben architektonische Manifestationen, z.B. in Form von Bauten mit Funktionen, die unter legitimierter Ratsobhut standen; ... Ob sich dabei schon irgendetwas tatsächlich architektonisch manifestierte, war durchaus fallabhängig und nicht von primärer Wichtigkeit. Unter Umständen war also eine garantiert funktionierende (weil unter Ratsobhut stehende) „Waage“ oder eine verlässliche (weil unter Ratsobhut stehende) „Zeitanzeige“, eine Uhr an einem bestehenden Turm zum Beispiel (wie in Lüneburg) oder andere Funktionsbauten zunächst einmal wichtiger als ein Rathaus als Einzelgebäude an sich; denn auch die unter Ratsobhut stehenden Funktionsgebäude müssen als Teile des „Rathauses“ angesehen werden. Wirklich entscheidend war, dass die Ratsobhut keine behauptete oder angemaßte war, sondern eine nicht nur innerweltlich ge- und versicherte Instanz.

Dem Beispiel „Kristallisationsprozess“ entsprechend ließe sich also das früheste Stadium der Genese eines Rathauses mit der Bildung des „Kristallkerns“ in einer heranreifenden und dann „gesättigten Atmosphäre“ vergleichen. Als ein Beitrag zu Entstehung und Reifeprozess einer solchen Atmosphäre trug natürlich die Herausbildung eines „Rates“ bei (doch dies musste sich erst einmal vollziehen). ... Das lässt sich in etwa mit der Situation der „frühchristlichen Kirche“ vergleichen, die sich überall dort bildete und präsent war, wo „zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen“ (Matthäus 18, 20), also unter der *Ob*hut Christi in diesem Fall. Solcher Begriff von „Versammlung/ ecclesia Kirche“ bedurfte keiner eigenen architektonischen Manifestation. Und so kann sich der Rat an welchem Ort auch immer versammelt haben, sofern er vorher, z.B. in einer Kirche/Kapelle im Rahmen einer/s Andacht/Gottesdienstes, seine Vergegenwärtigungslegitimation erneuert hatte. Die eindeutige und ausgeübte Bindung an das himmlisch-göttliche Herrschafts- und Gerechtigkeitsideal bildete die Basis für eine jegliche Rathaus-Genese und -Zukunft. Insoweit teilte sich ein „Rathaus“ durchaus auf mehrere Gebäude auf, ja, eigentlich ging die Bedeutung „Rathaus“ eben stets über nur ein Gebäude hinaus, denn es stand ja gewissermaßen für die ganze Stadt; und dies bildete sich im „Rathaus“ als „Rat-/Häuser-Komplexbau“ und als „Wirkungsaggregat' ab.

Wenn die „Atmosphäre“ — um beim Beispiel des Kristallisationsprozesses zu bleiben — dann so gesättigt war, dass sich Bauliches in Form einer eigenständigen Rathaus-Instanz „herauskristallisieren“ konnte bzw. „herauskristallisiert“ hatte, dann hatte es mindestens vier Grundfunktionen zu erfüllen, die – zwar formal durchaus unterschiedlich, prinzipiell aber analog – in Architektur und Ausstattung entsprechend zum Ausdruck kamen:

  1. Haus der „Instanz der Unter-Obhut-Stellung der Ratsobhut“, womit sie zu einer Gewährleistungsschutz bietenden Instanz für Heilsherrschaftshandeln wurde und nur durch solch gebundenes Handeln Legitimation gewinnen konnte.
  2. Haus der „Instanz der Ratsobhut“.
  3. Haus angemessenen Auftretens (In-Erscheinung-Tretens) dieser legitimierten Instanz vor der Öffentlichkeit und der Vermittlung ihres Heilsherrschaftshandelns.
  4. Haus des Rates und unter Obhut des Rates.

Erst diese vier nicht zu trennenden Qualitäten und Funktionen machten ein Gebäude bzw. Gebäude-Ensemble zu einem Rathaus, zu einem Instanzen-Aggregat, dessen Saal deshalb nicht nur ein einfacher Versammlungssaal, sondern ein auf die ange­sprochenen Legitimations- und Herrschaftsideale bezogener, d.h. an sie appellierender, ja, sie beschwörender und sie (semi-)sakral vergegenwärtigender sowie ermöglichender Raum zu sein hatte. Entweder dieser oder ein zusätzlicher Raum bzw Bereich musste zudem für Rechtsprechung/-verkündung vorgesehen und architektonisch ähnlich legitimierend gestaltet bzw ausgestattet gewesen sein wie der Saal. Da Rechtsprechung an Öffentlichkeit gebunden war, gab es dafür häufig ein eigenes Richthaus (mit Laube) oder zumindest eine Laube, die sich als halboffener Raum für einen Vermittlungsbereich zwischen Richtenden und Öffentlichkeit eignete; natürlich konnte sie auch für andere Vermittlungsbelange genutzt werden.


Maike G. Haupt – Die Respublica

Das dritte, 1578 datierte Gemälde der Südwand zeigt vor der Lüneburger Stadtansicht vier Allegorien, die mit »RES PVBLICA«, »PAX«, »IVSTITIA« und »CON-CORDIA« bezeichnet sind. Es handelt sich bei dem Bild somit um eine Allegorie der guten Regierung. In der Mitte des Bildes steht ein hoher Thron, auf dem Respublica mit der in ihrem Schoß schlafenden Pax, die in der Hand einen Ölzweig hält, sitzt. Über ihnen befindet sich eine Taube und die Inschrift »DA PACEM DNE IN DIEB9 NOSTRIS«. Darüber erscheint Gottvater mit Zepter und Reichsapfel in den Wolken. Dort schweben außerdem vier Posaune blasende Putten, von denen zwei an ihrem Instrument eine Fahne mit dem Stadtwappen Lüneburgs sowie des Fürstentums Lüneburg angebracht haben. Auf der rechten Seite des Thrones steht Justitia mit der Waage in der erhobenen linken Hand und dem Schwert in der rechten. Sie trägt ein zeitgenössisches Gewand und eine Krone. Hinter der Gestalt ist in einer offenen Arkade eine Ratssitzung unter einer Darstellung eines »Jüngsten Gerichts«, dem Lüneburger Stadtwappen sowie der Luna-Statue zu sehen. Offensichtlich wird mit dieser Szene auf die Abhaltung des Niedergerichts an der nordwestlichen Ecke der Ostfassade des Rathauses Bezug genommen. Gegenüber der Justitia, an der linken Seite der Respublica, befindet sich die Gestalt der Concordia, die mit einem antiken Gewand bekleidet ist und vor einem Bienenkorb steht. Sie trägt in der rechten Hand ein hölzernes Gefäß. Hinter ihr erblickt man in dem Erker eines Gebäudes vier männliche Gestalten. Zu diesen blickt eine Menge schwarzgekleideter Bürger empor. Diese Darstellung wird durch einen Bibelspruch aus dem Psalter erläutert: »Ah das ich hören solt das Gott der HERR redet das er Friede zusagte seinem Volck das in unserm Lande Ehre wone. Das Gute und Trewe einander begegnen Gerech=/tigkeit und Friede sich küssen. Das Trew auff der Erden wachse und Gerechtigkeit vom Himel schauwe. Das was auch der HERR gutes thue Damit unser/Land sein gewechs gebe. Das Gerechtigkeit dennoch für im bleibe Und im Schwung gehe. Psalm. LXXXV.« ...

Im Unterschied dazu nehmen in dem Gemälde Daniel Freses in der Großen Ratsstube Respublica und Pax das Zentrum des Bildes ein. Die im Schoß der Respublica schlafende Pax symbolisiert das zentrale Anliegen einer guten Regierung: Die Sicherung und Erhaltung des Friedens, die seit der Antike als wichtigste Aufgabe des Staates galt. Nach Cicero, der den Frieden als Voraussetzung für die Gerechtigkeit eines Staates betrachtet, spricht auch Augustin in seinem Werk »De Civitate Dei« von dem Frieden als dem »summum bonum«. Diesen Frieden erlange ein Christ allerdings erst im Jenseits, nachdem er sich durch alle Nöte des Erdenlebens hindurch bewährt habe. Einen Teil dieses Friedens könne der Mensch jedoch auf der Erde, in der »civitas terena« erreichen. Demzufolge bestand für Augustin die oberste Aufgabe des irdischen Staates in der Friedenssicherung. An die Stelle der Macht setzte er den Frieden als Staatszweck. Die große Bedeutung des Friedens für einen Regenten wird auch im 16. Jahrhundert besonders hervorgehoben, wie etwa in Georg Lauterbecks »Regentenbuch«, in welchem der Autor den Frieden im zweiten Buch behandelt. Der auf dem Gemälde durch die schlafende Allegorie der Pax dargestellte Aspekt des Friedens wird zusätzlich durch den Satz »DA PACEM DOMINE IN DIEBUS NOSTRIS«, der über den Allegorien zu lesen ist, bekräftigt. Die Bildunterschrift aus dem Psalter (85,9-14) stellt die Beziehung der Pax zu der rechts neben ihr stehenden Justitia her. In ihr kommt die Lehre von der Bindung des Friedens an die Gerechtigkeit deutlich zum Ausdruck. In der christlichen Auslegung des Psalms durch Augustin wird die Gerechtigkeit als Voraussetzung für den Frieden besonders betont. Die Verbindung zwischen der Gerechtigkeit und der Respublica wird in dem Rechtsbuch Justinus Goblers, dem »Spiegel der Rechten«, erläutert: »Dieweil dan die beide/Regierung unnd Gerechtigkeyt/beieinander seindt/und von einander nicht abgesondert werden sollen/Auch die Regierung on die Gerechtigeyt nit bestehen/f.. .].« Die Gerechtigkeit bildet demzufolge die Voraussetzung sowohl für den Frieden als auch für die Existenz einer Regierung. Als höchste aller Tugenden836 steht sie in königlichem Gewand für die städtische Rechtsprechung. Hinter ihr ist der Lüneburger Rat während einer seiner Sitzungen in einer offenen Arkadenhalle – vermutlich dem Niedergericht an der Ostfassade des Rathauses – unter einem »Jüngsten Gericht« dargestellt, um seiner Aufgabe, der Friedenssicherung einerseits und der Wahrung von Recht und Gerechtigkeit andererseits, nachzukommen.

