Materialien zum russisch-ukrainischen Krieg

Zu einer aktuellen Unterrichtseinheit „Krieg und Frieden“ mit Elementen eines Lehrstücks

Als PDF: GesamtEntwurf10

Der russisch-ukrainische Krieg, Klassiker zum Krieg und einige moderne und aktuelle Texte

Inhaltsverzeichnis

Dr. Horst Leps – https://www.leps.de – horstleps@gmx.de

 

 

 

0.1 Didaktisch-methodische Vorüberlegungen

Die Bedeutung des Gegenstandsbereiches „Krieg / Frieden“ selbst muss momentan nicht begründet werden. Anders steht es mit der Frage, wie dieser Gegenstandsbereich und mit welchen Zielen dieser Bereich unterrichtet wird.

Gleich zu Beginn der Planung ist eine wichtige Entscheidung zu treffen: Wie parteiisch soll/darf hier der Unterricht sein? Russland hat einen Krieg angefangen, die Menschen des überfallenen Landes leiden, sterben. Damit ist klar, welche politische Stoßrichtung der Unterricht haben soll. Oder?

Den Journalismus hat die „Zeitenwende“ (Bundeskanzler Scholz)1 eingeholt, aber auch den Politikunterricht? Die Medien liefern ihm das Material. Was ist, wenn die Medien parteiisch sind, und zwar allesamt? Der Politikunterricht verlöre damit seine Aufgabe und sein Potential, zu einer „Allgemeinbildung der epochaltypischen Schlüsselprobleme“2 (Wolfgang Klafki) beizutragen. Es geht immer noch (mit Wolfgang Hilligen) um das „Existentielle“3. Atomwaffen sind womöglich letztlich ein wichtigeres Thema4, stehen aber nicht vergleichbar im öffentlichen Interesse.

Der Politikunterricht muss sich seine Quellen inzwischen selbst suchen.

Man mag sagen, dass der Beutelsbacher Konsens für die Innenpolitik geschrieben wurde und nicht für die Außenpolitik, schon gar nicht für die Kontroversen/Konflikte/Kriege zwischen Staaten. Dieser Einwand würde jedoch den didaktischen Sachverhalt verfehlen. Zum einen, weil der „Beutelsbacher Konsens“ einem Jahrzehnt entstammt, in dem gerade Kontroversen zur Außenpolitik die Debatte prägten. Zum anderen, weil weiterhin umstritten ist, wie Deutschland auf den Krieg reagieren soll. In der veröffentlichten Meinung geht es vor allem darum, wie schnell und wie sehr die Ukraine von Deutschland unterstützt wird. Unterhalb dieser Ebene – im „VolK“ – ist man sich jedoch einig gar nicht einig und klar, wie die Ukraine überhaupt unterstützt werden soll5. Es gibt – vielleicht kann man später sagen: es gab über lange Zeit – eine Kluft zwischen der Öffentlichkeit der Medien und dem, wie „das Volk“ denkt6. Die Schüler*innen kommen aus dem „Volk“, sie kennen verschiedene Sichtweisen auf diesen Krieg. Viele würden es deshalb als Überwältigung erleben, wenn der Unterricht sie die von der Mehrheit der politischen Entscheider geteilte Meinung drängen wollen. Es wäre eine Aufforderung zur „Zweisprachigkeit“: Was immer zu Hause gedacht wird, in der Schule wird eine bestimmte Denkweise erwartet.

Es könnte ferner sein, dass politisch interessierte Schüler*innen alle Zugänge zu Massenmedien nutzen, die es im Internet-Zeitalter gibt. Auch wenn die russischen Sender „RT-deutsch“ und „Sputnik“ von den Providern in Deutsch blockiert werden, sind ihre Inhalte weiterhin präsent. Dann sind es eben deutsche oder englische Web-Seiten, auf denen ähnliche Inhalte zu lesen sind.

Es muss alles auf den Tisch (können): Alles, was Schüler*innen in den Unterricht mitbringen. Und alles, was zum Verständnis der Verhaltens der verschiedenen Akteure notwendig ist. Diese Materialien müssen „kühl“ analysiert werden können7. Gerade in einem Krieg können Emotionen das Urteil beeinträchtigen. Propaganda wirkt bis in den Unterricht hinein. Schüler*innen müssen das wissen und – ansatzweise – lernen, damit umzugehen. „Da musst du eben aufpassen, daß du nicht hereinfällst.“ (Kurt Gerhard Fischer8)

Es kann gleichzeitig aber auch nicht um eine neutrale Äquidistanz gehen, die die Menschen teilnahmslos ihrem Schicksal überlässt. Es werden sicher Filme einbezogen werden, die es in großer Zahl auf Youtube und Tiktok gibt. – Den Schüler*nnen muss Gelegenheit gegeben werden, ihre eigene Sicht sowohl sachlich als auch emotional zu äußern.

Ein handlungsorientierter Politikunterricht sucht immer nach Lösungen für Aufgaben und Probleme. Wie kann Frieden erreicht werden? Sollen Schüler*innen im Unterricht nach Möglichkeiten suchen? Oder muss man nicht vielmehr sagen, dass Politik und Kriegsverlauf sich so wenig vorhersehbar entwickeln, dass nicht nur die Schüler*innen damit überfordert, sondern auch jeder Politiker und jeder General?

Die jeweilige politische Situation von Krieg und Frieden kann sehr unterschiedlich sein. Ebenso können die vorherrschenden Auffassungen und die Minderheitenmeinungen in unterschiedlicher Weise voneinander abweichen. Außerdem muss davon ausgegangen werden, dass die politischen Auffassungen der Unterrichtenden höchst verschieden sein können. Ebenso ist es möglich, dass die Schüler*innen in ihren Elternhäusern sehr unterschiedliche Auffassungen hören. Ein Unterricht, der in möglicherweise grundlegenden Fragen zu Konflikten zwischen den Kindern und Jugendlichen einerseits und den Eltern andererseits führt, ist – sag ich einfach mal so – pädagogisch nicht erlaubt. Vorgaben mit durchgestaltete Unterrichtseinheiten sind nicht möglich.

Die einfachste Vorbereitung und Struktur des Politikunterrichts, lernen die Studierenden, ist das querliegende DIN-A4-Blatt, in der Mitte gefaltet, mit gegensätzlichen Positionen auf der linken und der rechten Seite des Papiers: Die Kontroverse. Aber sie setzt voraus, dass der Konflikt übersichtlich gestaltet werden kann und die Schüler*innen in ihren Interessen angesprochen werden. Aber so wird sich ein Unterricht über einen Krieg und „unser“ Verhältnis zu ihm kaum gestalten lassen. Es wird schon schwer genug sein zu verstehen, was dort stattfindet9.

Nur eines sollte gelten: Dass die Lernenden sich ihre Auffassungen selbst bilden können10. Aber auch das kann nicht gewährleistet werden. Die jeweils aktuelle politische Atmosphäre schlägt in den Unterricht durch, sie beeinflusst nicht nur direkt und indirekt die Lehrer*innen und Schüler*innen, sie gibt auch den Rahmen für die Zugänglichkeit von Material. Das, was vorherrschend gelten soll, ist schnell zu haben, alles andere ist möglicherweise selbst im Internet nicht zu finden.

Für jeden aktuellen Fall bieten sich dann eine Analyse mit den „Giesecke-Kategorien“11 an.

Für eine Konfliktanalyse … schlägt Giesecke eine Liste von ganz bestimmten Kategorien vor. Sie enthält neben dem Konfliktbegriff selbst genau 10 weitere Kategorien: Konkretheit, Macht, Recht, Interesse, Solidarität, Mitbestimmung, Funktionszusammenhang, Ideologie, Geschichtlichkeit und Menschenwürde. Beim Konfliktbegriff geht es um die Aufdeckung der grundsätzlichen Gegnerschaft. Über die Kategorie Konkretheit sollen die Einzelheiten der Auseinandersetzung erschlossen werden. Die Kategorie Macht fragt nach faktischen Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Die Rechtskategorie zielt auf den formalen Rahmen, innerhalb dessen der Konflikt ausgetragen wird. Über die Kategorie Interesse sollen die Positionen und Perspektiven der Beteiligten transparent werden. Mitbestimmung führt zur Frage nach Möglichkeiten, Interessen zur Geltung zu bringen. Solidarität ist jene sozialethische Grundhaltung, die denen zur Verfügung steht, deren Interessen zu kurz kommen, wenn sie jeder für sich allein vertreten würde. Mit Funktionszusammenhang ist die Tatsache der vielfachen Vernetztheit und der Wechselwirkungen gemeint. Ideologie verweist auf Ordnungsvorstellungen, mit denen Interessen und Handlungen gerechtfertigt werden. Über die Kategorie der Geschichtlichkeit soll bewusst werden, dass jeder Konflikt seine Entstehungsgeschichte hat. Und Menschenwürde ist schließlich der übergeordnete Maßstab zur Bewertung von Konflikten und deren Lösungen.

Weil solche Kategorien zu Analysen führen können, die zu lang und zu komplex sind, muss ausgewählt werden. Der Gegenstandsbereich Internationale Politik selbst ist schon der komplexeste Bereich der Politik, umfasst er doch die Innenpolitik aller beteiligten Staaten und deren Beziehungen untereinander, dasselbe muss über Wirtschaftspolitik, Infrastrukturpolitik, Sozialpolitik etc. gesagt werden. Nicht ein Bereich von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und und seine internationale Verknüpfung kann ausgeschlossen werden.

Daraus folgt: Der Gegenstandsbereich ist viel zu komplex. Es gibt nur Kenner bestimmter Politikbereiche in den Internationalen Beziehungen. Und es gibt keine Spezialisten für die Gesamtheit der Internationalen Politik, denen der Unterricht folgen könnte. Weil diese Spezialisten meist mit politischen Institutionen und/oder Organisationen („ThinkTanks“ beispielsweise, von Interessenten finanziert) verbunden sind, ist noch einmal Vorsicht geboten.

Solchen Schwierigkeiten wird in der öffentlichen Diskussion und sicher auch oft in der Schule durch Moralisierung des Falls ausgewichen: Eine der Konfliktparteien hat – tatsächlich oder vermeintlich – eine unerlaubte Handlung begangen oder hat unzulässige Ziele. Schon reduziert sich die Zahl der im Unterricht zu bearbeitenden Aspekte auf eine handhabbare Anzahl. Aber das wäre Gesinnungsunterricht.

Daraus folgt: Es ist schlicht nicht möglich, einen internationalen Konflikt, gar einen Krieg, in der Schule umfassend genug zu bearbeiten. Nur Aspekte können zur Sprache gebracht werden. Aber welche?

Ich schlage diese Sammlung vor12:

  1. Klassische Positionen zu Krieg und Frieden, lehrkunstdidaktisch eben13. Von Thukydides und den Meliern14 über Kants „Ewigem Frieden“15 zur Clausewitz „Vom Kriege“16. Zwischenstationen sind möglich: die Lehre vom „gerechten Krieg“17, Luthers „Ob-Kriegsleute-auch-in-seligem-Stande-sein-können18.
  2. Zum jeweils aktuellen Konflikt/Krieg müssen auch die zeittypisch-grundlegende Positionen der Gegenwart im Unterricht behandelt werden (zB aus der UN-Satzung19, die Schlussakte der KSZE20 und Folgedokumente21), die so gut wie immer bei einem Konflikt/Krieg zur Deutung herangezogen werden; es kann auch sinnvoll sein, aktuelle konzeptionelle und theoretische Ansätze wie den „Palme-Report II“22 oder einen Text von einem viel zitierten Politikwissenschaftler aufzunehmen23,
    • es gehören aber auch zentrale Texte des aktuellen Konfliktes/Krieges hinzu
    • und Materialien, die gerade zum Zeitpunkt des Unterrichts aktuell sind.

Die Texte sind alle gekürzt, die Kürzungen sind nicht ausgewiesen, die Textoriginale können im Internet gefunden werden.

Über die Reihenfolge und der Methode der Behandlung dieser Texte im Unterricht kann am Schreibtisch aber nicht vorweg entschieden werden. Jeder Konflikt/Krieg ist anders, jeder Tag während des Konfliktes/Krieges unterscheidet sich vom anderen. Will der Politikunterricht den Schüler*innen helfen, die täglichen Meldungen und Kommentare der Massenmedien zu verstehen, muss der Unterricht für das Tägliche offen sein. Unterrichtssequenzen lassen sich deshalb nicht vorwegnehmen.

