Unser Rathaus


Am Beispiel des Hamburger Rathauses – Vielleicht eine Anregung zu einem Lehrstück

Dr. Horst Leps


Date: 6. Mai 2023



Inhalt

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Warum Rathaus?

Verschiedene Zugänge sind möglich und auch verschiedene Begründungen.


Heimatkunde

In der zweiten Klasse, damals 1956, kam der Lehrer mit einer Landkarte in den Unterricht. Es war der Stadtplan von Bevensen; dort bin ich aufgewachsen. Die wichtigsten Straßen konnte ich erkennen, ich ging sie ja täglich zur Schule. Auch die Straßen, in der meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern wohnten. In einigen anderen Straßen war ich schon mal gewesen.

Dann kam der Wandertag: Wir liefen durch Bevensen, der Lehrer zeigte uns die Straßen, aber auch die wichtigsten Häuser in Bevensen. Die Kirche kannten wir schon von der Einschulung. Alle kannten auch das Rathaus, jedenfalls dem Namen nach. Den Schützenplatz lernten wir auch kennen, die Brücke über die Ilmenau und wo Goethes Winkelmann mal gewohnt hatte.

Neben der Kirche war das Rathaus besonders wichtig. Da amtierte der Bürgermeister. Das war der große dicke Mann im Frack mit Zylinder, der beim Schützenfest vorne mitmarschierte. Dann war das Haus mit den deutschen Fahnen geschmückt. Eine Fahne konnte kaum jemand zuordnen, dabei war sie besonders wichtig: Die gelb-weiße Fahne des (von Preußen verschluckten) Königreichs Hannover. (Obwohl: So recht trauerte niemand den Welfen hinterher.)




Das Rathaus zeigte sich also in zwei Bedeutungen: 1. Im Rathaus wird die Stadt regiert und 2. hat das Rathaus mit einer für die Stadt wichtigen Vergangenheit zu tun. Damit sind schon zwei Aspekte genannt, nach denen bei einem Rathaus gefragt werden kann: Die gegenwärtige Politik in der Stadt und die Gegenwart der Vergangenheit in und für die Stadt.




Im Jahr drauf, in der dritten Klasse, fuhren wir in die Kreisstadt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber in der vierten Klasse waren wir in der Hauptstadt des Regierungsbezirks, in Lüneburg, und besichtigten das Rathaus. In das Rathaus kam man damals und kommt man heute nur mit einer Führung. Ich erinnere mich an ein von innen beschlagenes Glasgefäß, in dem sich ein Knochen der Sau befinden soll, die angeblich Jäger zur Quelle jenes Salzes geführt hat, das Lüneburg zu einer der reichsten deutschen Städte des Mittelalters gemacht hat. Lüneburg, das war das Salz der Hanse.

Viele Jahrzehnte später habe ich als Lehrer eine Radtour mit meinen Tutanden aus der zwölften Klasse des Gymnasiums gemacht. Als wir bei der Rückfahrt an meinem Haus vorbei kamen, wollte ich mich von den Schülern verabschieden, sie würden doch allein den Weg zur Schule und damit nach Hause finden, den ich jeden Tag gefahren bin. Nein, sie kannten den Weg nicht und ich musste sie nach Hause bringen, 18 Jahre alt. In der Schule hatten sie die Öko-Probleme von Bangladesh und der Sahara kennengelernt, ist ja auch in Ordnung, aber den Grundriss von Hamburg kannten sie nicht.




Früher hieß das Schulfach „Heimatkunde“. Es zeigte, so habe ich es als Schüler in Erinnerung, in der Grundschule nur das Einzelne aus der Nachbarschaft, es zog keine Parallelen in die große weite Welt, es war nicht explizit exemplarisch. Das damals erworbene Wissen zeigte seine Potenz erst später, wenn man älter wurde.




Dieser Unterrichtsexperimentvorschlag ist für Hamburg geschrieben.