Ebenso wie Pax und Justitia war die auf der anderen Seite der Respublica und Pax sich befindende Concordia bereits in der Antike mit dem Frieden eines Staates in Verbindung gebracht worden. So bedeutete für Cicero der Friede die aus der Einsicht in das Vernünftige und Nützliche geborene Eintracht (concordia). In seiner Schrift »De re publica« betont er, das es nichts Unveränderlicheres, nichts Festeres als ein Volk gäbe, daß einträchtig sei und alles aus seiner Unversehrtheit und seiner Freiheit beziehe. Augustin sieht den Frieden unter Menschen im Zusammenhang mit der geordneten Eintracht untereinander und den Frieden des Staates in der geordneten Eintracht der Bürger durch das wechselseitige Befehlen und Gehorchen. In diesem Sinne ist hinter der Concordia die Lüneburger Bürgerschaft während einer Bursprake abgebildet. Daß die Bürger als Untertanen ihrer Obrigkeit zu Gehorsam verpflichtet seien, betonte Martin Luther 1523 in seiner Schrift: »Von weltlicher Obrigkeit und wie man ihr Gehorsam schuldig sei«. Durch ihre Attribute, das hölzerne Gefäß (wohl ein Kornmaß) und der Bienenkorb, symbolisiert die Concordia, daß sie einer guten Regierung und ihren Untertanen zu Wohlstand verhilft. Dieser Gedanke ist deutlicher aus dem von Daniel Frese als Motivvorlage benutzten Holzschnitt ablesbar, auf dem Concordia ein Geldbeutel beigegeben ist, der gleichzeitig einen Bienenkorb darstellt. Der Gedanke, daß die Concordia zu besserem Einkommen verhelfe, findet sich ebenfalls in dem »Spiegel der Rechten« des Justinus Goblen »[...] einigkeyt zwischen den einwohnern/damit zu besserer narung [..,].« Die von Antje Schmitt geäußerte Vermutung, es habe sich bei der von Daniel Frese benutzten graphischen Vorlage möglicherweise um ein »emblem for peace within the Protestant environment« gehandelt, dessen ikonographisches Schema durch »changing the back drop and renewing some of the actors« der jeweiligen Betonung einer Darstellung angepaßt werden konnte, könnte das gleichzeitige Auftreten dieses Motivs auf zwei Lüneburger Kaminfriesen erklären.

Deutlicher als auf den übrigen Gemälden stellt sich die Lüneburger Obrigkeit in der Allegorie des guten Regiments in ihren zwei für den Frieden der Stadt notwendigen Bereichen dar. Während einerseits die Rechtsspflege durch die Justitia und die Ratsversammlung verkörpert wird, stellen die Tugendallegorie der Concordia und die Abhaltung der Bursprake die Eintracht zwischen der städtischen Obrigkeit und den Bürgern dar. Der Bezug zu der Stadt Lüneburg wird dabei einerseits durch die Stadtansicht im Hintergrund hergestellt, andererseits durch die Darstellung der Orte, an denen diese städtischen Rechtsbelange stattfinden, die jeder Betrachter sicherlich auf den ersten Blick erkannt haben wird. Diese beiden zusammenhängenden Belange sind zudem im Rahmen der Aufgaben einer weltlichen Obrigkeit nach Martin Luther zu verstehen. Dieser sah sowohl die Friedenssicherung als zentrales Anliegen einer weltlichen Obrigkeit an als auch deren gerechte Rechtsprechung und deren Bemühen um die Eintracht der Bürger. Der protestantischen Gesinnung des Rates gemäß ist auch auf diesem Bild Gottvater in den Wolken dargestellt, der oberhalb der Taube des Heiligen Geistes angeordnet auf die vier Tugendallegorien hinunterblickt, die gemeinsam das gute Regiment bilden.


Dagmar Schmidt – Über die Gute und die Schlechte Regierung

Vor uns erhebt sich das Kernstück der politischen Allegorie Lorenzettis. Auf einem Podium thront in fürstlicher Pose ein Regent, der durch seine Körpergrösse alles, was ihn umgibt, überragt. Er ist edel gekleidet in Schwarz und Weiss – den Farben der Kommune von Siena. Goldbordüren säumen sein Gewand. Sein Haar, das schon ergraut ist, fällt in weichen Wellen über die Schultern. Eine rote Mütze mit Fellbesatz und goldener Kuppe ziert das fürstliche Haupt Ein gelockter Vollbart verleiht seinem Antlitz Ernsthaftigkeit und unterstreicht die Würde, die seine Person umgibt. Rund um sein Haupt zieht sich der Schriftzug der Majuskeln C. S. C. V.1. Es ist die Abkürzung für Comune Senarum Civitatis Virginis – die Kommune von Siena, der Stadt der Jungfrau. Aus der rechten Hand des alten Regenten ragt ein goldenes Zepter empor, seine Linke hält einen ebenfalls goldenen, runden Schild, auf dem die Konturen der Madonna mit dem Kind und zwei Engeln zu erkennen sind. Den Rand des Schildes entlang liest man eine Inschrift, aus der hervorgeht, dass das Motiv auf dem Schild dem Siegel von Siena entspricht: Salvet Virgo Senam Veteram Quam Signat Amenam – "Die Jungfrau möge Siena bewahren, das sie als Altes und Liebliches segnet." Die Füsse des Regenten ruhen auf einer Wölfin. Sie hat sich vor den Thron auf einen Vorsprung des Podiums hingelegt. Liebkosend beugt sie sich über zwei Zwillingsknaben, die gierig an den Zitzen ihrer Brust saugen.



Um sich hat der Regent Ratgeberinnen versammelt. Fünf junge und eine ältere Dame haben sich zu ihm auf die Thronbank gesellt, die mit kostbarem Tuch überzogen ist. Auf jeder Seite sitzen drei von ihnen. Inschriften in goldenen Lettern identifizieren die Frauen als Tugenden. Ganz links sitzt die Pax – der Friede, neben ihr die Fortitudo – die Stärke, und gleich neben dem Regenten die schon etwas ältere Prudentia – die Klugheit. Rechts von ihm sitzen die Magnanimitas – die Grossgesinntheit, die Temperantia – die Mässigkeit, aussen die Justitia – die Gerechtigkeit.

Die junge blonde Pax ist lässig entspannt. Sie hat ihre Rüstung ausgezogen, nur ein durchscheinendes Untergewand umspielt die sanften Züge ihrer weiblichen Figur. Der ausgediente Waffenrock ruht unter einem seidenen Kissen, auf das sie sich behaglich zurückgelehnt hat. Helm und Schild sind zu Boden geworfen, ihre blossen Füsse stellt sie darauf ab. Ein Olivenkranz krönt ihr goldenes Haar und untermalt feierlich ihr hübsches Gesicht. In ihrer Hand hält sie einen frischen Zweig desselben Baumes.

Die Fortitudo rechts neben ihr blickt hingegen ernst und ist schwer bewaffnet. Über ihren roten Rock hat sie sich ein dunkles, bronze schimmerndes Kleid gestreift, das weit über das Knie hinabfällt. Ein Brustharnisch bedeckt ihren Oberkörper. Sie ist mit einem schweren Schild sowie einem schwarzen Schlagstock ausgerüstet, den sie in ihrer rechten Faust umschliesst. Auf ihrem Kopf sitzt ein Helm, der mit Diamanten besetzt und mit einer Strahlenkrone verziert ist.