Es können jedoch Zusammenhänge beschrieben werden, die in irgendeiner Weise auch in einem möglicherweise chaotisch verlaufenden Unterricht angesprochen werden sollten.

So könnte es sinnvoll sein, in einer politisch ruhigeren Phase „klassische“ Positionen in den Unterricht einzuführen. Sie können den Schüler*innen vielleicht Sichtweisen, Fragen und womöglich gar Richtungen von Antworten zeigen, die zum Verständnis der aktuellen Situation helfen können. (Damit wäre vielleicht auch eine Brücke zwischen der aufwendigen Lehrkunst und ihren Lehrstücken, oft nicht handhabbar im alltäglichen Unterrichtsbetrieb, und einem am aktuellen Geschehen orientierten Alltagsunterricht über Politik ausprobiert.)

Thukydides zeigt einen (vermutlich fiktiven) Dialog zwischen einer überlegenen Macht und einer kleinen Polis während des peloponnesischen Krieges, zwischen denen, die ihre Gewalt durchsetzen können (Athen), und denen (Melos), die vielleicht etwas hoffen dürfen, aber sich letztlich doch zu fügen haben. Man könnte sagen: So sehen die Verhältnisse aus, so war es, so ist es und so wird es sein. Solch eine Sicht hätte Folgen für die Stellungnahme: Die Menschen sind letztlich nicht friedensfähig, deshalb ist notwendig, sich mit Umsicht und Klugheit auf Kriegsgefahren vorzubereiten und, im Fall des Falles, ihn auch mit der Absicht zum Sieg zu führen. – Dieser Text lässt sich für seine Verwendung in einer Mittelstufenklasse so kürzen und aufbereiten, dass seine Aussageabsicht erhalten bleibt.

Anders dagegen Immanuel Kant: In der Textform eines Friedensvertrags, wie er zu seiner Zeit gebräuchlich war, aber versehen mit langem theoretischen Anhang, formuliert Kant angesichts der Kabinettskriege des 18. Jhdts und der Revolutionskriege seine Sicht auf die Zukunft von Krieg und Frieden. Trotz der Katastrophen, die Kant im Siebenjährigen Krieg selbst erlebt hat, ist er letztlich optimistisch: Es wird eine Zeit geben, in der kein Krieg mehr sein wird, weil er der Vernunft widerspricht. Er argumentiert zweistufig: Wie der Mensch gegen seinen Egoismus den Staat braucht, um überleben zu können, vom Naturzustand in den staatsbürgerlichen Zustand wechseln muss, so müssen (und werden!) die Staaten ihre Sicherheit gegenseitig in einem Föderalismus der republikanischen Staaten gewährleisten. Weil der Krieg den Handel behindert, wird schon das wirtschaftliche Interesse der Bürger gegen den Krieg sprechen. Die Bürger werden schon deshalb nicht für einen Krieg stimmen, weil sie selbst die Mühen und Lasten des Krieges tragen müssen. –

Die Gedanken beider Texte wirken bis in die Gegenwart. Es geht letztlich um die Frage, ob die Menschheit angesichts der Gewalt und der Zerstörungen eines Kriegs lernfähig ist: Können Kriege abgeschafft werden, zumindest schrittweise eingeschränkt und eingehegt werden? Oder hat man es mit dem unabänderlichen Gesetz zu tun, dass Verbände von Menschen, früher als Stamm oder als Polis, heute als Staat oder Staatenverbund, Macht gegen den Willen anderer Stämme, Poleis, Staaten oder Staatenverbünde ansammeln wollen? Für die eine Sicht spricht, dass Menschen den Staat als Ordnung als Friedens geschaffen haben, freilich anfällig. Andererseits gibt es, allen für den Frieden geschaffenen internationalen Ordnungen zum Trotz, immer wieder Kriege. Soll versucht werden, die gemeinsamen Interessen aller Menschen hervor zu heben, um auf diese Weise eine über die einzelnen Staaten hinausgehende Ordnung des Friedens Schritt für Schritt, allen Rückschlägen zum Trotz, zu schaffen? Für diesen Gegensatzes stehen hier die Texte der Olof-Palme-Kommission und von Carlo Masala.

Zwischen diesen beiden klassischen Positionen steht die Lehre vom „gerechten Krieg“, wie sie im christlichen Europa entstanden ist. Der Ausdruck wird von Schüler*innen meist missverstanden, als ginge es darum, wie man einen Krieg anfangen könne, den man obendrein noch gerecht nennen kann. Sie vermuten hier Täuschung. Stattdessen geht darum, die Zahl der Kriege einzuschränken, indem der Einsatz im Krieg an begrenzende Bedingungen geknüpft wird. Letztlich ist es bei Martin Luther nicht anders: Dass Krieg zum Schutze der Mitmenschen geboten sein kann, sogar als Akt der Nächstenliebe, schließt eben auch andere Motive aus.

Von Kants Text zum „Ewigen Frieden“ kann eine Linie in die Gegenwart gezogen werden: Zur Uno und zur KSZE (heute OSZE und Charta von Paris). Die Satzung der UN enthält (abschließend) die Regeln für einen Kriegseinsatz, die Charta von Paris eröffnet den Weg zu einem Europa der gemeinsamen Sicherheit. Die Charta will eine Föderation republikanischer Staaten schaffen, die zusammenarbeiten und gegenseitig aufeinander in Sicherheitsfragen Rücksicht nehmen.

Über Kants Idee hinaus beschäftigt sich die Charta mit den nationalen Minderheiten, ein in Deutschland meist übersehener Aspekt. Die griechische Polis war politisch-kulturell homogen, die aufgeklärten Herrscher des 18. Jahrhunderts interessierten sich nicht für nationale Minderheiten, in Deutschland gelten die kleinen Minderheiten der Dänen, Friesen und Sorben als voll integriert. In weiten Teilen der Welt fallen aber Staatsgrenzen und ethnische Territorien nicht zusammen, oft ist es vielmehr so, dass die verschiedenen Ethnien durcheinander wohnen. Sie können sich durch Herkunft, Sprache und Religion unterscheiden. Sie haben auch unterschiedlich starken politischen Einfluss in ihrer Region. Man kann fast alle Staaten der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, des russischen Zarenreiches und des osmanischen Reiches dazu zählen, also ganz Osteuropa jenseits von Polen und Südosteuropa südlich von Österreich. Diese Länder und Staaten waren oder sind Kriegsgebiete oder können es werden, wenn die Gegensätze vor Ort sich verschärfen, insbesondere aber, wenn diese Gegensätze von außen befördert werden. Ein an Demokratie und Menschenrechten orientierter Politikunterricht muss diese Probleme in den Blick nehmen, eine in Deutschland nicht gerade gängige Frage. – Es ist ein Problem, für das noch nicht die eine Lösung gibt, die den Staaten zur Nachahmung empfohlen werden kann.

Vielleicht muss da wirklich jeder Staat seinen eigenen Weg finden. Denn in solchen Konflikten verbergen sich oft uralte Vorgänge, die eine Ethnie hat einmal die andere unterdrückt, macht es vielleicht immer noch, oder die Unterdrückungsverhältnisse haben sich umgekehrt. Oder die eine Ethnie ist Teil eines größeren Zusammenhangs von jenseits der Grenzen, so dass sie immer als Ansammlung potentieller Feinde und Volksverräter gilt. Es gibt Gegenden in Europa, in denen die Kriege des letzten Jahrtausends, von denen ein deutsche Schüler nie etwas hört, immer noch tägliche Gegenwart sind.

Wegen dieses Spannungspotentials widmet die Charta von Paris den ethnischen Minderheiten einen ganzen Absatz, der in den Materialien erwähnt wird. Der neue Palme-Report erwähnt das Problem ebenfalls. Frage wäre aber, ob Schüler*innen einen Zugang zu diesem Thema finden. Wenn auch große Teile der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, so werden die Migrantengruppen doch nicht als nationale Minderheiten wahrgenommen, die gemeinsam eigene kulturelle und politische Ansprüche erheben könnten, sondern zumeist als zufällige Anhäufung von Individuen, die ihre Probleme allein zu lösen haben. – Dennoch: Ob man die verschiedenen Minderheitenfrage in den meisten osteuropäischen Staaten nur als Anlässe oder gar als Ursache von Spannungen, Konflikten, Gewalt und Krisen sieht, sie müssen als Probleme und Aufgaben im Unterricht auftauchen, sollen dort Fragen von Krieg und Frieden in Europa geklärt werden.

Wer Krieg „verstehen“ will, steht vor keiner leichten Aufgabe. Die Massenmedien liefern ununterbrochen Schlachteninformationen, sie beschäftigen sich mit den Waffen und zeigen zerstörte Städte und Panzer. Lehrer*innen und Schüler*innen könnten versucht sein, selbst den kleinen Feldherren zu geben. Clausewitz bietet Möglichkeiten, das Geschehen einzuordnen. Von ihm kennt jeder die Formulierung vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Was bedeutet das? Clausewitz gibt damit ein Mittel, Ursprung, Verlauf und Ergebnis eines Krieges zu verstehen. Krieg fängt nicht einfach so an. Er hat seine Vorgeschichte. Es nicht entscheidend, wer einen Krieg „anfängt“, zumal sich oft noch ein Anfang der Gewalt vor dem Anfang des Krieges finden lässt. Man muss vielmehr nach der politischen Vorgeschichte des Krieges, den Zielen und Handlungen der beteiligten Staaten vor allem vor dem Krieg fragen. Ohne die politische Vorgeschichte kann kein Krieg verstanden werden. Aber auch der Verlauf eines Kriegs wird von den politischen Absichten der beteiligten Staaten bestimmt. Allerdings wird ein Krieges auch von bestimmten kriegstypischen Momenten geprägt, vor allem vom Kräfteverhältnis zwischen den Parteien. Aber auch die Motivation der Soldaten, die Geografie, der Stand der Technik und noch vieles mehr, das sich gar nicht vollständig aufzählen lässt.

(Exkurs: Das alles kann man über jeden Bereich des menschlichen Zusammenlebens sagen. Niemand überblickt die Poltik auch nur eines Dorfes wirklich, von einer Stadt oder gar einem ganzen Staat gar nicht erst zu reden. Jene Art von Experten für „Internationale Politik“ oder „Sicherheitspolitik“, von denen die Massenmedien immer wieder höhere Einsichten für das Publikum erwarten, kann es deshalb gar nicht geben. So mancher, der nicht so viel gelesen hat wie diese „Experten“ könnte deshalb mit einiger Lebenserfahrung ein besseres Gefühl für die Dinge haben.)

Clausewitz zeigt ferner, dass Gewalt und Zwang bestimmende Handlungsweisen im Krieg sind, je größer und bedeutender das politische Motiv der Beteiligten, desto gewalttätiger der Krieg. Krieg heißt „Niederwerfung“ des Feindes, Tod und Zerstörung. Es gibt letztlich keinen Zwang zur Mäßigung der Gewalt, mit der sich die Parteien sich gegenseitig bekämpfen. Wer einen Krieg in den Blick nimmt, muss wissen, dass es um das Äußerste gehen kann. – Verlauf und Ausgang eines Kriegs können auch nicht am grünen Tisch oder am Sandkastn vorher gesagt werden. Es kommt immer alles anders.