Dorfgründung – Verfassungsratschlag

Die Schüler*innen haben gerade ein Dorf gegründet oder eine Verfassung geschrieben. Nun brauchen sie einen Mittelpunkt ihres neuen Gemeinwesens: Ein Haus, in dem man sich versammelt, die Entscheidungen gefällt werden und ihre Ausführung organisiert und überwacht wird. Außerdem muss das Haus dem neuen Gemeinwesen auch einen angemessenen ästhetischen Ausdruck verleihen. Solche Häuser kennen wir schon, es sind in den Städten die Rathäuser. Wir müssen uns also einmal dort umsehen. Vielleicht ist es gut, mehrere Häuser anzusehen, um das Typische herauszufinden, damit das eigene zentrale Haus auch alles enthält, was notwendig ist.


Didaktisch-methodische Besonderheit

Kirchen haben im Westen einen Turm, im Osten den Altar und dazwischen den Raum des Gottesdienstes. Die Büroräume sind in einem anderen Gebäude. Man könnte ein Schema formulieren, mit dem das Allgemeine jeder einzelnen Kirche erschlossen werden kann, egal wie alt sie ist und in welchem Stil sie gebaut ist. Bei Rathäusern findet man mindestens einen Versammlungsraum, einen Amtsraum des Bürgermeisters und oft noch eine besondere Fassade an einem großen Platz, mit der nach außen die besondere Bedeutung des Hauses betont wird und oft auch ein politisches Programm ausgedrückt wird. Kirchen stehen wochentags meist leer und können dann besucht und besichtigt werden. In den Rathäusern ist aber regelmäßig irgendein Betrieb, so dass ihre Besichtigung nur durch eine Führung möglich ist, die auch oft ausfallen kann, weil im großen Saal gerade eine Sitzung oder auch nur eine Feier stattfindet.

Da zeigt sich gleich eine lehrkunstdidaktische Schwierigkeit: Die didaktisch-methodische Grundfigur - der Lehrer zeigt ein erstaunliches, Fragen hervorrufendes Phänomen und die Schüler erarbeiten handelnd und im Gespräch ihr Verständnis der Dinge - wird durch die ansonsten ja gewünschte Begegnung mit „Realität“ gestört: Zwischen dem Gegenstand und der Lerngruppe steht die Rathausverwaltung mit einem Besichtigungstermin und einem Rathausführer. Eine Rathausführer hat seine eigenen Programme und Redensarten; wenn er fünf Führungen am Tag machen muss, sind die Schüler nur eine Gruppe unter vielen. Und was in der Führung nicht vorgesehen ist, das gibt es nicht.

Ein Unterricht, der ein Lehrstück werden will, kann verschiedene Aspekte des Rathauses in den Blick nehmen. Dieser Bericht legt den Schwerpunkt auf die Fassade1. Sie will nach draußen etwas mitteilen. Die politisch wichtigsten Innenräume werden auch berücksichtigt, können im Unterricht aber auch weggelassen oder auf andere Weise behandelt werden.


Das Hamburger Rathaus

In Hamburg meint man, ein besonders schönes Rathaus zu haben. Schüler*innen sollten es also kennenlernen, Heimatkunde und politische Bildung gleichzeitig. Es gibt drei Möglichkeiten:

  1. Die Gruppe bestellt gegen Geld bei der Rathausverwaltung eine Führung. Der Rundgang beschränkt sich auf wichtige Räume im ersten Stock: Säle und Räume von Bürgerschaft und Senat. Gefahr: Kaum aktuelle Politik, dafür viele Anekdoten.
  2. Der Lehrer spricht mit einen Bürgerschaftsabgeordneten seiner Wahl an. Die MdBüs machen im an den Sitzungsterminen im Rahmen ihrer Wahlkreisarbeit kostenlose Führungen im Rathaus. Es werden die selben Räume gezeigt wie bei einer Profi-Führung, die Erläuterungen sind auch dieselben, stammen sie doch aus Unterlagen derselben Verwaltung. Vorteil: Der Abgeordnete kann einige Dinge lebhafter schildern, sitzt er doch selbst alle 14 Tage am Mittwoch auf den unbequemen Sesseln des mit Holz sehr warm, sehr angenehm gestalteten Bürgerschaftssaales. Aber nicht allen Teilnehmern solcher Führungen dürften alle politische Bemerkungen gefallen.
  3. Der Lehrer macht die Führung selbst. Nur kommt er dann nicht in das Innere des Rathauses. Das Äußere des Rathauses enthält politische Botschaften, sie geben Auskunft über das Selbstverständnis der Stadt.