Ihre Nachbarin, die Prudentia, ist in ein blaues, brokatbesticktes Kleid gehüllt. Auf ihrem Kopf trägt sie eine goldene, reich geschmückte Krone. Sie hat ihr Haar mit einem weissen Tuch bedeckt, das sie sich um Kopf und Schultern geschlungen hat – ein Zeichen ihrer Reife. In der Hand hält sie eine Öllampe mit drei hellen Flammen. Die Lichtquelle beleuchtet drei Wörter, die auf einen Fächer gemalt sind, der in ihrem Schoss ruht: "Praeteritum Praesens Futurum" – "Vergangenheit Gegenwart Zukunftïst zu entziffern. Prudentia macht uns mit ihrem Zeigefinger auf diese Botschaft aufmerksam.

Wie Prudentia tragen auch die drei Damen rechts vom Regenten königliche Gewänder. Ihre bunten, eher schlicht geschnittenen, langen Kleider sind mit edlen Bordüren verziert. Offene Umhänge oder Mäntel betonen ihre herrschaftliche Aus- stattung. Goldene, mit Edelsteinen besetzte Kronen zieren ihr blondes, fein frisiertes Haar.

Gleich rechts vom Regenten sehen wir die Magnanimitas. In der einen Hand hält sie eine Krone. Mit der anderen greift sie in eine Schale, die in ihrem Schoss ruht und reichlich gefüllt ist mit goldenen Münzen.

Daneben sitzt die Temperantia. Sie zeigt auf eine Sanduhr, die sie auf ihre rechte Handfläche gestellt hat. Der Sand ist im Augenblick zur Hälfte in das untere Glasgefäss gerieselt.

Rechts aussen sitzt die Justitia. Streng und ernsthaft hält sie das Schwert aufrecht. Der abgeschlagene Kopf eines bärtigen Mannes liegt unterhalb des Griffes auf ihrem Knie, während sie in ihrer anderen Hand eine Krone hält.



Über dem Haupt des ehrwürdigen Regenten schweben geisterhaft drei himmlische Wesen: die Fides – der Glaube, die Caritas – die Liebe, die Spes – die Hoffnung. Gefiederte Flügel zeugen von der göttlichen Abstammung der drei schwerelosen Frauen. Alle drei tragen Kronen auf ihrem Kopf.

Zuoberst schwebt die Caritas. Sie gleicht dem Feuer. Ihr Körper glüht. Orangefarben leuchtet ihr wehendes Haar. Die Silhouette ihres nackten Oberkörpers zeichnet sich deutlich durch den hauchzarten Schleier ab, den sie, über ihre Brust geworfen, nach hinten wegflattern lässt. Ein Pfeil ragt aus ihrer rechten Hand, in ihrer linken trägt sie ein rotes, brennendes Herz.

Links unter ihr erscheint die Fides. Verschleiert und ganz in weiss, drückt sie inbrünstig das Kreuz Christi an ihr Herz. Das Kleid und die Flügel der lieblichen Spes sind in zartes Rosa getaucht. Sie hat ihre Hände zum Gebet erhoben und den Blick nach oben gerichtet; denn Jesus Christus schaut durch eine Öffnung des Himmels auf sie herab.



Auf derselben Höhe, weiter links, fällt der Blick auf ein anderes göttliches Wesen: Mit goldenen Flügeln, Krone und goldenem Kleid schwebt die Sapientia – die Weisheit. Dass sie nicht mehr ganz jung ist, verrät uns der zarte Gesichtsschleier, der ihr Kinn verhüllt. In ihrer Hand trägt sie ein rotes, schweres Buch, das sie an ihren Körper presst.

Die Sapientia gehört zu einer Figurengruppe links von der Thronbank des Regenten. Unter ihr hat in rot-goldenem Gewand eine Dame auf ihrem eigenen, reich dekorierten Thron Platz genommen, der auf der Verlängerung des Podiums steht. Auch diese Dame trägt eine Krone in ihrem blonden Haar. Sie ist etwas kleiner als der Regent, doch grösser als dessen Ratgeberinnen. Ein Vers, dem Buch der Weisheit Salomos entnommen, umrahmt ihre Figur und kennzeichnet sie als weitere Justitia – eine weitere Gerechtigkeit: Diligite Iustitiam qui iudicatis terram – "Liebt die Gerechtigkeit, ihr, die ihr die Welt regiert". Ihren Kopf hat sie nach hinten geneigt und blickt hoch zur Sapientia: Diese hält den Griff ihrer Balkenwaage in der Hand. Links und rechts von der Figur der Justitia hängen an roten Seilen die beiden Schalen der Waage herunter. Sie werden von der Justitia mit den Daumen im Gleichgewicht gehalten.

Justitia handelt mit Hilfe von zwei weiblichen, goldblonden Engeln, die auf den Waagschalen sitzen.

Auf der linken Schale kniet ein Engel, der ein rotes Kleid trägt. Zwei Männer haben sich vor ihm niedergekniet. Den einen krönt er, während er den anderen köpft. Blut fliesst aus dem Genick des Mannes, der seinen Kopf verliert. Neben ihm liegen Waffen auf dem Boden. Derjenige, der vom Engel gekrönt wird, hat einen Palmwedel in der Hand. Diese kleine Szene ist mit Distributiva angeschrieben. Auf der anderen Schale kniet ein Engel in weissem Kleid. Über seinen Schauplatz zieht sich der Schriftzug Comutativa. Zwei Männer sind vor ihm in die Knie gesunken und scheinen ihm etwas anzubieten. Der eine streckt ihm einen Topf entgegen, in den der Engel hineingreift. Der andere erweckt den Eindruck, als übergebe er seine Waffen. Der Mann reicht dem Engel gerade eine Lanze, die er zusammen mit einem Speer in den Händen hält.



Von den beiden Engeln löst sich jeweils ein Band, ein rotes und ein weisses, entsprechend den Farben ihres Gewandes. Die Bänder fallen über die Waagschalen ins Leere hinab, um weiter unten in der Hand einer jungen Frau zu einer rot-weissen Kordel vereint zu werden. Die junge Frau sitzt unmittelbar unterhalb der Justitia auf einem hölzernen Lehnstuhl, der vor dem Podium auf der Erde steht. Ihr Name ist Concordia – Eintracht. In goldenen Lettern wurde der Name auf einen Hobel gemalt, den sie auf ihre Knie gelegt hat. Concordia ist gleich gross wie die Beraterinnen des Regenten. Sie trägt jedoch weder eine Krone, noch eine andere Kopfbedeckung. Nur ein goldener Haarreif ziert ihr anmutiges Gesicht. Das weisse, einfach geschnittene Kleid ist mit Goldstickereien geschmückt.

Ihr sanfter Blick ruht auf einer Reihe von vierundzwanzig Männern, die mit ernsthafter Miene paarweise von links nach rechts zum Regenten hin schreiten. Concordia überreicht dem hintersten die Kordel, der sie an seine Gefährten weitergibt. Alle Männer halten sich mit einer Hand an der Kordel fest: Die Männer, die links in der Kolonne laufen, mit ihrer rechten Hand, die Männer, die rechts laufen, mit ihrer linken. Die Kordel verläuft so durch die Mitte der zwölf Paare. Vor dem Vorsprung des Podiums, auf dem die Wölfin mit den Zwillingen liegt, bleibt der Zug der Männer stehen. Die ersten zwei Paare blicken der Kordel nach hoch zum Regenten, um dessen Handgelenk ihr Ende geknüpft ist.



Von der Ferne betrachtet, bilden die vierundzwanzig Männer eine Einheit. Im Gleichschritt schreiten sie feierlich voran; die meisten haben uns ihr Profil zugewandt. Sie sind fast alle gleich gross. Sie tragen ungegürtete, einfarbige Kleider, die parallel über ihre Körper hinabfallen. Auf ihrem Kopf sitzt jeweils eine Stoffmütze.

Tritt man näher heran und verharrt eine Weile bei diesen Männern, dann erkennt man viele Details, die das Gleichförmige auflockern. Als ob der Maler diese Männer im wirklichen Leben gekannt hätte, hat er jedem eigene, charakteristische Züge ver- liehen. Sie haben grosse oder kleine Nasen, eine hohe Stirn oder ein rundes Gesicht. Manche Männer sind dicker, andere schlanker, manchen ist das Haar schon ergraut und andere wiederum zeigen sich noch in jugendlicher Frische.