Aktuell geht es um den Krieg Russlands in der Ukraine / gegen die Ukraine. Eigentlich müsste der Unterricht genetisch vorgehen und mit der Krise von 2013/14 beginnen, in der alle Verhältnisse neu strukturiert worden sind und die Positionen der Kontrahenten und Kämpfenden von 2022 festgelegt worden24. Aber das wäre schon eine ganze Unterrichtseinheit nach Art des Faches Geschichte, insbesondere dann, wenn der Unterricht die verschiedenen Sichtweisen berücksichtigt werden. Soll die Vorgeschichte kurz gefasst werden, müsste die diplomatische Krise des Jahres 2021 ausreichen. Dazu enthält die UE einen Text aus der ukrainischen Regierung aus 2021 über die Krim25, die Charta der Beziehungen der USA und der Ukraine auch aus 202126, die Vertragsentwürfe Russlands27 an die USA28 und die Nato29 vom 17. Dezember 2021, die gemeinsame Pressekonferenz von Präsident Putin und Bundeskanzler Scholz zum Abschluss von dessen Besuch in Moskau am 15. Februar 202230, die Rede des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin zum Beginn der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine vom 24.02.202231, die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 26.02.2022 mit der Ausrufung einer „Zeitenwende“32. Was sagen die Staaten der Vereinten Nationen33? Und es muss um die Wiedergewinnung des Friedens gehen, hier am Beispiel eines Friedensplans der italienischen Regierung, vom Mai 2022, der in Deutschland kaum bekannt. Eine italienische Zeitung berichtet über ihn34.

In diesem Konflikt ging es auf diplomatischer Ebene um die Frage, ob Russland ein Recht hat zu verlangen, dass mit ihm das Verhältnis der Ukraine zur Nato abgestimmt wird. Russland und der Westen bezogen sich auf den selben Abschnitt aus der Charta von Paris und den Nachfolgedokumenten von Istanbul und Astana, die hier nicht abgedruckt werden.

Dazu kommt der innerukrainische Konflikt. Es war bis vor kurzem auch in Deutschland noch umstritten, ob es eine gemeinsame ukrainische Nation gibt35. Für die einen ist es notwendig, die Bevölkerung der Ukraine zur politisch-kulturellen Nation zu formen, während andere die Ukraine als einen Vielvölkerstaat ansehen. Dementsprechend unterschiedlich sind die Vorstellungen von der politisch-kulturellen Prägung des Staates, hier ausgedrückt im Sprachgesetz36. Das Mehrheiten-Minderheiten-Problem zeigt sich auch in der Existenz der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk und dem Minsk2-Abkommen37.

Für den Krieg selbst gibt es einen Auszug aus der Rede, mit der russische Präsident Wladimir Putin am 24.02.2022 die „Militäroperation“ begründete38, die Reaktion des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in einer Regierungserklärung vom 26.02.202239 (Stichwort „Zeitenwende“) und einen Auszug aus der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum Deutschen Bundestag.

Es gibt noch andere Interpretationsschienen, die auf russischen Imperialismus und Nationalismus verweisen, die leicht im Internet zu finden sind40.

 

 

Die folgende Zusammenstellung enthält zwei Mal dieselben Texte. Im ersten Teil sind es nur Kürzest-Fassungen, die – hoffentlich den Kern der Sache repräsentieren – von einer Lerngruppe schnell erfasst werden können. Im zweiten Teil handelt es sich nicht um die vollständigen Originaltexte, sondern um längere Auszüge, die zum einen in der gymnasialen Oberstufe verwendet werden können, aber auch als Materialien zur Unterrichtsvorbereitung für die Lehrkraft. Dass der Auszug aus Carl v. Clausewitz „Vom Kriege“ sehr lang ist, liegt daran, dass dieser Text zwar viel zitiert, jedoch kaum gelesen wird. Die Einarbeitung in die Eigentümlichkeit dieses Denkers soll erleichtert werden41.

Weitere Quellen und Stellungnahmen sind nicht in den ersten Teil dieser Sammlung mit aufgenommen worden. Die Lehrer*innen mögen diese oder andere Stellungnahmen zur Entwicklung zur Entwicklung ihrer Leitfragen verwenden.

 

Dieser Krieg wird in seinem Verlauf noch viele Ereignisse zeitigen. Möglicherweise wird er doch schnell auf dem Verhandlungsweg beendet, möglicherweise wird er noch Jahre dauern. Es ist deshalb nicht sinnvoll, aktuelle Materialien in solch eine Sammlung aufzunehmen.

In dieser Zeit des Internets und der „Informationskriege“ werden die Schüler*innen auch selbst auf Materialien stoßen, die sie möglicherweise nicht einordnen können. Der Unterricht darf für solche Texte und Videos nicht gesperrt werden. Vielleicht helfen dann die „Prinzipien der Kriegspropaganda“42.

Wie auch immer: Es muss die Sequenzierung des Unterrichts über diesen Gegenstand, diesem Gegenstandsbereich muss der Lehrkunst der Lehrerin / des Lehrers überlassen bleiben, dem Gespür für das Richtige im richtigen Moment.

 

1 Unterrichtsmaterialien – Zitate

1.1 Klassische Texte

1.1.1 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg

84 Auch gegen die Insel Melos unternahmen die Athener einen Feldzug mit einer Flotte von 30 Schiffen. Die Melier wollten den Athenern nicht so untertan sein wie die anderen Inselvölker. Die Feldherren schickten Gesandte zu Verhandlungen in die Stadt.

86 Die Ratsherren der Melier: »Ihr wollt selbst Richter sein über alles, was gesprochen werden wird. Und das Ende davon wird schließlich sein: Siegen wir in dem Rechtsstreit und geben daher nicht nach, so droht uns Krieg, lassen wir uns aber von euch bereden, Knechtschaft.

89 Die Athener: Nun gut, wir selbst wollen nun nicht mit schön klingenden Worten eine unglaubwürdige Rede vortragen. Nein, sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.

92 Die Melier: Wie könnte für uns Unterwerfung ebenso vorteilhaft sein wie für euch Ausweitung der Herrschaft?

93 Die Athener: Weil ihr, statt Ärgstes zu erleiden, euch fügen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vernichten müssten, dabei gewinnen würden.

114 Danach kehrten die athenischen Gesandten zum Heer zurück.

116 Als nach diesem Vorfall ein weiteres Heer aus Athen ankam und nun die Belagerung mit aller Härte durchführte, ergaben sich die Melier, da auch noch Verrat hinzukam, bedingungslos den Athenern. Diese töteten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei.

 

1.1.2 „Gerechter Krieg“

Theologische, juristische und philosophische Lehre. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, unter welchen Umständen ein Krieg und die Beteiligung daran gerechtfertigt werden kann.

Sowohl bei der Lehre vom gerechten Krieg als auch im modernen Völkerrecht geht es um die Zähmung des Krieges, indem man versucht, ihn Regeln und Beschränkungen zu unterwerfen.

Klassische Kriterien eines »Gerechten Krieges«:

  • Es muss einen gerechten Grund geben, und dieser muss schwerwiegend genug sein. Als solch ein Grund gilt Selbstverteidigung gegen erlittenes oder drohendes Unrecht.
  • Das Kriegsziel muss zu rechtfertigen sein, also Wiederherstellung des Friedens, nicht aber Unterwerfung, Rache etc.
  • Es muss eine befugte Staatsmacht sein, die den Entschluss zum Kriege fasst.
  • Ein Krieg muß das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen Wege ausgeschöpft wurden.
  • Die Verhältnismäßigkeit der Mittel muss beachtet werden, der Schaden der Abwehr darf nicht größer sein, als der abzuwehrende Schaden .
  • Ein aussichtsloser Widerstand ist nicht gerecht.
  • Bisweilen wird auch aufgeführt: die Kriegsführung muss zwischen Beteiligten und Unbeteiligten unterscheiden.

Kritik:

Der Begriff wird dahingehend kritisiert, dass seine Kriterien nicht durchführbar seien und deshalb auch immer wieder durch Täuschung oder Selbsttäuschung seitens der Kriegsparteien ad absurdum zu führen waren, sodass oft nur Rechtfertigungsargumentationen für Kriegsführung und Soldatengehorsam dabei heraus kamen.

Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Theorie, weil sie immer wieder herangezogen wird. In der aktuellen Lage (2003) wird sowohl versucht, die Kriegspläne gegen den Irak als auch die Opposition gegen diese Pläne im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg zu begründen. Der neue katholische Katechismus argumentiert mit der Aufnahme und Weiterführung der Idee, um jeglichen Angriffskrieg sowie den Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich zu ächten.

 

1.1.3 Martin Luther: „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“

Daß man nun viel schreibt und sagt, was für eine große Plage ein Krieg sei, das ist alles wahr. Aber man sollte daneben auch betrachten, wievielmal größer die Plage ist, der man durch Kriegführen wehrt. Ja, wenn die Leute rechtschaffen wären und gern Frieden hielten, so wäre Kriegführen die größte Plage auf Erden. Wohin rechnest du aber ein, daß die Welt böse ist, die Leute nicht Frieden halten wollen, rauben, stehlen, töten, Weib und Kind schänden, Ehre und Gut nehmen? Solchem allgemeinen Unfrieden in aller Welt, vor dem kein Mensch beste­hen könnte, muß der kleine Unfrieden, der da Krieg und Schwert heißt, steuern. Darum ehrt Gott auch das Schwert so hoch, daß er’s seine eigene Ordnung nennt, und will nicht, daß man sagen oder wähnen sollte, Menschen hätten es erfunden oder eingesetzt. Es sind alles seine Werke und seine Gerichte.

 

1.1.4 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen Mächten die Geldmacht wohl die zuverlässigste ist, so sehen sich Staaten, freilich nicht aus moralischen Gründen, gezwungen, den edlen Frieden zu befördern. – Auf die Art garantiert die Natur, durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst, den ewigen Frieden; freilich nicht mit hinreichender Sicherheit.

Voraussetzungen zum ewigen Frieden:

Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein.

Sie enthält die Aussicht auf den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist: Wenn die Zustimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so müssen sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen. Sie werden sehr bedenken, ein so schlimmes Spiel anzufangen.

Die Regeln des ewigen Friedens:

Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.

Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.

 

1.1.5 Carl von Clausewitz: Vom Kriege

Erstes Buch. Über die Natur des Krieges

 

Erstes Kapitel: Was ist der Krieg?

Der Krieg ist nichts als ein
erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen
Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser,
uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische
Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck
ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren
Widerstand unfähig zu machen.

Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung
unseres Willens zu zwingen.

Gewalt, d. h. die physische Gewalt, ist also das
Mittel,
dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen
Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies
ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung.

Da der
Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung
der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich
dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein
Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Dadurch gibt er dem
anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne
daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte.

Das Ziel ist, den Feind wehrlos zu machen

Wenn der Gegner unseren Willen erfüllen soll, so müssen wir ihn in eine
Lage versetzen, die nachteiliger ist als das Opfer, welches wir von ihm
fordern; die Nachteile dieser Lage dürfen aber natürlich, wenigstens dem
Anscheine nach, nicht vorübergehend sein, sonst würde der Gegner den
besseren Zeitpunkt abwarten und nicht nachgeben.

Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß
er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er
gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe.

Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung
nach seiner Widerstandskraft abmessen; diese drückt sich durch ein
Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die
Größe der vorhandenen Mittel
und die Stärke der Willenskraft.

Aber dasselbe tut der Gegner; also neue
gegenseitige Steigerung, die in der bloßen Vorstellung wieder das
Bestreben zum Äußersten haben muß.

Der Krieg
entsteht nicht urplötzlich; seine Verbreitung ist nicht das Werk eines
Augenblicks, es kann also jeder der beiden Gegner den anderen
großenteils schon aus dem beurteilen, was er ist, was er tut, nicht
nach dem, was er, strenge genommen, sein und tun müßte.

Allein wir haben gesehen, daß schon bei den Vorbereitungen zum Kriege
ein wirkliches Maß
an die Stelle einer äußersten Voraussetzung tritt; also schon darum
werden beide Gegner in ihrer Wechselwirkung hinter der Linie einer
äußersten Anstrengung zurückbleiben und also nicht sogleich alle Kräfte
aufgeboten werden.

Aber es liegt auch in der Natur dieser Kräfte und ihrer Anwendung, daß
sie nicht alle zugleich in Wirksamkeit treten können. Diese Kräfte
sind: die eigentlichen Streitkräfte, das Land mit seiner Oberfläche
und Bevölkerung und die Bundesgenossen.

Nun kann man wohl alle beweglichen Streitkräfte gleichzeitig wirken
lassen, aber nicht alle Festungen, Ströme, Gebirge, Einwohner usw., kurz
nicht das ganze Land, wenn dieses nicht so klein ist, daß es von dem
ersten Akt des Krieges ganz umfaßt wird. Ferner ist die Mitwirkung der
Bundesgenossenschaft nicht von dem Willen der Kriegführenden abhängig,
und es liegt in der Natur der Staatenverhältnisse, daß sie häufig erst
später eintritt oder sich verstärkt zur Herstellung des verlorenen
Gleichgewichts.