Natürlich wäre es schön, die Schüler*innen könnten sowohl die Fassade als auch die Innenräume des Hauses erleben. Das dürfte aber nur möglich sein, wenn die Führung durch einen Abgeordneten in einer schulischen Projektwoche stattfinden kann. Das wäre die Luxusvariante, der Normalfall könnte sein, dass die Besichtigung innen oder außen vor Ort gemacht wird und die andere Besichtigung mit JPGs am Beamer. (In anderen Rathäusern dürfte das letztlich genauso sein: Man kann sich in Rathäusern eben nicht so frei bewegen wie in Kirchen außerhalb des Gottesdienstes.)


Die Rathausfassade

Abbildung: Das Hamburger Rathaus und der Rathausmarkt
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Die Lerngruppe kommt auf das Rathaus zu: Sie sieht einen großen leeren Platz, dahinter das Rathaus. Wuchtiger Sandstein umkleidet das Erdgeschoss, in der Mitte ein eher kleines Tor. (Wenn die Schüler später in das Rathaus hinein gehen, müssen sie sich einzeln durch die Eingangstür quetschen.) Horizontal in der Mitte befindet sich eine Reihe von Statuen, in der Mitte senkrecht springt die Fassade leicht nach vorne, darüber geht der Rathausturm nach oben. Was will das Rathaus nach außen zeigen? Man kann irgendwo anfangen.

Ich würde ganz rechts beginnen: Hinter einem kleinen Vorsprung befindet sich der Sitz des Bürgermeisters. Über seinem Fenster ist das Wappen der Hansestadt Bremen angebracht. Das fällt jedem Schüler sofort auf. Und sofort taucht die Frage nach dem Warum auf. Ein Schüler läuft nach ganz links, dort gibt es das Wappen von Lübeck. Ach, über allen Fenstern sind solche Wappen, Stadtwappen: Hamburg zeigt sich als große Stadt der Hanse. – Der Bürgermeister schaut durch sein Fenster, flankiert von zwei Kaisern. Es sind Joseph II. und Franz II. Joseph II. war Kaiser des alten Deutschen Reiches und zu recht berühmter Reformkaiser in seinen habsburgischen Stammlanden; Franz II. war der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und nach 1803 der erste Kaiser von Österreich, auch ein Habsburger. Aber was hat der Bürgermeister von Hamburg der 1890er Jahre mit den österreichischen Habsburgern zu tun? Der erste steht für ein Kaiserreich, dem Hamburg mal zugehört hatte, das es aber nicht mehr gab, und der andere für dessen Untergang und die Neugründung eines Reichs, zu dem Hamburg nicht gehört? – Man muss sich weiter umsehen.

Abbildung: Das Fenster des Ersten Bürgermeisters
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In der Mitte, unter dem Turm, stehen wieder zwei Kaiser. Sie rahmen den Ausgang aus dem Haus zum Balkon. Es sind Karl der Große und Friedrich II. Karl hält eine Kirche in der Hand, in Kirchen kann man so den Gründer erkennen. Friedrich hat eine Schriftrolle in der Hand, es soll ein Gesetz sein. – Über dem Ausgang zum Balkon eine Abbildung einer Frau, darüber ein lateinischer Text: „Die Freiheit, die schwer errungen die Alten, möge die Nachwelt würdig erhalten.“ – Eine defensive Haltung, irgendwas bedroht Hamburg. Vielleicht helfen die beiden Kaiser? Karl hat Hamburg gegründet, Friedrich hat es zur freien Reichsstadt gemacht. Diese kaiserliche Herkunft aus dem alten Deutschen Reich muss weiter in Geltung bleiben. – Dass Karl nie in Hamburg war, noch nicht mal in diesen nassen norddeutschen Gegenden, ist egal, Hamburg gilt unter den Historikern dennoch als karolingische Gründung. Die Urkunde, die die Erbauer des Rathauses Friedrich in die Hand gedrückt haben, dürfte es nicht gegeben haben, die Vorlage im Archiv ist eine Fälschung, das wusste man damals aber noch nicht. – Damit sind auch die vielen Kaiser auf der Festungsmauer verständlich: Sie stehen für die Abwehr von etwas, das Hamburg fürchterlich bedroht.