Es scheint, das alle dieselben bis zu den Knöcheln reichenden Kleider und die dazugehörenden Schlappmützen tragen, wie es der damaligen Mode in der Stadt entsprach. Doch die vordere Hälfte der Männer ist edler gekleidet als die hintere. Die ersten vier Männer sind am würdevollsten ausgestattet. Sie sind die einzigen, die Handschuhe tragen. Die zwei Männer ganz vorne tragen auf ihrem Leib dunkle, schwere und wertvolle Stoffe. Über dem unteren Rock hängt ein fester, ärmelloser Überwurf mit gestärktem Stehkragen, der ihren Hals gänzlich bedeckt. Die beiden sind im gleichen Stil gekleidet, aber in den Farben unterscheiden sich ihre Gewänder. Während die rechte Figur vollständig in Saphirblau gekleidet ist, trägt die linke über ihren schwarzen Rock einen purpurnen Überwurf. Beide haben auf dem Kopf Mützen mit Pelzrand; die rechte eine schwarze und die linke eine rote. Beim Paar dahinter trägt der rechte Mann eine schwarze Robe mit pelzbesetztem Schulterkranz, der linke ein rotes Kleid mit steifem Kragen. Auch ihre Mützen sind mit Pelzrändern geschmückt. Die vier machen in ihrer aufwendigen Tracht den Eindruck von Berufsmagistraten. Sie scheinen auch mit der ritterlichen Würde ausgezeichnet zu sein. Die zwei hinter den ersten vier Männern sind in ein Gespräch vertieft. Sie tragen ebenfalls eine pelzbesetzte Mütze und dazu ein einfacheres rotes Kleid. Das rote Gewand mit fellbesetzter Mütze war vor allem die Tracht der Juristen sowie der Universitätsprofessoren. Hinter diesen zwei Gelehrten folgt ein eher jüngeres Paar, das durch seine kurzen, in sich gemusterten Röcke aus der Reihe sticht. Sie haben sich nach der neuesten Mode, die vom Hof von Neapel kommt, gekleidet. Ein Einstecktuch hängt verspielt aus ihrer Tasche, Seidenstrümpfe bedecken die Beine. Anstelle der glatten Rasur trägt einer von ihnen einen kurz gestutzten Kinnbart. Die beiden gehören wahrscheinlich zur reichen Oberschicht, die sich am höfischen Leben orientiert. Dahinter schreiten zwei Paare, welche sich von den folgenden sechs nicht gross unter- scheiden. Weil aber ihr Gewand aus fülligerem Stoff ist und auch ihre Mützen aufwendiger mit feinem Tuch drapiert sind, erwecken sie den Eindruck, wohlhabender zu sein als jene verbliebenen zwölf Stadtleute, die hinter ihnen folgen und wie Stadtbürger aus der Mittelschicht gekleidet sind.

Spiegelbildlich zur Reihe der Bürger sind zwei Ritter mit ihrer schweren Rüstung zu sehen. Sie knien vor dem Podest der Wölfin und blicken zum Regenten hoch. Den Helm haben sie weggelegt. Ihr rötlich blondes Haar fällt wellig auf ihre Schultern. Auch sie tragen beide einen gepflegten, fein gestutzten Bart. Auf Knien bieten sie dem Regenten ehrfurchtsvoll ihre Burgen an.



Die Thronbank des Regenten wird von Soldaten bewacht. Sie haben sich vor dem Podium aufgereiht. Einige sind hoch zu Ross und tragen schwere Rüstungen. Andere sind Fusssoldaten. Eine Gruppe von ihnen trägt eine leichte, helle Uniform und einen spitzen Helm. Lanzenartige lange Stäbe dienen ihnen als Waffen. Eine andere zahlrei- che Gruppe ist mit Helm, Schild und Speer ausgerüstet. Auf der Vorderseite der Schilder ist ein rotes Wappen gemalt mit dem Motiv eines weissen, sich aufbäumenden Löwen. Es ist das Wappen der Stadtmiliz von Siena.



Rechts aussen, in erster Reihe vor den Soldaten stehen Sträflinge, die von einem Strick zusammengehalten werden. Unter ihnen sehen wir einen einfachen Mann mit gedrungenem Körperbau und struppigem Haar. Sein ausgefranstes Hemd hängt offen über seinen dicken Wanst und macht den Blick auf seinen Lendenschurz frei. Zu- sammengehalten wird das Hemd nur vom Sträflingsseil, das sich in seinen fettleibigen Bauch geschnürt hat. Seine Beinkleider sind zerrissen, seine nackten Füsse stecken in Ledersandalen. Die vier restlichen Männer, mit denen er dasselbe Los teilt, sind sehr gut gebaut. Das Sträflingsseil schlingt sich um ihre schlanke Taille. Die feingewobene Unterwäsche, die das einzige ist, was sie noch am Leib tragen, lässt die durch- trainierten Muskeln erahnen. Ihre edlen Gesichter werden von einem gepflegten, spitzig zugeschnittenen Bart umrahmt. Diese Männer scheinen Vertreter jener reichen Oberschicht zu sein, die dem höfischen und ritterlichem Leben nachgeht. Drei von ihnen wurde eine Haube übergestreift: Es ist das Zeichen dafür, dass sie ein Kapitalverbrechen begangen haben.

Zwischen den Sträflingen, der Stadtmiliz und den Soldaten zu Ross drängt sich eine Ansammlung von Männern. Sie sind teils ärmlich gekleidet, haben gröbere Gesichtszüge und sind unrasiert. Andere tragen, der städtischen Mode folgend, lange Gewänder und Schlappmütze, sind jedoch weniger gepflegt als die Reihe der Bürger auf der linken Seite des Podests. Der vorderste dieser Gruppe von Männern, die sich auf der rechten Seite des Podests befindet, bietet der Sieneser Kommune den Schlüssel eines Stadttores an. Es scheint sich also um Vertreter einer ländlichen Kommune zu handeln, die sich der Stadt Siena unterwerfen. ...

Unterhalb des Bildes, in der Gegend der Justitia mit den Waagschalen, entdecken wir ein rechteckiges Schild, das einen Text enthält, der die Allegorie der guten Regierung kommentiert:

Wo diese heilige Tugend [Gerechtigkeit] regiert, führt sie die vielen Seelen zur Einheit,
und diese, so vereint,
setzen das Gemeinwohl als ihren Herrn ein.
Dieser, um seinen Staat zu regieren, entscheidet sich, niemals die Augen abzuwenden
vom Glanz der Antlitze
der Tugenden, die ihn umgeben.
Deshalb werden ihm im Triumph
Steuern, Abgaben und Landherrschaften überreicht. Deshalb, ohne Krieg,
tritt jegliche bürgerliche Wirkung ein,
nützlich, nötig und freudig.

...

Rechts residiert der Hof des schlechten Regiments. Da für die Darstellung der Allegorie der schlechten Regierung sowie deren Auswirkung auf Stadt und Land nur noch eine Längswand übrig blieb, hat Lorenzetti den Regierungssitz in das Leben der Stadt integriert: Das Podium, auf dem sich die Thronbank des Regenten befindet, steht innerhalb der Stadtmauer. Doch an die Stelle des ehrwürdigen Regenten ist ein satanischer Herrscher getreten. Mit gezücktem Dolch, am Leib den Waffenrock, sitzt er kriegslüstern auf seinem Thron. Sein Aussehen ist grässlich: Auf beiden Augen schielt er, sein Gesicht ist grausam verzerrt, wie bei einem Wildschwein ragen zwei Hauer aus seinem Unterkiefer und auf dem Kopf sind ihm zwei spitze Teufelshörner gewachsen. Sein langes, pechschwarzes Haar hat er sich in Zöpfen um das Haupt gelegt. Über seine Rüstung fällt von den Schultern eine lange scharlachrote Schleppe, die mit Gold bestickt und mit Pelz gefüttert ist und deren samtener Stoff in Falten auf das Podium fällt. In der linken Hand hält er eine goldene, hochstielige Schale. Seinen Fuss, der sich beim näheren Hinschauen als Kralle entpuppt, hat er auf einen Ziegenbock gestellt. Das Tier hat es sich auf dem Podium bequem gemacht und schaut treu zu seinem Besitzer hoch. Hinter dem Hals des furchterregenden Regenten zieht sich eine erklärende Inschrift: Tyramnides – die Gewaltherrschaften.

Der Tyrann hat ebenfalls Ratgeber versammelt. Doch es sind zwielichtige Wesen, mit denen er sich umgibt. Sie weisen teils menschliche, teils tierische Züge auf.

Inschriften kennzeichnen sie als Laster. Auf der linken Seite, von links nach rechts, sitzen Crudelitas – die Grausamkeit, Proditio – der Verrat, und Fraus – der Betrug. Rechts besteht seine Gefolgschaft aus Furor – der Aufruhr, Divisio – die Zwietracht, und Guerra – der Krieg.

/Crudelita/s ist eine alte Frau. Ihr langes, graumeliertes Haar fällt lose und ungekämmt auf ihre Schultern hinab. Mit ihrer rechten Hand hat sie einen Säugling gepackt, den sie in die Luft streckt. Hilflos zappelt er in der Leere und schlägt heftig mit seinen kleinen Beinchen und Ärmchen um sich. Er schreit erbärmlich vor Angst, denn es nähert sich ihm eine Schlange. Wie hypnotisiert, mit weit aufgerissenen Augen, starrt er auf das Schreckensbild. Die Schlange befindet sich in der Hand der Crudelitas, die sich des grausamen Spiels erfreut.

Neben ihr sitzt ein Mann, Proditio. Er ist in der Art eines guten Stadtbürgers gekleidet und trägt das übliche weite Gewand mit der dazu passenden Stoffmütze. Alles ist aus feinem Tuch gewebt. In seinem Schoss hat er ein süsses Lämmchen – doch der Schein trügt; denn wo sich gewöhnlich der wollene Hinterteil befindet, krümmt sich der giftige Stachel des Skorpions.