Hier drängt sich nun von selbst ein Gegenstand von neuem in die
Betrachtung, den wir daraus entfernt hatten: es ist der
politische Zweck des Krieges. Ist die ganze Betrachtung ein
Wahrscheinlichkeitskalkül, aus bestimmten Personen und Verhältnissen
hervorgehend, so muß der politische Zweck als das ursprüngliche
Motiv
ein sehr wesentlicher Faktor in diesem Produkt werden.

 

Zweites Kapitel: Zweck und Mittel im Kriege

Wir werden in der Folge beim Kriegsplan näher untersuchen, was es heißt,
einen Staat wehrlos machen, müssen aber hier gleich drei Dinge
unterscheiden, die als drei allgemeine Objekte alles übrige in sich
fassen. Es ist die Streitkraft, das Land und der Wille des
Feindes.

Die Streitkraft muß vernichtet, d. h. in einen solchen Zustand versetzt
werden, daß sie den Kampf nicht mehr fortsetzen kann.
Wir erklären
hierbei, daß wir in der Folge bei dem Ausdruck »Vernichtung der
feindlichen Streitkraft« nur dies verstehen werden.

Das Land muß erobert werden, denn aus dem Lande könnte sich eine neue
Streitkraft bilden.

Ist aber auch beides geschehen, so kann der Krieg, d. h. die feindliche
Spannung und Wirkung feindseliger Kräfte, nicht als beendet angesehen
werden, solange der Wille des Feindes nicht auch bezwungen ist, d. h.
seine Regierung und seine Bundesgenossen zur Unterzeichnung des Friedens
oder das Volk zur Unterwerfung vermocht sind; denn es kann sich, während
wir im vollen Besitz des Landes sind, der Kampf in seinem Innern oder
auch durch Beistand seiner Bundesgenossen von neuem entzünden.

 

Drittes Kapitel: Der kriegerische Genius

Der Krieg ist das Gebiet der Gefahr, es ist also Mut vor allen Dingen
die erste Eigenschaft des Kriegers.

Der Mut ist doppelter Art: einmal Mut gegen die persönliche Gefahr, und
dann Mut gegen die Verantwortlichkeit, sei es vor dem Richterstuhl
irgendeiner äußeren Macht oder der inneren, nämlich des Gewissens.

Zweitens kann der Mut aus positiven Motiven hervorgehen wie Ehrgeiz,
Vaterlandsliebe, Begeisterung jeder Art. In diesem Fall ist der Mut
nicht sowohl ein Zustand als eine Gemütsbewegung, ein Gefühl.

Beide vereinigt geben die
vollkommenste Art des Mutes.

Der Krieg ist das Gebiet körperlicher Anstrengungen und Leiden; um
dadurch nicht zugrunde gerichtet zu werden, bedarf es einer gewissen
Kraft des Körpers und der Seele, die, angeboren oder eingeübt,
gleichgültig dagegen macht. Gehen wir in den Forderungen weiter, die der
Krieg an seine Genossen macht, so treffen wir auf vorherrschende
Verstandeskräfte.
Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei
Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird,
liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit. Her ist es
also zuerst, wo ein feiner, durchdringender Verstand in Anspruch
genommen wird, um mit dem Takte seines Urteils die Wahrheit
herauszufühlen.

Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit
muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine
so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt
die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.

Soll (unser Geist) nun diesen beständigen Streit mit dem Unerwarteten glücklich
bestehen, so sind ihm zwei Eigenschaften unentbehrlich: einmal ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen, und dann Mut, diesem schwachen Lichte zu folgen. Der erstere ist bildlich mit
dem französischen Ausdruck coup d’oeil bezeichnet worden, der andere
ist die Entschlossenheit.

 

Sechstes Kapitel: Nachrichten im Kriege

Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist
widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte
einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen. Was man hier vom Offizier
fordern kann, ist ein gewisses Unterscheiden, was nur Sach- und
Menschenkenntnis und Urteil geben können. Das Gesetz des
Wahrscheinlichen muß ihn leiten.

 

Siebentes Kapitel: Friktion im Kriege

Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.
Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die
sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat. So
stimmt sich im Kriege durch den Einfluß unzähliger kleiner Umstände, die
auf dem Papier nie gehörig in Betrachtung kommen können, alles herab,
und man bleibt weit hinter dem Ziel. Ein mächtiger eiserner Wille
überwindet diese Friktion, er zermalmt die Hindernisse, aber freilich
die Maschine mit.

Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel. Sowenig
man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung,
das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, sowenig kann man
im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen
halten.

 

Zweites Buch. Über die Theorie des Krieges

 

Erstes Kapitel: Einteilung der Kriegskunst

 

Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch
der Streitkräfte im Gefecht,
die Strategie die Lehre vom Gebrauch der
Gefechte zum Zweck des Krieges.

 

Achtes Buch. Kriegsplan

Zweites Kapitel: Absoluter und wirklicher Krieg

Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen
anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben
erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel. Durch
diesen Hauptgedanken werden alle Richtungen gegeben, der Umfang der
Mittel, das Maß der Energie bestimmt, und er äußert seinen Einfluß bis
in die kleinsten Glieder der Handlung hinab.

 

Drittes Kapitel: B. Von der Größe des kriegerischen Zweckes und der Anstrengung

Der Zwang, welchen wir unserem Gegner antun müssen, wird sich nach der
Größe unserer und seiner politischen Forderungen richten.

Um also das Maß der Mittel kennenzulernen, welches wir für den Krieg
aufzubieten haben, müssen wir den politischen Zweck desselben
unsererseits und von seiten des Feindes bedenken; wir müssen die Kräfte
und Verhältnisse des feindlichen Staates und des unserigen, wir müssen
den Charakter seiner Regierung, seines Volkes, die Fähigkeiten beider,
und alles das wieder von unserer Seite, wir müssen die politischen
Verbindungen anderer Staaten und die Wirkungen, welche der Krieg darin
hervorbringen kann, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwägen dieser
mannigfachen und mannigfach durcheinandergreifenden Gegenstände eine
große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick des Genies ist, hierin
schnell das Rechte herauszufinden, während es ganz unmöglich sein würde,
durch eine bloße schulgerechte Überlegung der Mannigfaltigkeit Herr zu
werden, ist leicht zu begreifen.

In diesem Sinne hat Bonaparte ganz richtig gesagt: es würde eine
algebraische Aufgabe werden, vor der selbst ein Newton zurückschrecken
könnte.

 

Viertes Kapitel: Nähere Bestimmungen des kriegerischen Zieles. Niederwerfung des Feindes

Das Ziel des Krieges sollte nach seinem Begriff stets die Niederwerfung
des Gegners sein; dies ist die Grundvorstellung, von der wir ausgehen.

Was ist nun diese Niederwerfung?

Wir glauben daher, daß nach der Masse der Erfahrungen folgende Umstände die Niederwerfung des Gegners hauptsächlich ausmachen:

  1. Zertrümmerung seines Heeres, wenn es einigermaßen eine Potenz bildet.
  2. Einnahme der feindlichen Hauptstadt, wenn sie nicht bloß der Mittelpunkt der Staatsgewalten, sondern auch der Sitz politischer Körper und Parteiungen ist.
  3. Ein wirksamer Stoß gegen den hauptsächlichsten Bundesgenossen, wenn dieser an sich bedeutender ist als der Gegner.

 

Sechstes Kapitel: A. Einfluß des politischen Zweckes auf das kriegerische Ziel

Niemals wird man sehen, daß ein Staat, der in der Sache eines anderen
auftritt, diese so ernsthaft nimmt wie seine eigene. Eine mäßige
Hilfsarmee wird vorgesandt; ist sie nicht glücklich, so sieht man die
Sache ziemlich als abgemacht an und sucht so wohlfeil als möglich
herauszukommen.

 

Sechstes Kapitel: B. Der Krieg ist ein Instrument der Politik

Nachdem wir uns bis jetzt bei dem Zwiespalt, in dem die Natur des
Krieges mit anderen Interessen des einzelnen Menschen und des
gesellschaftlichen Verbandes steht, bald nach der einen, bald nach der
anderen Seite haben umsehen müssen, um keines dieser entgegengesetzten
Elemente zu vernachlässigen, … wollen wir nun diejenige Einheit suchen, zu welcher sich im
praktischen Leben diese widers prechenden Elemente verbinden, indem sie
sich teilweis gegenseitig neutralisieren. Diese Einheit nun
ist der Begriff, daß der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs
sei, also durchaus nichts Selbständiges.

Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des
politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit
Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser
politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas
ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen
fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich
bedient, und daß die Hauptlinien, an welchen die kriegerischen
Ereignisse fortlaufen und gebunden sind, nur seine Lineamente sind, die
sich zwischen den Krieg durch bis zum Frieden fortziehen. Und wie wäre
es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die
politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf? Ist
nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres
Denkens? Er hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene
Logik.

Die Politik, indem sie sich des Krieges bedient, weicht allen strengen
Folgerungen aus, welche aus seiner Natur hervorgehen, bekümmert sich
wenig um die endlichen Möglichkeiten und hält sich nur an die nächsten
Wahrscheinlichkeiten. Kommt dadurch viel Ungewißheit in den ganzen
Handel, wird er also zu einer Art Spiel, so hegt die Politik eines jeden
Kabinetts zu sich das Vertrauen, es dem Gegner in Gewandtheit und
Scharfsicht bei diesem Spiel zuvorzutun.

So macht also die Politik aus dem alles überwältigenden Element des
Krieges ein bloßes Instrument; aus dem furchtbaren Schlachtschwert, was
mit beiden Händen und ganzer Leibeskraft aufgehoben sein will, um damit
einmal und nicht mehr zuzuschlagen, einen leichten, handlichen Degen,
der zuweilen selbst zum Rapier wird, und mit dem sie Stöße, Finten und
Paraden abwechseln läßt.

So lösen sich die Widersprüche, in welche der Krieg den von Natur
furchtsamen Menschen verwickelt, wenn man dies für eine Lösung gelten
lassen will.

Gehört der Krieg der Politik an, so wird er ihren Charakter annehmen.
Sobald sie großartiger und mächtiger wird, so wird es auch der Krieg,
und das kann bis zu der Höhe steigen, wo der Krieg zu seiner absoluten
Gestalt gelangt.

Daß die Politik alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der
Menschlichkeit, und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache
bringen könnte, in sich vereinigt und ausgleicht, wird vorausgesetzt;
denn die Politik ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachwalter
aller dieser Interessen gegen andere Staaten. Daß sie eine falsche
Richtung haben, dem Ehrgeiz, dem Privatinteresse, der Eitelkeit der
Regierenden vorzugsweise dienen kann, gehört nicht hierher; denn in
keinem Fall ist es die Kriegskunst, welche als ihr Präzeptor betrachtet
werden kann, und wir können hier die Politik nur als Repräsentanten
aller Interessen der ganzen Gesellschaft betrachten.

1.2 Zeittypisch-grundlegende Texte

1.2.1 Satzung der Vereinten Nationen

WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN, ENTSCHLOSSEN,

Die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat,

UND FÜR DIESE ZWECKE

Unsere Macht zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten und

Durch die Annahme von Grundsätzen und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, daß Waffengewalt nicht zur Anwendung komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohles,

HABEN BESCHLOSSEN, UNSERE ANSTRENGUNGEN ZU VEREINEN, UM DIESE ABSICHTEN ZU ERREICHEN.

Kapitel VII. Maßnahmen bei Bedrohung des Friedens, bei Friedensbrüchen und Angriffshandlungen

Artikel 39. 1. Der Sicherheitsrat hat jedesmal festzustellen, daß eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorliegt, und erstattet Empfehlungen oder beschließt, welche Maßnahmen gemäß Artikel 41 und 42 zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen sind.

Artikel 42. Sollte der Sicherheitsrat zur Auffassung gelangen, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen nicht genügen oder sich als ungeeignet erwiesen haben, kann er durch Luft-, See- oder Landstreitkräfte die Operationen durchführen, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nötig sind.