Abbildung: Der Balkon des Rathauses
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Sie werden dabei unterstützt von jenen Bürgern aus den Familien, die die Senatoren und Bürgermeister stellen, unterhalb der Kaiser in der Fassade angebracht und von jenen Handwerkern, die oberhalb dargestellt sind.

Was bedroht Hamburg nun aber? – Die Fassade wurde in den 1880er Jahren konzipiert. Im Süden Hamburgs war Hannover 1866 preußisch geworden und im Norden Holstein 1867. Hamburg war von Preußen umzingelt. Wohin man auch an der Fassade blickt: Jede Menge Habsburger, aber nichts von den Hohenzollern, nichts aus Preußen. Seltsam. Hamburg hatte 1880 Angst, von Preußen wirtschaftlich erwürgt zu werden. Aber Preußen-Deutschland machte zu dem Welthafen Deutschlands. Damit begann der rasante Aufstieg Hamburgs zur Millionenstadt. – Als das Rathaus 1897 eingeweiht wurde, war die politische Aussage der Front schon Geschichte. – Dumm gelaufen, man hat es in Hamburg vergessen und man sollte es, ist man in Hamburg, auch nicht ansprechen.

Anders und doch verwandt sieht es in den Innenräumen aus. Ob die Schüler*innen eine Führung erlebt haben oder nicht, die Innenräume müssen im Klassenzimmer besprochen werden.


Innenräume des Rathauses

Der Vollständigkeit halber die beiden wichtigsten Innenräume des Rathauses: Der Raum, in dem die Volksvertreter (die Bürgerschaft) tagen, und der Raum der Regierung der Stadt (Senat). Diese beiden Räume, wie immer sie nach den Organen benannt sind, die in ihnen tagen, gehören zur Minimalausstattung eines Rathauses. Fehlen sie, handelt es sich nur um ein Verwaltungsgebäude. – Man könnte im Unterricht auch mit diesen Räumen arbeiten, es hängt von den örtlichen Gegebenheiten ab.

Abbildung: Der Saal der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (© Bürgersschaft)
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Abbildung: Ratssaal – Sitzungssaal des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg
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Das Lüneburger Rathaus


Die Fassade des Lüneburger Rathauses

Das Hamburger Rathaus aus der Zeit vor dem Brand hatte auch Kaiser an der Fassade wie auch das Rathaus von Lüneburg. Dieses Gebäude ist eines der wenigen in Norddeutschland, das die Jahrhunderte fast unverändert überstanden hat. Allerdings wurde die Fassade im Jahr 1720 erneuert.

Abbildung: Die Fassade des Lüneburger Rathauses
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Die Fassade ist – anders als später in Hamburg – im Erdgeschoss einladend geöffnet, zwischen den Fenstern stehen im ersten Stocks vier Kaiser, in der Mitte eine Frauengestalt, und im zweiten Stock fünf Frauengestalten.

Die Fassade stammt macht den Eindruck, als solle sie altüberliefertes Denken noch einmal in Lüneburg befestigen. Vielleicht darf man deshalb so tun, als wäre es eine mittelalterliche Fassade. Sie wiederholen in der Tat ältere Darstellungen.