Fraus ist ein komisches Wesen. Mit dem langen blonden Zopf ähnelt es einer Frau, doch die Gesichtszüge sind recht grob und hart und eher männlich. Bartkotletten scheinen schon gar nicht zu einer Frau zu passen. Fraus ist weder Frau noch Mann. Dieses Wesen gehört nicht der Menschenrasse an, sondern ist eine Kreuzung zwischen Mensch und Tier. Das Bestialische sollte unter dem wallenden Gewand verborgen bleiben. Am Rockzipfel aber offenbart es sich mit Krallenfüssen und anstatt der menschlichen Hand schaut ein brauner, pelziger Huf aus dem Armloch. Am Rücken verraten Fledermausflügel die höllische Herkunft. Mit seinem gespreizten Huf hält das Wesen einen goldenen Stab, während es den Blick auf den Tyrannen richtet.

Gleich rechts neben dem Tyrannen erblickt man ein anderes dämonenhaftes Phantasiegeschöpf: Furor. Es ist mehr Tier als Mensch. Sein Körper ist mit braunem Fell bewachsen. Es sitzt nicht auf der Bank, sondern steht mit allen vier Beinen darauf. Der Unterleib ähnelt dem eines Pferdes. An den Vorderbeinen, von denen eines steif ist, hat es Hufe, hinten aber wie ein Wolf zwei Pfoten. Anstelle des bauschigen Schwanzes rollt sich ein spitzer Stachel. Der Oberkörper mit zwei Armen ist mensch- lich und wächst senkrecht, wie beim Zentaur, aus dem Pferdeleib empor. Der Kopf stammt weder vom Menschen, noch vom Pferd, sondern vom Wildschwein. Das Biest hat sich bewaffnet: Mit einem kurzen Dolch und einem Stein zum Schleudern.

Divisio ist eine junge Dame mit langem blondem Haar, das sie offen trägt. Ihr einfaches Kleid, das lose an ihrem Körper herunterhängt, ist zweifarbig. Die eine Hälfte ist weiss, die andere schwarz. Auf der weissen Seite ist das Wort Si appliziert, auf der schwarzen No. Divisio sägt gerade an einem Holzstück, das sie sich auf die Knie gelegt hat.

Guerra, ebenfalls eine junge Dame, sitzt rechts neben ihr. Ausgerüstet mit Helm, Schwert und rundem Schild ist sie bereit zum Kampf. Sie hat schon zum Streich ausgeholt. Den Schild, auf dem ihr Name prangt, hat sie in Erwartung des Gegenschlags hochgezogen.

Zu der gewalttätigen und niederträchtigen Gesellschaft an den Seiten des Tyrannen stossen drei geflügelte Wesen. Sie schweben über dem Haupt des teuflischen Herrschers - gleich den drei Engeln über dem Haupt des ehrwürdigen Regenten. Doch diesmal sind die drei schwebenden Damen nicht göttlicher, sondern satanischer Abkunft: Mit Fledermausflügeln gleiten sie durch die Luft.

Über allen fliegt Superbia – der Hochmut. Sie ist eine junge Frau mit blondem, fein frisiertem Haar. Auf ihrem Kopf sitzen zwei gebogene Hörner. Zu ihrem purpurroten, prächtigen Kleid gehört eine Schleppe, die reichlich mit Gold bestickt ist. Sanft wellt sich der schwere Stoff im Lufthauch des Flügelschlags. Haltung und Blick der Superbia sind stolz. Mit geschwellter Brust fasst sie ihr Schwert am Griff, das sie sich um die Hüfte geschnallt hat. An einem Seil, das sie in der anderen Hand hält, baumelt ein Joch.

Links von ihr schwebt die Avaritia – der Geiz. Sie ist ein greises Weib. Aufgrund der kärglichen Nahrung, die sie sich bloss zugesteht, sind ihre Wangen tief eingefallen. Der Stoff ihres Kleides ist so dünn, dass ihre hängenden Brüste durchschimmern. Sie trägt eine aschgraue Kutte mit Kapuze. Die Kapuze ist nicht hochgezogen, sondern fällt locker über die Schultern hinab. Auf dem Kopf sitzt eine gelblichweisse Kappe, in die die Alte ihr spärliches Haar unsorgfältig hineingesteckt hat. Aus ihrer knöchernen Hand ragt eine lange, vorne gebogene Hacke. Mit spitzen, eher raubvogel- als menschenähnlichen Fingernägeln, krallt sie sich an eine handliche Presse, die sie sich um die Schultern gehängt hat und durch die sie zwei Geldbeutel quetscht.

Die dritte im Bunde der dämonischen Frauen, die das Haupt des Tyrannen krönen, ist Vanagloria – die Eitelkeit oder der eitle Ruhm. Die junge Vanagloria ist eine sehr feine Dame. Sie reist in einem goldenen Wagen. Ihr rotes Kleid, das sie trägt, ist prachtvoll und so raffiniert geschnitten, wie sonst keines das wir bis anhin gesehen haben. Überall ist es mit Goldbordüren gesäumt, und Edelsteine zieren die Nähte und Armpartien. Unterhalb der Brust ist es geschlitzt und die spitz zulaufenden Enden fallen wie eine Jacke über ein rotes Gewand, das sie darunter trägt. Das brunette Haar der Vanagloria ist aufwendig frisiert und wird von einem goldenen, mit Rubinen und Smaragden besetzten Reif geschmückt. Selbstverliebt betrachtet sie sich in ihrem goldenen Taschenspiegel und ist so tief in den Anblick ihrer Schönheit versunken, dass sie vergisst, auf das Schilfrohr zu achten, das, leise vor sich hinwelkend, in ihrer linken Hand schon ganz grau geworden ist.

Zu Füssen des Tyrannen, auf der blossen Erde, erblicken wir eine uns schon bekannte Dame. Es ist Justitia, die wir am Hof des ehrwürdigen Regenten angetroffen haben. Dort sass sie, umgeben von ihrer Waage, einer Königin gleich auf ihrem eigenen Thron. Hier indessen bietet sie einen jämmerlichen Anblick. Vom Thron gestossen, gefesselt und ihrer Kleider bis aufs Unterhemd beraubt, liegt die Arme mit aufgelöstem Haar vor dem Podium. Nicht nur die Hände sind ihr gefesselt, auch die Beine sind von einem Tuch umwickelt, so dass sie ihre Glieder nicht mehr bewegen kann. Die Stirn hat sie in Falten gezogen; ihr Blick ist sorgenvoll. Ihre Waage ist zerbrochen: Links und rechts neben ihr liegen die zu Boden gefallenen Schalen. Die roten Seile, an denen sie früher hingen, winden sich unnütz auf der Erde. Ein Mann, der zum Tyrannen hochschaut, hat so ein rotes Seil in der Hand. Seine andere Hand ist in der Schlinge einer schwarzen, schweren Eisenkette, mit der die Justitia gefangen gehalten wird. ...

Doch bevor wir dieses Bild der Zerstörung und des Verbrechens betrachten, lesen wir den Kommentar, der unterhalb der gefesselten Justitia steht:

"Wo die Gerechtigkeit gefesselt ist,
wird sich nie jemand auf das Gemeinwohl einigen, noch sich am Band des Rechts halten,
so dass die Tyrannia die Oberhand gewinnt.
Diese, um ihrer Schlechtigkeit zu genügen,
will niemals und wird niemals in Uneinstimmigkeit
mit dem schmutzigen Wesen
der Laster handeln, die hier mit ihr zusammen sind.
Sie verbannt jene, die bereit sind, Gutes zu tun
und umgibt sich mit all denen, die Schlechtes vorhaben.
Sie verteidigt immer
den, der nötigt oder raubt und all jene, die den Frieden hassen,
so dass ihr gesamtes Land verwüstet daliegt.


Volker Reinhardt – Über Siena

SIENA UND DIE «NEUN»

Bilder und Realität der Kommune

Fresken zur politischen Selbsterziehung

Der Palazzo Pubblico in Siena wurde um das Jahr 1300 erbaut. Auf drei Seiten des «Saals des Friedens» (auch «Saal der Neun»), in dem der Generalrat der Stadt tagte, hat Ambrogio Lorenzetti von 1338 bis 1340 die Allegorie der guten Regierung sowie ihre segensreichen Auswirkungen auf die Stadt und das von ihr abhängige Landgebiet gemalt. Auf der vierten Wand hingegen sieht man in einem einzigen Fresko ihr abschreckendes Gegenbild: die Tyrannei und ihr Wüten innerhalb wie außerhalb der Stadtmauern. Damit hat er Menschheitssehnsüchte und Menschheitsängste allgemeingültig dargestellt, wie Berühmtheit und Verbreitung der Bilder belegen. Eine Erklärung für ihre bis heute anhaltende Beliebtheit liegt in der fein säuberlichen Trennung von Gut und Böse, die dem moralischen Empfinden entgegenkommt. Darüber hinaus vermitteln sie die Zuversicht, dass der Mensch kraft seiner Vernunft auf der Grundlage umfassender Gerechtigkeit eine Lebensordnung schaffen kann, die allen die Chance bietet, sich in Frieden und Harmonie mit ihren Mitmenschen zu entfalten und zu verwirklichen. So sind Lorenzettis Fresken bis heute in vielen Schul- und Handbüchern zu sehen und erfüllen damit noch immer ihren Zweck, das Menschengeschlecht politisch zu erziehen. ...