Artikel 51. Keine Bestimmung der vorliegenden Satzung beeinträchtigt das Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung, wenn ein Angriff mit Waffengewalt gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen erfolgt, bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat.

 

1.2.2 Charta von Paris

FÜR EIN NEUES EUROPA

Paris, 19.- 21. November 1990

Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken.

In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlußakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, daß die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.

Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.

Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.

Wir sind entschlossen, den wertvollen Beitrag nationaler Minderheiten zum Leben unserer Gesellschaften zu fördern, und verpflichten uns, deren Lage weiter zu verbessern. Wir bekräftigen unsere tiefe Überzeugung, daß freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren Völkern sowie Friede, Gerechtigkeit, Stabilität und Demokratie den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität nationaler Minderheiten und die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität erfordern. Wir erklären, daß Fragen in bezug auf nationale Minderheiten nur unter demokratischen Bedingungen befriedigend gelöst werden können. Ferner erkennen wir an, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein anerkannten Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden müssen.

 

1.2.3 Gemeinsame Sicherheit 2022 – Olof-Palme-Report 2022

Die Welt steht an einem Scheideweg. Sie steht vor der Wahl zwischen einer Existenz auf der Grundlage von Wettbewerb und Aggression oder einer Existenz, die auf einer transformativen Friedensagenda und gemeinsamer Sicherheit beruht. Im Jahr 2022 ist die Menschheit mit den existenziellen Bedrohungen eines Atomkriegs, des Klimawandels und von Pandemien konfrontiert. Hinzu kommt eine giftige Mischung aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und schrumpfendem demokratischen Raum. Wie die Menschheit auf diese Bedrohungen reagiert, wird über unser Überleben entscheiden.

Das globale Sicherheitssystem steht auf der Kippe. Im Bericht des UN-Generalsekretärs Unsere gemeinsame Agenda heißt es: „Die Menschheit steht vor einer dringenden Entscheidung: Zusammenbruch oder Durchbruch“.

Um das Ruder herumzureißen, müssen wir:

  • Die UN-Charta auf der Grundlage der Rechte und Pflichten von „uns, den Völkern“ bekräftigen. Internationale Zusammenarbeit und die Achtung des Völkerrechts müssen für alle Staaten von grundlegender Bedeutung sein.
  • Erkennen, dass Frieden und Sicherheit in der Welt gemeinsam geschaffen werden – wenn das Gegenüber nicht sicher ist, werden auch man selbst nicht sicher sein. Das in der UN-Charta verankerte Verbot der Gewaltanwendung und die Unverletzlichkeit der Grenzen müssen geachtet werden.
  • Anerkennen, dass die Gefahren eines Atomkriegs und der Klimawandel existenzielle Bedrohungen für die Menschheit darstellen.
  • Aufbau einer Weltordnung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Es gibt keine Entwicklung ohne Frieden und keinen Frieden ohne Entwicklung. Und beides ist ohne die Achtung der Menschenrechte nicht möglich.

Gemeinsame Sicherheit 2022: Die Grundsätze

  1. Alle Menschen haben das Recht auf menschliche Sicherheit: Freiheit von Furcht und Freiheit von Not
  2. Der Aufbau von Vertrauen zwischen Nationen und Völkern ist eine Grundvoraussetzung für eine friedliche und nachhaltige menschliche Existenz
  3. Es kann keine gemeinsame Sicherheit geben ohne nukleare Abrüstung, strenge Beschränkungen für konventionelle Waffen und reduzierte Militärausgaben
  4. Globale und regionale Zusammenarbeit, Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit sind entscheidend für die Bewältigung vieler Herausforderungen in der Welt
  5. Dialog, Konfliktverhütung und vertrauensbildende Maßnahmen müssen an die Stelle von Aggression und militärischer Gewalt als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten treten
  6. Bessere Rechtsetzung, internationales Recht und verantwortungsvolle Regierungsführung müssen auch auf neue Militärtechnologien ausgedehnt werden, wie z.B. im Bereich des cyber space, des Weltraums und der „künstlichen Intelligenz“.

 

1.2.4 Masala: Weltunordnung

Je demokratischer die Welt wird, so die Auffassung liberaler Theoretiker, desto mehr Kooperation wird es zwischen Staaten geben, desto mehr wird sich internationale Politik am Allgemeinwohl orientieren. Wenn eine liberale Sicht auf die internationale Politik in Staaten mit großen Machtpotenzialen dominiert, dann wird sie gefährlich. Denn dann werden Staaten versucht sein, diese Sichtweise mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln umzusetzen.

Dem stelle ich eine realistische Sichtweise auf die internationale Politik entgegen, die von der Annahme ausgeht, dass internationale Politik primär durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. In einer Welt, in der es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die darüber wacht, dass Regeln eingehalten werden und die, wenn Regeln verletzt werden, diese automatisch sanktioniert, sind Staaten stets um ihre eigene Sicherheit besorgt. Und um diese zu garantieren, streben sie nach Macht. Dadurch entsteht zwischen Staaten ein Wettbewerb, der durchaus in Krieg münden kann. Großmächte sind in dieser Sichtweise die eigentlichen und zentralen Antriebskräfte der internationalen Politik. Sie ringen miteinander um regionale und letzten Endes auch um globale Vorherrschaft. Ihr Handeln wird nicht durch eine Orientierung am Allgemeinwohl motiviert, sondern durch ihre nationalen Interessen (was immer sie dafür halten). Institutionen, Regeln und Normen sowie das Völkerrecht haben in meiner realistischen Sichtweise eine eher nachrangige Bedeutung zur Erklärung der internationalen Politik.

Es fehlt an globaler Ordnung, weil die Großmächte keine gemeinsame Idee von dieser Ordnung haben. Darauf zu hoffen, dass die Welt sich in einer Ubergangsphase befindet und sich dieser Zustand alsbald legt, ist aber vergeblich.

Der neue Nationalismus wird Spannungen zwischen Gesellschaften erzeugen und wird – wie es sich im Falle Europas bereits beobachten lässt – zu Desintegration führen.

Politik müsste zunächst einmal anerkennen, dass sie unter den Bedingungen eines anarchischen internationalen Systems stattfindet, in dem es keine den Staaten übergeordnete Zwangsgewalt gibt. Dieses Faktum bewirkt, dass Konflikte zwischen Staaten ein beständiges Merkmal der internationalen Beziehungen sind. Diesen Zusammenhang zu verwischen, indem man die Welt in Gut und Böse einteilt und dieses Prinzip nur bei den Bösen am Werk glaubt, führt zu gefährlichen Fehlwahrnehmungen, die für die Stabilität des Systems kontraproduktiv sein können.

 

1.3 Aktuelle Texte

1.3.1 Ukrainisches Sprachgesetz

Ukraine-Russland-Konflikt: Das Russische abwürgen – Von Kerstin Holm -Aktualisiert am 18.01.2022-20:24

Vor drei Jahren beschlossen, tritt in der Ukraine ein neues Sprachgesetz in Kraft. Es soll das Russische zurückdrängen, schafft aber neue Probleme für Verlage und die russischsprachige Kritik an Putin.

In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind nicht verboten, doch parallel dazu muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage gedruckt werden. Für die Verlage ist das freilich unrentabel. Die letzte landesweite russische Tageszeitung „Westi“ wurde kürzlich auf Ukrainisch umgestellt, viele Blätter erscheinen nur noch im Netz.

Ausgenommen von der Pflicht zur Publikation auf Ukrainisch sind bezeichnenderweise Sprachen „angestammter Minderheiten“ im Land wie der Krimtataren, der Polen, Ungarn, Rumänen, Griechen, Bulgaren, aber auch das Englische sowie alle offiziellen Sprachen der EU. Auch von der Pflicht ukrainischer Buchläden, mindestens fünfzig Prozent ihrer Bestände auf Ukrainisch anzubieten, gibt es Ausnahmen für die genannten Minderheiten- und die EU-Sprachen.

Ab sofort sind zudem sämtliche Staatsangestellten, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärzte verpflichtet, die Bürger, sofern diese nicht um eine andere Sprache bitten, auf Ukrainisch anzureden.

Dass darüber hinaus nun ausländische Filme jetzt ukrainisch synchronisiert werden müssen, richtet sich gegen die russische Medienmacht, die zwei Drittel der Fernsehserien bestreitet. Auch bei Vorträgen, Shows, Konzertabenden muss der Redner, sofern er russisch spricht, obligatorisch ins Ukrainische übersetzt werden.

Doch nun sei die Ukraine das erste Land, das Pressepublikationen in einer konkreten Sprache faktisch verbiete, klagt der in London lebende russische Journalist Oleg Kaschin. Das Gesetz sei nicht zuletzt ein Schlag gegen ukrainische Medien, die auf Russisch Putin und dessen Ukrainepolitik kritisierten und als russische Gegenöffentlichkeit eigentlich Schutz verdient hätten.

 

1.3.2 Dekret des Präsidenten der Ukraine vom 24. März 2021 Nr. 117/2021

Präsident der Ukraine: Anordnung vom 24. März 2021 Nr. 117/2021

Указом Президента України від 24 березня 2021 року № 117/2021

Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol

Die 2014 begonnene bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine führte zur vorübergehenden Besetzung integraler Teile des Territoriums der Ukraine durch die Russische Föderation – der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, bestimmter Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk – und schuf den ersten Präzedenzfall in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, als versucht wurde, einen Teil des Territoriums eines Staates durch einen anderen zu annektieren.

Die Russische Föderation hat als eine der Vertragsparteien des Memorandums über Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen von 1994 ihre internationalen Verpflichtungen aus diesem internationalen Vertrag grob missachtet, eines der Grundprinzipien des Völkerrechts über die Unverletzlichkeit der Grenzen verletzt und die Architektur des europäischen Sicherheitssystems verändert.

Um die Bedingungen für die Entbesetzung und sichere Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol zu schaffen, bestimmt die Ukraine die Strategie der De-Besetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol Krim und die Stadt Sewastopol.

1.- Das End-to-End-Element der Politik der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol (im Folgenden als vorübergehend besetztes Gebiet bezeichnet) ist die Durchführung einer Reihe von Maßnahmen diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher, informationeller, humanitärer und anderer Art.

3.- Die Bildung einer Politik der Ent-Besetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets in der Ukraine wird mit Maßnahmen zur Schaffung von Frieden, zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Staates, zur Gewährleistung der weiteren sozio-politischen und sozioökonomischen Entwicklung der Ukraine auf der Grundlage der europäischen und euro-atlantischen Integration kombiniert.

4.- Die Ziele der staatlichen Politik zur Gewährleistung der Entgewaltung des vorübergehend besetzten Gebiets und seiner sicheren Wiedereingliederung sind: Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Staatsgrenze, Gewährleistung der staatlichen Souveränität der Ukraine;

8.- Die Ukraine betont die Priorität der politischen und diplomatischen Mittel zur Lösung des von der Russischen Föderation entfesselten bewaffneten Konflikts, der Wiederherstellung und der Friedenskonsolidierung.

9.- Die Ukraine behält sich das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der nationalen Gesetzgebung vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Menschenrechte und Freiheiten sowie die nationalen Interessen zu schützen, die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Staatsgrenze wiederherzustellen und die staatliche Souveränität zu gewährleisten.

34.- Die Ukraine ergreift die im Gesetz der Ukraine „Über Sanktionen“ vorgesehenen Maßnahmen und andere rechtliche Maßnahmen gegen die sogenannten „Beamten und Beamten“ der Besatzungsverwaltung der Russischen Föderation und die bewaffneten Formationen der Russischen Föderation, Beamte und Beamte der Russischen Föderation, die unmittelbar an der vorübergehenden Besetzung des Territoriums der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol beteiligt sind, juristische Personen der Russischen Föderation und anderer Staaten, die im vorübergehend besetzten Gebiet an illegalen Aktivitäten beteiligt sind.

61.- Die Ukraine schafft moderne Dienstleistungszonen an den Ein- und Ausreisekontrollpunkten in das vorübergehend besetzte Gebiet, um den ukrainischen Bürgern, die in dem vorübergehend besetzten Gebiet leben, administrative und andere Dienstleistungen zu erbringen, insbesondere um eine qualifizierte elektronische Signatur, die Möglichkeit des Abschlusses von Verträgen mit Hausärzten und die Nutzung staatlicher Programme für den Zugang zu Arzneimitteln zu erhalten.