Abbildung: Die Kaiser an der Fassade des Lüneburger Rathauses
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Die Kaiser stehen für ihre (tatsächlichen oder nur behaupteten) Leistungen bei der Entstehung des gesatzten Rechts. Die mittlere Figur trägt die Inschrift „Gerechtigkeit“ mit der Erläuterung „Jedem das Seine“. Unter der Fassade ist ein öffentlicher Gerichtsort. Die Stadt ist ein Ort des gerechten Rechts. Das sagt sie nach außen, zu ihren Handels- und Bündnispartnern, und nach innen, am Marktplatz, zu ihren Bürgern. Inhalte dieses Rechts werden nicht erklärt. Von Freiheit oder Sozialstaat ist nicht die Rede, das sind spätere politische „Erfindungen“. Aber eine Bindung wird erklärt, man kann nicht willkürlich machen, was man will.

Abbildung: Die Inschriften bei den Kaisern des Lüneburger Rathauses
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Über dem Gesetz stehen die Göttinnen der Tugenden.

Abbildung: Die Göttinnen und die Tugenden
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Die Bürger sollen ihr Verhalten an diesen Tugenden ausrichten, aber auch die Rechtssprechung muss sich an Tugenden orientieren. Der Fall muss genau ermittelt werden, die Wahrheit soll gefunden werden. Das Urteil muss klug alle seine Folgen bedenken, es muss streng und nachsichtig zugleich sein. – Man müsste etwas darüber wissen, inwieweit diese Tugenden Teil der Alltagskultur waren, im politischen, im wirtschaftlichen und im juristischem Leben.

Interessant ist die mittlere Statue. Weil die Inschrift ein langer Satz ist, beginnt sie schon am Sockel der Figur und nicht erst auf dem Schild: Wenn Barmherzigkeit wichtiger ist als der Rechtsspruch, dann wird das Recht in einem doppelten Sinn aufgehoben: Das gesatzte Recht ist unvollkommen, es kann dem einzelnen Menschen oft nicht entsprechen, den Streit zwar an der gegebenen Norm entscheiden, aber oft bleibt die Entscheidung unbefriedigend. Jeder Jurist, jedes Gericht heute kennt diesen Mangel. Die christliche Barmherzigkeit ist von größerer Wichtigkeit. Von ihr her ist das Recht zu lesen und zu verstehen. – So gesehen, wird das kaiserliche Recht gleichsam nebenbei dementiert.

Die politische Aussage der Lüneburger Fassade –- Das Recht ist für das Zusammenleben in der Stadt von großer Wichtigkeit, aber es muss für jeden einzelnen Menschen in jedem einzelnen Fall barmherzig angewendet werden –- gilt auch heute noch, so auslegungsbedürftig sie ist. Sie ist uns ein wichtiger Hinweis. Die Aussage des Hamburger Rathauses –- Wir müssen uns wehren, da will uns jemand was wegnehmen, das uns die alten Kaiser gegeben haben – ist dagegen zeitbedingt, heute unverständlich, für unser neues Gemeinwesen nicht brauchbar.


Innenräume des Lüneburger Rathauses

Fotos aus den Innenräumen des Lüneburger Rathauses sind schwer zu bekommen, man darf bei einer Führung ohne Sondererlaubnis auch nicht fotografieren. Die „Gerichtslaube“ war der Sitzungsraum im Mittelalter. Er wurde in der Reformation und der Renaissance durch die „Große Ratsstube“ ersetzt. Die Grundrisse der Räume und ihre Inneneinrichtung sind einfach gehalten, man sitzt im Viereck. Viel wichtiger ist der Schmuck der Wände und der Fenster. Sie enthalten Selbstverständnis und Programm

Abbildung: Die „Neun Helden“ am Fenster der Gerichtslaube
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Die „Neun Helden“ sind ein in mittelalterlichen Rathäusern häufiger Topos für eine gute Regierungsweise2.

Abbildung: Das Jüngste Gericht – Schnitzerei in der Großen Ratsstube
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Die Ratsherren sollten bei ihren Entscheidungen bedenken, dass sie auf ewig zur Rechenschaft gezogen werden.