Diese Kultur ist republikanisch, ihre finstere Gegenwelt hingegen despotisch, ... Die gute Regierung ist die Frucht guter Institutionen, wie der hierarchisch geordnete Aufmarsch der politischen Klasse am unteren Rand der «Allegorie der guten Regierung» zeigt. Wenn viele regieren, ist die Gefahr, dass sich ein Einzelner zum alleinigen Gewaltherrscher auf schwingt, geringer. Doch völlig gebannt ist diese Gefahr nie. Der Mensch ist des Menschen Aufseher und Sünden-Eindämmer, auch diese politische Klugheitslehre ist im Bild angelegt. Wenn es an prudentia, an misstrauischer Vorsicht, fehlt, hat ein Tyrann leichtes Spiel; dieser Meinung waren auch die Venezianer, wie ihr Umgang mit dem Dogen zeigte.

Der eigentliche Humus, auf dem die gute Politik gedeiht, aber sind moralische Qualitäten, die sich im irdischen Leben erst einmal ausbilden und bewähren müssen. Die bei Weitem wichtigste politische Tugend ist die Gerechtigkeit. Sie ist im Fresko doppelt präsent. Von ihr hängt alles andere ab, wie die italienischen Verse darunter betonen. Das Gemeinwohl, das sie hervorzubringen hilft, verkörpert die alle anderen Figuren überragende Männergestalt auf dem rechten Bildteil, der als Allegorie der Republik Siena kenntlich gemacht ist. Damit in der Republik das Gemeinwohl und nicht der Egoismus von Gruppen und Individuen herrscht, müssen weitere Tugenden zum Tragen kommen, die dem traditionellen Kanon der Kirche entnommen sind: weise Selbstbeschränkung, Standhaftigkeit, Großherzigkeit und Friedensliebe. Aus all diesen löblichen Gesinnungen entwickelt sich dann concordia, die Eintracht, die die Bürger im wahrsten Sinne des Wortes miteinander verbindet. Auf dem Bild reicht die Allegorie der politischen Solidarität eine Schnur an die Mitglieder der politischen Klasse weiter, die dadurch zu einer Einheit verschmelzen und diese Werte an die Verkörperung der Republik weitergeben. ...

Ein politisches Paradies kann selbst die gerechteste Republik nicht mehr werden, dem steht die Erbsünde mit ihren fatalen Folgen entgegen. Doch lässt sich in der besten, der republikanischen Ordnung das Böse weit zurückdrängen. Dies geschieht mit Hilfe des Himmels, der den Gerechten zur Seite steht, wie die Engel des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe über der Allegorie der Republik veranschaulichen. ...



In Stadt und Land gibt es eine Oberschicht, die von den ökonomischen Zwängen, Geld zu verdienen und Überlebensvorsorge zu treffen, freigestellt ist. Sie wohnt in den Palästen, die von hoch aufragenden Türmen mit Schießscharten geschützt sind. Die trutzigen Bauwerke sind ein weiteres Warnzeichen: Wenn die Bösen an die Macht gelangen, wird ein ewiger Krieg jeder gegen jeden toben.



Warnungen in Farben

Diese Selbstzerfleischung hat Lorenzetti im Fresko der schlechten Regierung gemalt, die sehr plakativ die Gegenwerte zur Republik der glücklichen Bürger veranschaulicht. Grausamkeit, Geiz, Hochmut, Eitelkeit, Verrat und was der menschlichen Abgründigkeiten mehr sind, erzeugen ein Klima des Hasses und des Misstrauens, dem alle Menschlichkeit zum Opfer fällt, wie die gefesselte Gerechtigkeit am unteren Bildrand zeigt. Hier regiert anstelle der concordia die divisio, der spalterische Eigennutz der Cliquen und Interessengruppen. Durch ihn wird der Mensch zum Wolf des Menschen, wie die Gewaltszenen in Stadt und Land verdeutlichen. ...

Bonum commune, Gemeinwohl über alles: Das war das Credo der italienischen Stadtrepublik. ... Doch auf die alles entscheidende Frage gibt weder die Fülle der Politikhandbücher noch Lorenzettis Freskenserie eine schlüssige Antwort: Wie, mit welchen politischen Mechanismen und Methoden, gelangte man zur Auswahl der Besten und verhinderte damit das Eindringen der divisio, des Spaltpilzes und seiner fatalen Folgen? ... In den martialischen Palästen hinter der Straßentanzgruppe wohnte eine nach Familien und um diese geknüpften Netzwerken sortierte Gesellschaft. Ihnen und nicht dem abstrakten Gemeinwohl galt die Solidarität der Bürger, die Bande der Partei verknüpften die einen zum Kampf gegen die anderen, spalteten also, statt zu vereinen. Doch wie sollten diese falschen Bande durchtrennt werden? Wer bei der Wahl für die politischen Führungsämter nicht seinem Schwager oder Geschäftspartner, sondern einem Konkurrenten oder gar politischen Gegner seine Stimme gab, weil er ihn für kompetenter hielt, musste seinen Egoismus, seine Selbstsucht und damit seine natürlichen Triebe niederringen. ... So blieb nur ein harter Schluss: In der real existierenden Republik erwiesen sich alle vollmundig verkündeten Ideale als nicht lebbar. Damit stellen sich auch Lorenzettis Fresken in einem anderen Licht dar: Mit ihnen wollte sich die sienesische Führungsschicht trotzdem in der mora­lischen Gewissheit wiegen, bei der rücksichtslosen Verfolgung ihrer Eigen­interessen dem Gemeinwohl zu dienen. ...

Die Republik: «unsere Sache»

An der Unauflöslichkeit dieses Gegensatzes ist die italienische Stadtrepublik zugrunde gegangen, und mit ihr - so schien es zumindest deren Lobrednern - ein erster Höhepunkt europäischer Staatsentwicklung. Nach zwei Jahrhunderten faktischer Unabhängigkeit von kirchlichen und feudalen Gewalten hatten Kommunen wie Siena eine Verwaltungs- und Behördenorganisation mit zahlreichen Posten und Postchen ausgebildet. ...

Legt man den in der Stadtrepublik des 13. und 14. Jahrhunderts erreichten Stand an «öffentlichem» Personal allein zugrunde, so war damit eine Entwicklung der Bürokratisierung vollzogen, wie sie damals nur von der Kurie erreicht, auf staatlicher Seite aber erst mit der Französischen Revolu­tion ein halbes Jahrtausend später übertroffen wurde. Doch dieser Ver­gleich führt in die Irre, weil die Politik der italienischen Stadtrepubliken nicht auf die Stärkung der Staatsgewalt um ihrer selbst willen ausgerichtet war, sondern auf innere Stabilisierung durch Ausbildung tragfähiger Interessengruppen abzielte, wie Machiavelli zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit luzider Feindseligkeit diagnostizierte: Die Gefolgsleute der herrschenden Familien mussten versorgt werden, vor allem mit Einkünften, doch auch mit dem Gefühl, dazuzugehören. Die meisten der zahllosen kleinen und kleinsten Ämter dienten daher der Befriedigung dieser Ansprüche und damit der politischen Ruhigstellung, nicht der Stärkung der Republik. Deren Autorität wurde durch die chaotische Aufsplitterung der Zuständigkeiten und die Überschneidung von Kompetenzen sogar geschwächt.

Der von Lorenzetti gemalte Gegensatz zwischen guter republikanischer und schlechter tyrannischer Regierung lebt in Italien bis in die Gegenwart fort. Überall dort, wo sich einst republikanische Herrschaftsverhältnisse ausgebildet hatten - ob diese später von Signorien abgelöst wurden oder nicht erweist sich die emotionale Bindung an die Stadt, an ihre Gemeinde, ihre Werte und ihr Wohlergehen, bis heute als lebendig. Das äußert sich im ausgeprägten Lokalpatriotismus und in der Bereitschaft, sich für das bonum comune zu engagieren. Die Kommune aber kam nur bis in die Toskana. Der Riss, der sich in der politischen Kultur Italiens zwischen Norden und Süden auftut, erklärt sich nicht zuletzt als das Ergebnis unterschiedlich verlaufener Geschichte.

Der in Farben ausgetragene Kampf um die kommunalen Werte war in Siena mit den Fresken der guten und schlechten Regierung nicht zu Ende. Zweihundert Jahre später ...