78.- Die Ukraine wendet sich gegen Versuche, ethnische und religiöse Faktoren zu nutzen, um die Besatzungsaktivitäten der Russischen Föderation, ihre Besatzungsverwaltung in dem vorübergehend besetzten Gebiet oder die künstliche Schaffung von Schismen in der ukrainischen Gesellschaft zu legitimieren.

79.- Die Ukraine bietet eine spezielle Ausbildung der Streitkräfte der Ukraine und anderer militärischer Formationen, die nach dem Gesetz der Ukraine vorgesehen sind, der Strafverfolgungsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Prozesse der Entsatzung und Wiedereingliederung sowie unter Nutzung der Erfahrungen ukrainischer Bürger, die an internationalen Friedenssicherungs- und Sicherheitsoperationen teilgenommen haben.

81.- Die Ukraine gründet und entwickelt die Plattform für die Krim als zentrales außenpolitisches Instrument zur Konsolidierung der internationalen Bemühungen um die Entrechtung und Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine, zur Überwindung der Folgen der vorübergehenden Besetzung der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch die Russische Föderation sowie zum Schutz der Rechte und Interessen der ukrainischen Bürger.

91.- Die Ukraine behält sich gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der Gesetzgebung der Ukraine vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger, die Unabhängigkeit, die staatliche Souveränität und die territoriale Unversehrtheit zu schützen.

96.- Das Ministerkabinett der Ukraine entwickelt und genehmigt einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der Strategie für die Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, auf dessen Grundlage die zuständigen staatlichen Stellen Aktionspläne ausarbeiten und umsetzen, um die Entbesetzung des vorübergehend besetzten Gebiets sicherzustellen.

 

1.3.3 Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine

Das Folgende ist der Text der US-Ukraine-Charta der strategischen Partnerschaft, die von US-Außenminister Antony J. Blinken und dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba am 10. November 2021 in Washington, DC, unterzeichnet wurde.

Präambel

Die Vereinigten Staaten und die Ukraine:

1.- Bekräftigen die Bedeutung unserer Beziehungen als Freunde und strategische Partner, die sowohl auf unseren gemeinsamen Werten als auch auf gemeinsamen Interessen beruhen, einschließlich des Engagements für ein geeintes, freies, demokratisches und friedliches Europa.Sie bekräftigen, dass die zwischen unseren beiden Nationen bestehende strategische Partnerschaft für die Sicherheit der Ukraine und Europas insgesamt von entscheidender Bedeutung ist.

4.- Sie betonen Sie das unerschütterliche Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich der Krim und der Ausdehnung auf ihre Hoheitsgewässer angesichts der anhaltenden russischen Aggression, die den Frieden und die Stabilität in der Region bedroht und die globale regelbasierte Ordnung untergräbt.

Abschnitt II: Sicherheit und Bekämpfung der russischen Aggression

Die Vereinigten Staaten und die Ukraine teilen ein vitales nationales Interesse an einer starken, unabhängigen und demokratischen Ukraine. Die Stärkung der Fähigkeit der Ukraine, sich gegen Bedrohungen ihrer territorialen Integrität zu verteidigen, und die Vertiefung der Integration der Ukraine in die euro-atlantischen Institutionen sind gleichzeitig Prioritäten.

1.- Die Vereinigten Staaten und die Ukraine beabsichtigen, eine Reihe substanzieller Maßnahmen fortzusetzen, um eine externe direkte und hybride Aggression gegen die Ukraine zu verhindern und Russland für solche Aggressionen und Verstöße gegen das Völkerrecht zur Rechenschaft zu ziehen, einschließlich der Eroberung und versuchten Annexion der Krim und des von Russland geführten bewaffneten Konflikts in Teilen der Regionen Donezk und Luhansk der Ukraine sowie sein anhaltendes bösartiges Verhalten. Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung bewaffneter Aggressionen, wirtschaftlicher und energetischer Störungen und böswilliger Cyberaktivitäten Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen gegen oder im Zusammenhang mit Russland und die Anwendung anderer einschlägiger Maßnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.

5.- Die Vereinigten Staaten sind weiterhin entschlossen, die Ukraine bei den laufenden Verteidigungs- und Sicherheitsreformen zu unterstützen und ihre robuste Ausbildung und Übungen fortzusetzen. Die Vereinigten Staaten unterstützen die Bemühungen der Ukraine, ihren Status als NATO Enhanced Opportunities Partner zur Förderung der Interoperabilität zu maximieren.

 

1.3.4 Russische Vertragsentwürfe für die USA und NATO und Antworten

Entwurf: Vertrag zwischen Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Sicherheitsgarantien

Die Vertragsparteien arbeiten auf der Grundlage der Grundsätze der unteilbaren und gleichen Sicherheit und der ungeschmälerten Sicherheit füreinander zusammen. Und zu diesem Zweck ergreifen, beteiligen sich nicht an oder unterstützen keine Maßnahmen, die die Sicherheit der anderen Vertragspartei beeinträchtigen, und setzen keine Sicherheitsmaßnahmen um, die einzeln oder im Rahmen einer internationalen Organisation, eines Militärbündnisses oder einer Koalition ergriffen werden und die die grundlegenden Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei untergraben würden.

Die Vereinigten Staaten verpflichten sich, eine weitere Osterweiterung der Nordatlantikpakt-Organisation auszuschließen und die Aufnahme von Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gehörten, in das Bündnis zu verweigern.

Die Vereinigten Staaten errichten keine Militärstützpunkte im Hoheitsgebiet von Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gehörten und nicht Mitglied der Nordatlantikpakt-Organisation sind, nutzen deren Infrastruktur nicht zur Durchführung militärischer Aktivitäten und entwickeln keine bilaterale militärische Zusammenarbeit mit ihnen.

Die Antwort der USA auf Russlands Vorschläge

Wir sind bereit, Russland auf bilateraler Ebene in den Strategischen Stabilitätsdialog zwischen den USA und Russland, in den NATO-Russland-Rat und in die OSZE einzubinden, um konkrete Verbesserungen der Sicherheit in Europa zu erreichen. In diesen Dialogen sind die Vereinigten Staaten offen für die Erörterung von Sicherheitsfragen, die für Russland, die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten und Partner von Bedeutung sind. Die Vereinigten Staaten unterstützen weiterhin nachdrücklich die Politik der offenen Tür der NATO und sind der Auffassung, dass der NATO-Russland-Rat das geeignete Forum für die Erörterung dieser Frage ist (Artikel 4 des von Russland vorgeschlagenen bilateralen Vertrags).

Wir sind auch bereit, die Unteilbarkeit der Sicherheit – und unsere jeweiligen Auslegungen dieses Konzepts – zu erörtern, wie sie in Artikel 1 des von Russland vorgeschlagenen Entwurfs eines bilateralen Vertrags dargelegt ist. Wir nehmen das gemeinsam vereinbarte Konzept der umfassenden, kollektiven, gleichen und unteilbaren Sicherheit ernst, das in der Gedenkerklärung des OSZE-Gipfels von Astana 2010 dargelegt wurde, in der sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht bekräftigten, seine Sicherheitsvereinbarungen, einschließlich verbündeter Verträge, frei zu wählen oder zu ändern.

 

Entwurf: Abkommen über Sicherheitsmaßnahmen zwischen Russland und den Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation

Russland und die Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), im Folgenden „Vertragsparteien“ genannt, sind … wie folgt übereingekommen:

Die Vertragsparteien gestalten ihre Beziehungen untereinander auf der Grundlage der Grundsätze der Zusammenarbeit sowie der gleichen und unteilbaren Sicherheit. Sie dürfen ihre Sicherheit weder einzeln noch innerhalb einer internationalen Organisation, eines Militärbündnisses oder einer Koalition auf Kosten der Sicherheit anderer stärken.

Die Vertragsparteien verpflichten sich, keine Bedingungen oder Situationen zu schaffen, die eine Bedrohung der nationalen Sicherheit anderer Mitglieder darstellen oder als solche angesehen werden könnten.

Russland und alle Vertragsparteien, die am 27. Mai 1997 Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation waren, stationieren ihre Streitkräfte und Rüstungsgüter nicht zusätzlich zu den Streitkräften und Rüstungsgütern, die am 27. Mai 1997 im Hoheitsgebiet eines anderen europäischen Staates stationiert waren. In Ausnahmefällen, in denen es erforderlich ist, eine Bedrohung der Sicherheit einer oder mehrerer Vertragsparteien zu neutralisieren, können solche Stationierungen mit Zustimmung aller Vertragsparteien durchgeführt werden.

Die Vertragsparteien, die Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation sind, verpflichten sich, eine weitere Ausdehnung der NATO, einschließlich des Beitritts der Ukraine und anderer Staaten, auszuschließen.

Die Antwort der NATO auf Russlands Vorschlag

1 Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar.

2 Wir sind der festen Überzeugung, dass Konflikte und Meinungsverschiedenheiten durch Dialog und Diplomatie, ohne Drohungen oder Gewaltanwendung gelöst werden sollten. Angesichts der substantiellen, unprovozierten, ungerechtfertigten und anhaltenden russischen Militäraufrüstung in und nahe der Ukraine und in Weißrussland fordern wir Russland auf, die Spannungen unverzüglich abzubauen – dies muss nachprüfbar, zeitnah und langfristig geschehen. Wir bekräftigen unsere Unterstützung für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, einschließlich der Krim, innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen. Eine Lösung des Ukraine-Konflikts im Einklang mit den Punkten des Minsker Abkommens und auf der Grundlage der vereinbarten Formate könnte die Sicherheitslage und die Stabilitätsaussichten in Europa erheblich verbessern.

8 Europäische Sicherheit, einschließlich der Situation in und um die Ukraine:

8.1 Alle Länder sollen die Grundsätze der Souveränität, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität der Staaten achten und einhalten und auf die Androhung von Gewalt verzichten.

8.2 Alle Staaten respektieren das Recht anderer Staaten, Sicherheitsvereinbarungen zu wählen oder zu ändern und ihre eigene Zukunft und Außenpolitik ohne Einmischung von außen zu bestimmen. In diesem Sinne bekräftigen wir unser Bekenntnis zur Politik der offenen Tür der NATO im Einklang mit Artikel 10 des Washingtoner Vertrags.

9 Wir sind weiterhin offen für konstruktive Gespräche und einen Dialog mit Russland über gegenseitige Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen, einschließlich der Erörterung der folgenden Vorschläge:

 

Putins Rede vom 24.02.2022 an das russische Volk zum Beginn der Militäroperation

Es ist bekannt, dass wir seit 30 Jahren hartnäckig und geduldig versuchen, mit den führenden NATO-Ländern eine Einigung über die Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu erzielen. Als Antwort auf unsere Vorschläge sind wir immer wieder entweder auf zynische Täuschungen und Lügen oder auf Druck und Erpressungsversuche gestoßen, während sich das Nordatlantische Bündnis trotz all unserer Proteste und Bedenken immer weiter ausdehnt. Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung und, ich wiederhole das, sie kommt sehr nahe an unsere Grenzen heran.

Trotz allem haben wir im Dezember 2021 erneut versucht, mit den USA und ihren Verbündeten eine Einigung über die Sicherheitsgrundsätze in Europa und über die Nichterweiterung der NATO zu erzielen. Alles umsonst. Der Standpunkt der USA hat sich nicht geändert.

Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – wohlgemerkt auf unseren eigenen historischen Territorien – ein „Anti-Russland“ geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle des Auslandes gestellt, von den Streitkräften der NATO-Länder intensiv entwickelt und mit den modernsten Waffen vollgepumpt wird.

Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Das ist eine echte Bedrohung nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seine Souveränität.

In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Artikel 51 im Abschnitt 7 der Charta der Vereinten Nationen, mit Genehmigung des russischen Föderationsrates und in Übereinstimmung mit den von der Bundesversammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk beschlossen, eine Militäroperation durchzuführen.

Und zu diesem Zweck werden wir uns bemühen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.

Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen.