Das Ahrensburger Rathaus


Die Aussenseite des Ahrensburger Rathauses

Auch heute noch werden Rathäuser gebaut. Auch sie brauchen Sitzungsräume für die Politik und eine Fassade nach außen, die eine bedeutsame Mitteilung macht. Gleich in der Nähe von Hamburg, im Speckgürtel, liegt Ahrensburg, dort ist das Rathaus 1970 gebaut worden, vielleicht typische Nachkriegsmoderne, aber etwas nicht die klare Schlichtheit der Bauhausarchitektur der Provinz, wie man sie in den 1950er Jahren oft sah, sondern in der Art der 1960er Jahre brutalistisch überdreht. – Sechs oder sieben Stockwerke, die ersten beiden Fensterreihen sind Teil eines breiten Fundament, darüber drei Reihen, ganz oben eine Funkstation. Die Stockwerke zeigen Sichtbeton mit Kieseln und darüber Fenster, die wie ohne Rahmen gesetzt scheinen.

Erst 50 Jahre alt. Und doch schwer verständlich, wie aus längst vergangenen Tagen.

Abbildung: Das Ahrensburger Rathaus – Modell
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Abbildung: Das Ahrensburger Rathaus
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Über dem Eingang sind vier Reliefs angebracht, die vier Lebensalter darstellen: Kindheit, Jugendalter – Verliebtheit, Erwachsener – Vater und Mutter, alter Mensch. Nicht nur die unleserliche Art der Darstellung befremdet; ein Mitarbeiter der Hausverwaltung konnte mir nicht erklären, was auf den schwer erkennbaren mittleren Reliefs abgebildet ist. – Vor allem: was haben diese Inhalte mit der Arbeit eines Rathauses, mit Kommunalpolitik zu tun? Irgendwie ist das Rathaus auch für Kinder, Schule, Eltern und Alte zuständig, aber das gilt für die Bundesländer und die Gesamtrepublik auch.

Abbildung: Die Abschnitte des Lebens – Relief am Ahrensburger Rathaus
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Im Inneren des Ahrensburger Rathauses

Abbildung: Die Eingangshalle des Ahrensburger Rathausses
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Abbildung: Sitzungssaal im Ahrensburger Rathaus
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Der Sitzungssaal des Rathauses bezieht seine Dekoration nur aus dem Material der Wandverkleidung und der Oberfläche der Schränke.


Zur didaktischen Struktur


Das Entwerfen

Die Lüneburger Fassade zeigt nichts Lüneburg-Spezifisches, sondern allgemeine Forderungen an die Politik im Mittelalter: Das gemeinsame Leben braucht die Schaffung rechtlicher Regelungen und Verfahren. Das gilt auch heute noch. - Die Hamburger Fassade zeigt nichts Allgemeingültiges, sondern Zeitbedingtes, und das zeigt sie auch noch verspätet. Aber sie zeigt etwas Lokales, eine konkrete Aufgabe einer konkreten Stadt. – Wie ist die Ahrensburger Fassade einzuordnen? Man wollte „modern“ sein, in die Zeit passen und für die Zukunft planen. Aber die Zukunft der Energieeinsparung wurde nicht vorher gesehen.

Die drei Gebäude in Hamburg, Lüneburg und Ahrensburg stehen unter Denkmalschutz. Sie wurden und werden zwar renoviert und haustechnisch immer wieder auf den neuesten Stand gebracht, so weit es möglich ist. Änderungen darf der Bauherr nur den Genehmigung der vernünftigerweise sehr strengen Denkmalschutzbehörden vornehmen.




Wir wollen aber neu bauen. Wir brauchen – das haben wir nebenbei erfahren – ein Haus mit einem größeren Saal für Versammlungen und Feiern, einem kleineren Saal für die Ratsherren / Abgeordneten, vielleicht noch einen kleineren Raum für Sitzungen der Stadtregierung und einem möglichst repräsentativen Amtszimmer des Bürgermeisters, in dem er die wichtigen Gäste aus Berlin, Bern und aus Übersee empfangen kann. – Ein Architekt wird uns das schon zusammenstellen.

Viel wichtiger ist der politische Eindruck, den das Haus machen soll. Wie steht das Haus am wichtigsten Platz der Stadt? Was sehen die Bürger, wenn sie auf das Rathaus zugehen? Welcher Eindruck wird vermittel? Welche Ideen werden ausgedrückt?