Hermann Hipp – Die Bildung der Lüneburger Patrizier

Wer die Erfinder der Programme, die Initiatoren der Ausstattungsschritte im einzelnen waren, wer sie im einzelnen beriet, bleibt immer noch und wird vermutlich immer offen bleiben; in der Rekonstruktion der Bildinhalte manifestiert sich ohne weiteres, dass für sie ein hoher Bildungsstand vorausgesetzt werden darf. Zu ihnen gehörten gewiss in erster Linie Mitglieder des Rates und die gelehrten Präzeptoren des Johanneums sowie die Geistlichen der Stadt.

Verantwortlich war gleichwohl der Rat als Körperschaft. Die Bildung, die dem Handeln der Lüneburger Patrizier und der Rathaus-Elite zugrunde lag, ist verhältnismäßig einfach zu beschreiben. Die Söhne der Patrizier besuchten regelhaft das Lüneburger Gymnasium, das Johanneum. Man weiß auch, dass viele davon anschließend Universitäten bezogen haben. Nach 1530 kam es unter ihnen zu einer regelrechten Blüte des akademischen Studiums. Ihre Bildungswege lassen sich so wenigstens in Umrissen rekonstruieren aus den fast vollständig verfügbaren frühneuzeitlichen deutschen Universitätsmatrikeln. Ihre Auswertung ist für Lüneburg bisher unterblieben und kann auch hier nur summarisch erfolgen.

Allgemeine Voraussetzung ist das sehr schnelle Wachstum und die nach einem Tiefpunkt während der Reformationszeit bald wieder einsetzende Blüte des Bildungswesens und insbesondere der Universitäten und nicht zuletzt neu gegründeter Hochschulen in den verschiedenen Territorien des Heiligen Römischen Reiches – sowohl in den lutherischen und calvinistischen wie in den katholischen Zentren – im 16. Jahrhundert. Die Universitäten erfuhren – neben einer unerhörten Modernisierung und Verwissenschaftlichung der höheren Fakultäten (Jura, Medizin, Theologie) – besonders einen intensiven Ausbau von deren gemeinsamer Basis, des Grundstudiums in den „Artistenfakultäten“, aus denen sich bald „philosophische Fakultäten“ entwickelten:30 Ausgehend von der traditionellen Lehre der Sieben Freien Künste bildete ihren Lehrstoff die Praktische Philosophie mit Ethik, Politik und Geschichte, dazu Naturwissenschaften, Dialektik und Rhetorik. Ein neues Vorbild und Programm dafür entwickelte die 1502 gegründete Wittenberger Universität, gerade durch Philipp Melanchthon, der dort seit 1518 als Professor, bald als berühmter „praeceptor Germaniae“ sein Lebenswerk in der Pflege der Grundwissenschaften, der litterae, sah, sowohl als unentbehrliche Grundlage für das richtige Verständnis der Heiligen Schriften wie für eine vernünftige persönliche Lebensführung und für politisches Handeln. Seine Vorlesungen galten vor allem der Artistenfakultät, gedruckt fanden sie weiteste Verbreitung als Lehrbücher. ...

Der lutherische Aristotelismus war der Stoff, durch den die jungen Studenten zu wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Welt erzogen wurden. Die Geschichtsschreiber dieser Fächer und inzwischen die Historiker des Bildungswesens haben das vielfältig und immer dichter belegt.

Dieses humanistische Lehrsystem also trug die daraus hervorgehende Bildung der akademisch gebildeten Eliten. Vor allem in den Reichsstädten blühten humanistisch geprägte Lateinschulen und Gymnasien auf, die auf die Hochschulen vorbereiteten.

In dieses Milieu sandten auch die Lüneburger Patrizier ihre Söhne. Die Zahl der Immatrikulationsnachweise aus ihren Familien steigt vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis ins 17. hinein stark an (mit generationsbedingten Wellenbewegungen), bricht erst im Dreißigjährigen Krieg ein und erholt sich bis ans Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr. Dass immer mindestens gleichviel Studenten aus dem nichtpatrizischen Bürgertum Lüneburgs die Universitäten bevölkerten, soll hier ganz beiseitebleiben; auch das böte immerhin Stoff zum Nachdenken über die Verhandlungsfähigkeit zwischen Bürgertum und Rat, zur Rezeptionsfa-higkeit der „normalen“ Bürger gegenüber ihrer Obrigkeit und deren Monumenten.

Das Lüneburger Studierverhalten ist dabei keineswegs eindeutig auf Wittenberg ausgerichtet. Dass es durch das ganze 16. Jahrhundert von Lüneburg aus besucht wurde, ist in zweierlei Hinsicht zu relativieren: Erstens erlebte Wittenberg innerhalb des Kräftefeldes der erwähnten innerlutherischen Lehrstreitigkeiten (und übrigens auch der ganz konkreten, ja kriegerischen Geschichte der Reformation) durchaus kritische Phasen und Veränderungen seines Profils — und blieb gleichwohl die meistbesuchte Universität. ...

Wenn die Patriziersöhne darüberhinaus allerdings eine höhere Fakultät besuchten – was nur ganz selten erkennbar wird – dann die juristische. Keiner hat Theologie oder Medizin studiert. Angesichts der allgemein zu beobachtenden Tatsache, dass in den Städten der Frühen Neuzeit die Zahl akademisch gebildeter Ratsherren zugenommen hat – es handelte sich dann um Juristen – , fällt geradezu auf, dass außergewöhnlich wenige der Lüneburger Patriziersöhne graduierten; nicht einmal eine Handvoll Juristen waren es bis zum Dreißigjährigen Krieg. Angehörige des Lüneburger Patriziats beschränkten sich, so scheint es, im wesentlichen auf das allgemeinbildende philosophische Grundstudium – wie sowieso die meisten der überaus zahlreichen Studenten der Artistenfakultät, die, ohne ein spezifisches Berufsbild angestrebt oder erreicht zu haben, die Universitäten wieder verließen. ...

Das Lüneburger akademische Verhalten passte offenkundig zu dem Anspruch auf Nobilität, den das Patriziat in der Frühen Neuzeit für sich vertrat. Einen bürgerlichen Beruf auszuüben war ihnen offenkundig nicht erstrebenswert. Auch die doch sehr praktische Tätigkeit der Lüneburger Patrizier in der Salzgewinnung und -Vermarktung wurde im Licht adliger „Militair- und Civil-Bedienungen“ gesehen.


Susanne Wildhirt – Acht Lehrstückkomponenten

(1) Reizvolles Phänomen

Ein für den Lehrstückunterricht geeignetes Unterrichtsthema lässt sich in einer Weise exemplarisch fassen, dass es durch ein Phänomen repräsentiert werden kann. Was also sind Phänomene? Der Begriff leitet sich ab von griechisch φαινωμαι, „sich zeigen“, „erscheinen“. Gelegentlich zeigt sich das Phänomen in zahllosen Variationen des Themas, in Einzelexemplaren, die Teil des Ganzen sind. Um ein solches vielgestaltiges Phänomen zu erfassen, gehört das Studium der Fülle unabdingbar zum phänomenbezogenen Unterricht dazu.

Das Phänomen im Sinne der Lehrkunstdidaktik



(2) Organisierende Sogfrage

Das Phänomen entwickelt einen „Sog“ in Richtung erkenntnisleitender Fragestellung zu seiner Erschliessung: Auf die sogwirkende Platzierung des Phänomens im Unterricht also kommt es an, so dass sich die erkenntnisbergende Fragestellung „von selbst“, ergibt.



(3) Ich-Wir-Balance

Ein Lehrstück vergegenwärtigt ein kollektives Lernereignis, indem es ein Phänomen vor Augen führt und seine kollektive (menschheitliche) Erschliessung durch sachgemässe Inszenierung nach- bzw. wiederentdecken lässt. (Dieser; HL) Unterricht erfordert also:

Aufgabe des Unterrichts ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Balance zwischen den vielen einzelnen „Ichs“ und dem „Wir“ der Lerngruppe (einschliesslich der Lehrkraft) gewährleistet ist, indem beide „an der Sache“ zu ihrem Recht kommen: Selbsttätigkeit, eigene Findigkeit und soziales Miteinander.



(4) (Aus einer Urszene) dynamisch entfaltete Handlung

Ein durchgängiger „roter Faden“, ein sich entfaltender Gedanke, wie er normalerweise für eine Lektion ein methodisches Gütemerkmal darstellt, ist noch kein hinreichendes Handlungskennzeichen für ein ganzes Lehrstück. Es ist vielmehr durch einen Handlungszusammenhang charakterisiert, der es von Beginn bis Ende über die Dauer des gesamten Unterrichts „zusammenhält“. Handlung wird dabei gleichbedeutend mit „Inhalt“ verstanden und gebraucht. Die Durchgängigkeit der Handlung ist prinzipiell Kennzeichen jeder Unterrichts-Einheit. Im Lehrstück wird darüber hinaus eine Aufgabe, ein Experiment oder eine Problemstellung eingebettet in eine Dramenhandlung, die sich, ausgehend von einer realen, meist mit den Urhebern verbundenen Problemstellung, dynamisch entfaltet.