 

1.3.5 Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und Präsident Putin zum Besuch des Bundeskanzlers in der Russischen Föderation am 15. Februar 2022

Präsident Putin: Natürlich haben wir uns offen über russische Initiativen und Vorschläge an die USA und an die Nato ausgetauscht, die sich auf langfristige juristisch verpflichtende Sicherheitsgarantien für Russland beziehen. Gesprochen haben wir auch über die wichtigsten Forderungen. Die wichtigsten davon sind die Nichtzulassung der weiteren Nato-Erweiterung, der Verzicht auf die Installation von Angriffswaffen in der Nähe russischer Grenzen und der Rückzug des militärischen Potenzials und der Infrastruktur der Allianz in Europa auf den Zustand von 1997, als die Russland-Nato-Grundakte unterzeichnet wurde. Russland kann sich nicht davor verschließen, wie die USA und die nordatlantische Allianz ziemlich willkürlich und zu ihren eigenen Gunsten die wichtigsten Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit interpretieren, die in vielen gesamteuropäischen Dokumenten verankert sind.

Dieser Bedrohung begegnen sollen juristisch verpflichtende Abkommen, deren Entwürfe wir eingereicht haben. Die Antworten, die wir von den USA und den Nato-Mitgliedsländern erhalten haben, entsprechen aus unserer Sicht nicht den wichtigsten Anforderungen Russlands.

Die Thematik der europäischen Sicherheit wurde auch im Kontext der ukrainischen Konfliktlösung erörtert. Die Kiewer Regierung verweigert sich, wie bekannt ist, der Erfüllung der Minsker Vereinbarung… Es gibt auch keine Bewegung in Grundsatzfragen wie Verfassungsreform, Amnestie, Kommunalwahlen und rechtliche Aspekte des Sonderstatus des Donbass. Man ignoriert Möglichkeiten, die territoriale Integrität des Landes friedlich wiederherzustellen, indem man in einen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk eintritt. Massenhaft werden Menschenrechtsverletzungen zugelassen. Gesetzlich verankert ist eine Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung.

Bundeskanzler Scholz: In diesem Zusammenhang kann man gar nicht genug betonen, dass wir sehr besorgt darüber sind, was wohl aus den 100 000 Soldaten und ihren Aktivitäten in nächster Zeit werden wird. Wir können keinen vernünftigen Grund für diese Truppenzusammenstellung erkennen.

Präsident Putin hat mir in unserem Gespräch von den gestrigen Beratungen mit seinem Außenminister und dem Verteidigungsminister berichtet. Ich stimme ausdrücklich zu: Die diplomatischen Möglichkeiten sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. – Jetzt muss es darum gehen, entschlossen und mutig an einer friedlichen Auflösung dieser Krise zu arbeiten.

Wir sind bereit, gemeinsam mit allen Partnern und Verbündeten in der EU und der Nato und mit Russland ganz konkrete Schritte zur Verbesserung der gegenseitigen oder noch besser der gemeinsamen Sicherheit zu unternehmen. Dazu hat die Nato bereits zu konkreten thematischen Gesprächen im Nato-Russland-Rat eingeladen. Dazu sind die USA in ihrem bilateralen Gespräch mit Russland bereit. Im Rahmen der OSZE hat der polnische Vorsitz einen neuen, hochrangigen Dialogprozess initiiert. Dazu gehören die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und die Souveränität und territoriale Unversehrtheit aller Staaten, auch der Ukraine. Sie sind für uns unverhandelbar.

Für die Bundesregierung ist klar, dass eine weitere militärische Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende politische, wirtschaftliche und strategische Konsequenzen zur Folge hätte. Mein Eindruck ist: Das wissen alle ganz genau. – Die Suche nach diplomatischen Lösungen ist ein zentraler Grund meiner Reise nach Kiew gestern und nun nach Moskau.

Deshalb ist es gut, dass Präsident Selensky gestern fest zugesagt hat, dass der Trilateralen Kontaktgruppe, die im Rahmen des Minsker Prozesses festgesetzt worden ist und in der alle Bet eiligten zusammenkommen, in Kürze alle drei vorgesehenen Gesetzestexte zum Status der Ostukraine, zur Verfassungsänderung und zur Wahlvorbereitung vorliegen werden.

 

1.3.6 Putins Rede an das russische Volk zum Beginn der Militäroperation 24.Februar 2022

Trotz allem haben wir im Dezember 2021 erneut versucht, mit den USA und ihren Verbündeten eine Einigung über die Sicherheitsgrundsätze in Europa und über die Nichterweiterung der NATO zu erzielen. Alles umsonst. Der Standpunkt der USA hat sich nicht geändert. Sie halten eine Einigung mit Russland in dieser für uns wichtigen Frage nicht für notwendig, sie verfolgen ihre eigenen Ziele und setzen sich über unsere Interessen hinweg.

Schon jetzt, in dem Maße, wie sich die NATO nach Osten ausdehnt, wird die Situation für unser Land von Jahr zu Jahr schlechter und gefährlicher. Darüberhinaus hat die NATO-Führung in den letzten Tagen ausdrücklich von der Notwendigkeit gesprochen, das Vorrücken der Infrastruktur des Bündnisses in Richtung der russischen Grenzen zu beschleunigen und zu forcieren. Wir können nicht länger nur zusehen, was passiert. Das wäre völlig unverantwortlich von uns.

Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – wohlgemerkt auf unseren eigenen historischen Territorien – ein „Anti-Russland“ geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle des Auslandes gestellt, von den Streitkräften der NATO-Länder intensiv entwickelt und mit den modernsten Waffen vollgepumpt wird.

Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Und das ist keine Übertreibung – so ist es nun einmal. Das ist eine echte Bedrohung nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seine Souveränität. Das ist die rote Linie, über die immer wieder gesprochen wurde. Sie haben sie überschritten.

In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen, mit Genehmigung des russischen Föderationsrates und in Übereinstimmung mit den von der Bundesversammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk beschlossen, eine Militäroperation durchzuführen.
Ihr Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren von dem Kiewer Regime misshandelt und ermordet werden. Und zu diesem Zweck werden wir uns bemühen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.
Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen.

 

1.3.7 Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.

Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.

(Putin) zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte.

Präsident Putin redet dabei stets von unteilbarer Sicherheit. Tatsächlich aber will er gerade den Kontinent mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären teilen. Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden.

Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns.

Erstens. Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen.

Meine Damen und Herren, unser zweiter Handlungsauftrag ist, Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Gemeinsam mit den EU-Staats- und -Regierungschefs haben wir ein Sanktionspaket von bisher unbekanntem Ausmaß verabschiedet.

Meine Damen und Herren, die dritte große Herausforderung liegt darin, zu verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift. Das bedeutet: Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unser Beistandspflicht in der NATO.

… mein viertes Anliegen, meine Damen und Herren. Wir müssen uns fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft? Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.

Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.

Damit bin ich beim fünften und letzten Punkt. Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich.

Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen. Ihnen verdanken wir das große Glück, das unser Land seit über 30 Jahren genießt: in einem vereinten Land zu leben, in Wohlstand und Frieden mit unseren Nachbarn.

 

1.3.8 Beschlüsse der UNO

Sicherheitsrat – Vereinte Nationen – S/2022/155 – 25. Februar 2022

Albanien, Andorra, Antigua und Barbuda, Australien, Bahamas, Barbados, Belgien, Belize, Bosnien und Herzegowina, Botsuana, Bulgarien, Chile, Costa Rica, Dänemark, Deutschland, Dominikanische Republik, Ecuador, Estland, Fidschi, Finnland, Frankreich, Gambia, Georgien, Grenada, Griechenland, Guatemala, Haiti, Irland, Island, Italien, Jamaika, Japan, Kanada, Kiribati, Kolumbien, Kroatien, Kuwait, Lesotho, Lettland, Liberia, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Marshallinseln, Mikronesien (Föderierte Staaten von), Monaco, Montenegro, Neuseeland, Niederlande, Niger, Nordmazedonien, Norwegen, Österreich, Palau, Panama, Papua- Neuguinea, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Republik Korea, Republik Moldau, Rumänien, Samoa, San Marino, Schweden, Schweiz, Singapur, Slowakei, Slowenien, Spanien, Suriname, Timor-Leste, Trinidad und Tobago, Tschechien, Türkei, Ukraine, Ungarn, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, Vereinigte Staaten von Amerika und Zypern:

Resolutionsentwurf

Der Sicherheitsrat,

unter Hinweis darauf, dass alle Staaten nach Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet sind, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder anderweitig mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen und ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen, …

unter Hinweis auf seine Resolution 2202 (2015), in der die Parteien aufgefordert werden, das „Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“, einschließlich der darin vorgesehenen umfassenden Waffenruhe, vollständig umzusetzen, sowie betonend, wie wichtig die vollständige Durchführung des Minsker Protokolls vom 5. September 2014 und des Minsker Memorandums vom 19. September 2014 ist,

sich der Forderung des Generalsekretärs an die Russische Föderation nach Einstellung ihrer Offensive gegen die Ukraine anschließend,

verurteilend, dass die Russische Föderation am 23. Februar 2022 eine „besondere Militäroperation“ in der Ukraine verkündet hat,
mit dem Ausdruck seiner großen Besorgnis über Meldungen, wonach es Opfer unter der Zivilbevölkerung gibt,

-2- missbilligt auf das Entschiedenste die gegen die Ukraine gerichtete Aggression der Russischen Föderation unter Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen;

-3- beschließt, dass die Russische Föderation die Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine sofort einzustellen und jede weitere rechtswidrige Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen einen Mitgliedstaat der Vereinten Nationen zu unterlassen hat;

-4- beschließt, dass die Russische Föderation ihre gesamten Streitkräfte sofort vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzuziehen hat;

-7- fordert die Parteien auf, sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den relevanten internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf ihre vollständige Durchführung hinzuwirken;

-8- fordert alle Parteien auf, den raschen, sicheren und ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe zu den hilfebedürftigen Menschen in der Ukraine zu gestatten und zu erleichtern und die Zivilbevölkerung, darunter auch das humanitäre Personal und die Menschen in prekären Situationen, einschließlich Kindern, zu schützen; …

 

Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 2. März 2022

Aggression gegen die Ukraine – Die Generalversammlung,

unter Hinweis darauf, dass alle Staaten nach Artikel 2 der Charta verpflichtet sind, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder anderweitig mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen und ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen, …

sowie unter Hinweis auf ihre Resolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970, … in Bekräftigung der darin enthaltenen Grundsätze, dass das Hoheitsgebiet eines Staates nicht zum Gegenstand der Aneignung durch einen anderen Staat als Ergebnis der Androhung oder Anwendung von Gewalt gemacht werden darf und dass jeder Versuch, die nationale Einheit und territoriale Unversehrtheit eines Staates oder Landes teilweise oder gänzlich zu zerstören oder seine politische Unabhängigkeit zu beeinträchtigen, mit den Zielen und Grundsätzen der Charta unvereinbar ist,

ferner unter Hinweis auf ihre Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, nach der „Aggression“ die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen anderen Staat ist, …

verurteilend, dass die Russische Föderation am 24. Februar 2022 eine „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine angekündigt hat,

erneut erklärend, dass ein sich aus der Androhung oder Anwendung von Gewalt ergebender Gebietserwerb nicht als rechtmäßig anerkannt werden darf,

mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis angesichts von Berichten über Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser und über Opfer unter der Zivilbevölkerung, darunter Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Kinder,

feststellend, dass die militärischen Operationen der Russischen Föderation innerhalb des Hoheitsgebiets der Ukraine ein Ausmaß haben, das die internationale Gemeinschaft in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat, und dass dringend gehandelt werden muss, um diese Generation vor der Geißel des Krieges zu bewahren, …

sowie mit dem Ausdruck ihrer Besorgnis darüber, dass der Konflikt angesichts dessen, dass die Ukraine und die Region zu den weltweit wichtigsten Getreide- und Agrarexportgebieten gehören, und zu einem Zeitpunkt, zu dem Millionen Menschen in mehreren Weltregionen von Hungersnot betroffen oder unmittelbar bedroht sind oder unter schwerer Ernährungsunsicherheit leiden, sich nachteilig auf die weltweite Ernährungssicherheit sowie auf die Energiesicherheit auswirken könnte, …

und unter Befürwortung eines anhaltenden Dialogs,

-1- bekräftigt ihr Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich ihrer Hoheitsgewässer;

-2- missbilligt auf das Schärfste die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine unter Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der Charta;

-3- verlangt, dass die Russische Föderation ihre Gewaltanwendung gegen die Ukraine sofort einstellt und jede weitere rechtswidrige Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen jedweden Mitgliedstaat unterlässt;

-4- verlangt außerdem, dass die Russische Föderation alle ihre Streitkräfte unverzüglich, vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzieht; …

-8- fordert die Parteien auf, sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Durchführung hinzuwirken; …

-14- fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Ver- mittlung und andere friedliche Mittel;

 

1.3.9 Ansprache des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Deutschen Bundestag

Als wir um präventive Sanktionen baten, wandten wir uns an Europa, wandten wir uns an viele Staaten, wandten wir uns an Sie. Sanktionen, die so ausgestaltet sind, dass der Aggressor spürt, dass Sie eine Kraft darstellen. Und wir sahen ein Hinauszögern. Wir verspürten einen Widerstand. Wir haben verstanden, dass Sie die „Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“ fortführen wollen.