Wir lassen uns von den alten Rathäusern, ihren politischen Funktionen und den mit den Gebäuden und ihren Gestaltungen ausgedrückten Regierungsgrundsätzen anregen, wir entwerfen aber für unsere Zeit und unsere Zukunft. Wir nehmen die Arbeiten der vergangenen Generationen und entwerfen, darauf aufbauend, unsere eigene Gegenwart und Zukunft.


Die Phasen des Unterrichtsvorhabens

Zuerst sollte eine Notwendigkeit entstehen, dass die Schüler*innen sich mit dem Gegenstand „Rathaus“ beschäftigen. Es kann aus der Heimatkunde gehen oder einem Bemühen um das grundlegende Verständnis von Staat, Demokratie, Kommunalpolitik und / oder Verfassung. Es geht in diesem Vorschlag, wie schon gesagt, um Schüler aus Hamburg. Also geht es um das Rathaus der Freien und Hansestadt Hamburg, zum Vergleich und zum tieferen Verständnis werden das alte Rathaus in Lüneburg und das neue Rathaus in Ahrensburg heran gezogen. Die vorliegenden Lehrstücke „Dorfgründung“ (Andreas Petrik) und „Verfassungsratschlag – Aristoteles“ bieten Anknüpfungspunkte: Es soll nun ein Rathaus zum Dorf oder zur Polis entworfen werden.

  1. Das Hamburger Rathaus: Analyse der Fassade als politisches Programm – Irritation
  2. Blick nach Lüneburg: Ach, so waren Fassaden in den alten Zeiten gemeint!
  3. Blick nach Ahrensburg: Noch eine unverständliche Fassade
  4. Entwurf einer Fassade oder vielleicht gar eines ganzen Rathauses für das eigene Dorf, die eigene Polis mit Dokumentation und Begründung

Seitenblicke auf die Innenräume der Rathäuser zeigen, wozu man praktisch-politisch ein Rathaus in der Gemeinde benötigt. Damit wird der eigene Entwurf inhaltlich gefüllter.




Dieses Unterrichtsvorhaben lässt sich am besten in einer Projektwoche verwirklichen. Ein Tag wird mit dem HVV in der Hamburger Innenstadt verbracht, das Rathaus wird von außen und möglichst auch von innen besichtigt; am nächsten Tag geht es per Bahn nach Lüneburg, dort ist eine Besichtigung gebucht; für den Besuch in Ahrensburg sollte man Kontakt mit der Hausverwaltung aufnehmen, eführte Besichtigungen gibt es dort nicht. Und an den nächsten beiden Tagen werden die Besuche in der Schule erst ausgewertet und dann wird ein eigener Entwurf erstellt.

Eine Schrumpffassung müsste sich damit begnügen, die Fassade des Hamburger Rathauses anzuschauen und, wenn man schon mal da ist, auch die Diele und den Hygeia-Brunnen, die Innenräume und die Rathäuser in Lüneburg per Dia-Vortrag mit einem Beamer in den Klassenraum zu bringen. Das wäre eine Frage der Gestaltung und der Begeisterung des Lehrers für die Sache.




Jedes Rathaus ist anders. Ein heimatkundlicher Unterricht hat natürlich das heimatliche Rathaus zum Gegenstand, er kann aber auch weitere Rathäuser aus der Umgebung hinzunehmen. Das wichtigste Haus müsste von den Schülern betreten und mit Erklärungen kundig besichtigt werden können. Dieser Unterrichtsvorschlag soll noch nicht einmal ein Muster sein, er mag für Kollegen eine Orientierungshilfe bei der Planung und Durchführung sein.







Fotos eigene Aufnahmen, einmal © Bürgerschaft Hamburg


Fußnoten

... Fassade1
Nach Anregungen von Stephan Benzmann und Hinrich Kindler.
... Regierungsweise2
https://de.wikipedia.org/wiki/Neun_Helden


Horst Leps
2023-05-06