In einigen wenigen Glücksfällen kam es bislang vor, dass sich die „Urszene“, in der eine Entdeckung oder Erfindung gemacht wurde, aus den Quellen aufspüren und in die Unterrichtshandlung integrieren liess. Die Urszene hat sich in den vergangenen drei Jahren als starkes Kompositionsmoment von Lehrstücken her-auskristallisiert. Die Erfahrung zeigt, dass sich auf diese Weise der Unterrichtsgegenstand noch deutlicher in Entwicklung bringen lässt und einfache didaktische Unterrichtshandlungen wie das Vormachen und Nachmachen auf nahezu natürliche Art dramatisch in Szene gesetzt werden können.

Kennzeichnend für die Lehrstückkomponente dynamisch entfaltete Handlung sind daher folgende Kriterien:



(5) Originäre Vorlage

Nach meinem Dafürhalten ist der Einbezug originärer Forscher, Entdecker, Künstler, Dichter usw. in den Unterricht eines der herausragenden Merkmale lehrkunstdidaktischen Unterrichts, und zwar sowohl unter exemplarischem als auch unter genetischem Aspekt: Der Urheber ist mit dem Phänomen oder dem Gegenstand oft ursächlich verbunden.

Es gilt, den für die Menschheit fruchtbar gewordenen Erkenntnisgewinn und Erkenntnisweg als fruchtbares Moment für den Bildungsprozess eines jeden Einzelnen nutzbar und gangbar zu machen. Dafür ist die Frage, wer wann was wo wie und warum geschaffen oder gefunden hat, von zentraler Bedeutung.

Die Bedeutung der originären Vorlagen für die Lehrkunstdidaktik besteht somit in folgenden Punkten:



(6) Kategorialer Aufschluss

Der Begriff „Kategorie“ ist ein seit dem 18. Jahrhundert bezeugter philosophischer Terminus, der sich in seiner Verwendung mit „Begriffs-, Denk- und Anschauungsform“ wiedergeben lässt. Der Bedeutungsgehalt des Wortes als „Leitbegriff“ samt der Forderung nach seiner prozessualen Erschliessungshandlung (Kategoriebildung) mag hier genügen. Entscheidend ist hingegen die Klärung der Frage, in welcher Weise der Begriff als Lehrstückkomponente zu verstehen ist.

Ein Lehrstück sollte – wie jeder andere Unterricht auch – auf seinen Beitrag zur Bildung hin analysiert werden, und die Kategorialbildungsanalyse nach Klafki ist hierzu ein geeignetes Instrument zur Vergewisserung des Bedeutungsgehaltes einer Unterrichtseinheit.

Die Interpretation einer Lehrstückinszenierung gemäss der lehrkunstdidaktischen Methodentrias klärt in viel stärkerem Masse die Frage nach der Form, ob und inwiefern nämlich eine konkrete Unterrichtsdurchführung den Unterrichtsprinzipien der Lehrkunstdidaktik entspricht. Beide, Methodentrias-Interpretation zur Klärung der Form und Bildungsanalyse zur Klärung des Gehaltes stehen demzufolge in der Unterrichtsauswertung auf der gleichen Ebene.

In der Lehrstück-Komposition werden von Beginn an kategoriale Aufschlussmöglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse in besonderem Masse in die Gestaltung einbezogen. Für ein Lehrstück hat dies zur Konsequenz, dass die Klärung der Leitbegriffe integraler Bestandteil des Komponierens selbst zu sein hat und daher Bestandteil des Unterrichtsaufbaus ist. Die Frage spitzt sich dahingehend zu: Lässt sich kategoriales Erschliessen einem der drei Unterrichtsprinzipien der lehrkunstdidaktischen Methodentrias in besonderem Masse zuordnen?



(7) Werkschaffende Tätigkeit

Sämtliche Schülerproduktionen und ‚handwerkliche’ Aktivitäten sind im Lehrstückunterricht eingebettet in den Gesamtzusammenhang der dramaturgischen Entfaltung des Unterrichtsgegenstands. Der Unterrichtsgegenstand ruft jene Aktivitäten hervor, die ihm korrespondieren oder gar in ihm stecken

Unter werkschaffender Tätigkeit verstehe ich



(8) Grundorientierendes Denkbild

Über dieses Dokument ...

Unser Rathaus


Am Beispiel des Hamburger Rathauses, dazu die Rathäuser von Lüneburg und Ahrensburg – Schreibtischentwurf zu einem Lehrstück

This document was generated using the LaTeX2HTML translator Version 2023.2 (Released July 1, 2023)

The command line arguments were:
latex2html -nofootnode -init_file /Users/horst/.latex2html-init rathaus4.tex

The translation was initiated on 2023-08-11


Fußnoten

... Begründungen1
Die Idee zu einem Lehrstück über das Hamburger Rathaus entstand auf einer Veranstaltung der Lehrerfortbildung in Hamburg im Hamburger Rathaus. Dieses Rathaus wird von den Hamburgern „irgendwie“ geliebt, obwohl oder gerade weil es „irgendwie“ seltsam aussieht. Stephan Benzmann begann mit einer grundlegenden Idee, die Hinrich Kindler und er auch im Unterricht erprobten. Den Rückgriff auf ältere Rathausbautradition habe ich (Horst Leps) gemacht, auf Anregung von Tilman Grammes. – Dieser Text ist Entwurf, weitestgehend Schreibtischarbeit; nichts, was mit Lüneburg zu tun oder gar Ahrensburg, ist bislang in der Schule ausprobiert worden.
... nahe2
Es könnte natürlich auch Lübeck sein. Das habe ich nicht überprüft, nicht durchgespielt.
... Untersuchung3
Joachim Ganzert (Hrsg): Das Lüneburger Rathaus – Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011 / Bd. 1, Das Lüneburger Rathaus – Ergebnisse der Untersuchungen 2008 bis 2011 / Bd. 2, ders.: Das Lüneburger Rathaus – Ergebnisse der Untersuchungen 2012 bis 2014 / Bd. 3, alle Petersberg: Imhof, 2014. Ein kiloschwerer Bericht über sechs Jahre Forschung am Gebäude und seiner Innenausstattung.
... Ganzert]4
Ganzert 3, 350ff
... Konfliktregelung5
In anderen Religionen mag das anders sein, deshalb dürften ihre politischen Einrichtungen auch völlig anders gebaut sein.
... Regierungsweise6
https://de.wikipedia.org/wiki/Neun_Helden
... Haupt7
Maike G. Haupt: Die Große Ratsstube im Lüneburger Rathaus (1564-1584) – Selbstportrait einer protestantischen Obrigkeit, Marburg: Jonas, 2000 – Ohne die einzelnen Quellenangaben.
... entgegennehmend8
Georg Lauterbeck, ein damals viel gelesener Autor in Sachen politischer Ordnung und Erziehung, erwähnt Aristoteles zwar in seinen Vorschlägen zur „Guten Policey“ in den Städten, er orientiert sich aber eher an Platon und Sparta, s. Michael Philipp: Das Regentenbuch des Mansfelder Kanzlers Georg Lauterbeck – Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte im Konfessionellen Zeitalter, Dissertation Augsburg 1993, Augsburg: Wißner 1996, S. 206 - 2019. – Man kann es drehen und wenden: Die deutsche Stadt des Mittelalters ist weder mit der Polis der Griechen noch mit Insel- und Gründungsgeschichten zu fassen.
... Schmidt9
Dagmar Schmidt: Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und die schlechte Regierung, Dissertation St. Gallen, 2003, S. 58 – 64 https://docplayer.org/79295838-Der-freskenzyklus-von-ambrogio-lorenzetti-ueber-die-gute-und-die-schlechte-regierung.html
... sein10
https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_(Aristoteles)
... Reinhardt11
Volker Reinhardt: Die Macht der Schönheit, S. 119 - 126
... Hipp12
Hermann Hipp: Bilder im Rathaus, in Ganzert 1, S. 211
... übermalen.“13
Das Hamburger Rathaus – 125 Jahre - 125 Geschichten, hrsgg von Rita Bake und Michael Zapf, Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, 2022, S. 183.
... Historismus14
Mein Kunstlehrer auf dem Gymnasium in den frühen 1960er Jahren hielt den Historismus, der den originalen Baustilen Romanik, Gotik usw. bis hin zum Klassizismus folgte, für hässliche, unoriginelle und bombastische Kopiererei, die erst im Jugendstil überwunden wurde. Ich kann nicht bestreiten, davon immer noch beeindruckt zu sein.
... herausgearbeitet15
Susanne Wildhirt: Lehrstückunterricht gestalten – Linnés Wiesenblumen – Aesops Fabeln – Faradays Kerze, Exemplarische Studien zur lehrkunstdidaktischen Kompositionslehre, Diss-PDF, S. 36ff, hier im Auszug stark gekürzt wieder gegeben.


Horst Leps
2023-08-11