Und ich danke den Politikern, die sich dennoch bemühen. Die sich zwischen russischem Geld und dem Tod ukrainischer Kinder für das Leben entscheiden. Die eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland unterstützen.

Die wissen, dass ein Handelsembargo gegen Russland nötig ist. Gegen die Einfuhr von dort von allem, was diesen Krieg finanziert.
Es ist schwer für uns, ohne die Hilfe der Welt zu bestehen. Ohne Ihre Hilfe. Es ist schwer, die Ukraine zu verteidigen, Europa zu verteidigen. Ohne das, was Sie tun können. Was Sie tun können, um nicht auch nach diesem Krieg beschämt zurückzublicken …

Herr Bundeskanzler Scholz! Reißen Sie diese Mauer nieder!

Geben Sie Deutschland die Führung, die es verdient, und auf die Ihre Nachfahren nur stolz sein können.

Slawa Ukrajini! [Es lebe die Ukraine!]

 

1.3.10 Friedensplan der italienischen Regierung

Der erste Schritt ist ein Waffenstillstand, der im Kampf ausgehandelt werden muss. Es ist ein grundlegendes Element, weil es unrealistisch ist, sich vorzustellen, dass ein Waffenstillstand von selbst zustande kommt oder die Voraussetzung für Verhandlungen ist.

Der nächste Schritt – der zweite – dreht sich um multilaterale Verhandlungen über den künftigen internationalen Status der Ukraine. Und insbesondere über die eventuelle Bedingung der Neutralität in Kiew, die durch eine internationale politische „Garantie“ gewährleistet wird.

Der dritte Punkt, der aus diplomatischer Sicht „heißeste“ ist, betrifft die Definition des bilateralen Abkommens zwischen Russland und der Ukraine über territoriale Fragen, wiederum nach internationaler Vermittlung.

Endlich die vierte Stufe. Im Kontext der OSZE und der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union wird ein neues multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa vorgeschlagen.

 

2 Unterrichtsmaterialien – Quellen

2.1 Klassische Texte

2.1.1 Thukydides: Der Peloponnesische Krieg

84 Auch gegen die Insel Melos unternahmen die Athener einen Feldzug mit einer Flotte von 30 Schiffen. Die Melier wollten den Athenern nicht so untertan sein wie die anderen Inselvölker. Die Feldherren schickten Gesandte zu Verhandlungen in die Stadt.

86 Die Ratsherren der Melier: »Gegen euren gerechten Vorschlag, einander in aller Ruhe zu überzeugen, haben wir nichts einzuwenden, doch scheinen die kriegerischen Rüstungen, mit denen ihr gekommen seid, damit nicht übereinzustimmen. Ihr wollt selbst Richter sein über alles, was gesprochen werden wird. Und das Ende davon wird schließlich sein: Siegen wir in dem Rechtsstreit und geben daher nicht nach, so droht uns Krieg, lassen wir uns aber von euch bereden, Knechtschaft.

89 Die Athener: Nun gut, wir selbst wollen nun nicht mit schön klingenden Worten eine unglaubwürdige Rede vortragen. Nein, sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.

92 Die Melier: Wie könnte für uns Unterwerfung ebenso vorteilhaft sein wie für euch Ausweitung der Herrschaft?

93 Die Athener: Weil ihr, statt Ärgstes zu erleiden, euch fügen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vernichten müssten, dabei gewinnen würden.

102 Die Melier: Aber wir wissen, dass im Krieg sich das Glück oft gleichmäßiger verteilt, als es dem Kräfteunterschied der beiden Gegner entspräche. Für uns bedeutet Zurückweichen sofortige Hoffnungslosigkeit, handeln wir aber zuerst, besteht noch Hoffnung, uns aufrechtzuerhalten.

103 Die Athener: Wer aber alles, was er besitzt, wegen der Hoffnung aufs Spiel setzt, erkennt ihren Haltlosigkeit erst nach seiner Niederlage; da aber lässt sie ihm nichts mehr übrig.

104 Die Melier: Schwer freilich scheint es auch uns, wisst es wohl, gegen eure Übermacht und das Schicksal, wenn es nicht gleich zu gleich steht, den Kampf aufzunehmen. Dennoch vertrauen wir, dass unserem Mangel an Macht das Bündnis mit den Lakedaimoniern abhelfen wird.

109 Die Athener: Es ist unwahrscheinlich, dass die Lakedaimonier auf eine Insel übersetzen, wo wir doch die See beherrschen.

110 Die Melier: Sie könnten ja andere schicken.

111 Die Athener: Ihr habt überhaupt nichts in der bisherigen Unterredung vorgebracht, worauf Menschen ihre Hoffnung auf Rettung gründen können. Ihr werdet doch hoffentlich nichts von der in schmählichen und selbstverschuldeten Gefahren schon so oft den Menschen verderblichen »Ehre« halten! Wenn ihr verständig zu Rate geht, werdet ihr es nicht falsch finden, der mächtigsten Stadt in ihren maßvollen Forderungen zu willfahren: Bundesgenossen zu werden, tributpflichtig, aber weiterhin im Genuss eures Besitzes, und nicht bei gewährter Wahl zwischen Krieg und Sicherheit verstockt auf eurem Verderben zu bestehen. Denn wer vor dem gleich Starken nicht zurückweicht, sich dem Mächtigeren gegenüber angemessen verhält und sich im Verkehr mit dem Schwächeren mäßigt, der fährt meistens am besten.

114 Danach kehrten die athenischen Gesandten zum Heer zurück. Da sich die Melier nicht fügen wollten, eröffneten die Feldherren sofort die Feindseligkeiten; sie verteilten die Mauerabschnitte an die einzelnen Städte und begannen Melos zu umschließen.

116 Im folgenden Winter nahmen die Melier einen Abschnitt der athenischen Ummauerung, da dort nur wenige Wachtruppen standen. Als nach diesem Vorfall ein weiteres Heer aus Athen ankam und nun die Belagerung mit aller Härte durchführte, ergaben sich die Melier, da auch noch Verrat hinzukam, bedingungslos den Athenern. Diese töteten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei. Sie selbst gründeten den Ort neu und schickten etwas später 500 Siedler dorthin.

 

2.1.2 Gerechter Krieg

Theologische, juristische und philosophische Lehre. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, unter welchen Umständen ein Krieg und die Beteiligung daran gerechtfertigt werden kann.

1 Begriff:

Die Wurzeln des Begriff stammen aus dem antiken Rom (Cicero). In der christlichen Theologie wurde der Begriff von Augustin im 5. Jahrhundert entwickelt und dann im Mittelalter zur offiziellen Lehre der katholischen Kirche erhoben (siehe Katholische Kirche). Die Kirchen der Reformation haben weithin an der Idee festgehalten (lt. Art. 16 Confessio Augustana dürfen Christen im Amt der Obrigkeit »rechtmäßig« Krieg führen).

Sowohl bei der Lehre vom gerechten Krieg als auch im modernen Völkerrecht geht es um die Zähmung des Krieges, indem man versucht, ihn Regeln und Beschränkungen zu unterwerfen. Deutsche Protestanten gingen nach dem 2. Weltkrieg auf Distanz zu der Vorstellung, aber in der katholischen Kirche spielt sie weiterhin eine Rolle (Katechismus 2000) und wird auch im englischsprachigen Raum im Zusammenhang mit den Kriegen in Jugoslawien und Irak sowie der Auseinandersetzung mit dem islamistischen Terrorismus benutzt (siehe Dschihad).

2 Klassische Kriterien eines »Gerechten Krieges«:
(die Zählung schwankt in dieser sehr alten Diskussion)

a) Es muss einen gerechten Grund geben, und dieser muss schwerwiegend genug sein (iusta causa). Als solch ein Grund gilt Selbstverteidigung gegen erlittenes oder drohendes Unrecht.

b) Das Kriegsziel muss zu rechtfertigen sein, also Wiederherstellung des Friedens, nicht aber Unterwerfung, Rache etc. (intentio recta).

c) Es muss eine befugte Staatsmacht (legitima potestas) sein, die den Entschluss zum Kriege fasst (im Mittelalter war dies ein zentrales Argument zur Bekämpfung der Fehde zwischen Adligen – local warlords sagt man heute dazu und beobachtet mit Erschrecken das Umsichgreifen dieser für überholt gehaltenen Form in Gestalt der sog. »neuen Kriege«).

d) Ein Krieg muß das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen Wege ausgeschöpft wurden (ultima ratio).

e) Die Verhältnismäßigkeit der Mittel muss beachtet werden, der Schaden der Abwehr darf nicht größer sein, als der abzuwehrende Schaden (debitus modus).

f) Von diesem Argument wird manchmal getrennt: die vernünftige Hoffnung auf Erfolg. Ohne hohe Wahrscheinlichkeit auf Erfolg rechtfertigt auch Selbstverteidigung weder Zerstörungen noch Tötungen. Ein aussichtsloser Widerstand ist nicht gerecht.

g) Bisweilen wird auch aufgeführt: die Kriegsführung muss zwischen Beteiligten und Unbeteiligten unterscheiden.

3 Kritik:

Der Begriff wird dahingehend kritisiert, dass seine Kriterien nicht durchführbar seien und deshalb auch immer wieder durch Täuschung oder Selbsttäuschung seitens der Kriegsparteien ad absurdum zu führen waren, sodass oft nur Rechtfertigungsargumentationen für Kriegsführung und Soldatengehorsam dabei heraus kamen.

Dennoch lohnt sich die Beschäftigung mit der Theorie, weil sie immer wieder herangezogen wird. In der aktuellen Lage (2003) wird sowohl versucht, die Kriegspläne gegen den Irak als auch die Opposition gegen diese Pläne im Lichte der Lehre vom gerechten Krieg zu begründen. Der neue katholische Katechismus argumentiert mit der Aufnahme und Weiterführung der Idee, um jeglichen Angriffskrieg sowie den Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich zu ächten.

 

2.1.3 Martin Luther: „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können“

Obwohl es nun nicht so scheint, daß Würgen und Rauben ein Werk der Liebe ist, weshalb ein Einfältiger denkt, es sei nicht ein christliches Werk und zieme auch einem Christen nicht zu tun, so ist es doch in Wahrheit auch ein Werk der Liebe. Denn es ist wie bei einem guten Arzt: Wenn die Krankheit so böse und schwer ist, daß er Hände, Füße, Ohren oder Augen muß abhauen lassen oder verderben, auf daß er den Leib rette – wenn man das Glied ansieht, das er abhaut, scheint es, er sei ein greulicher, unbarmherziger Mensch; wenn man aber den Leib ansieht, den er dadurch retten will, so findet sich’s in Wahrheit, daß er ein trefflicher, treuer Mensch ist und ein gutes christliches Werk – soweit es an ihm selbst liegt – tut. Ebenso ist es auch, wenn ich das Kriegsamt betrachte, wie es die Bösen straft, die Ungerechten würgt und solchen Jammer anrichtet: Da scheint es ein ganz unchristliches Werk zu sein und durchaus wider die christliche Liebe. Betrachte ich es aber, wie es die Rechtschaffenen schützt, Weib und Kind, Haus und Hof, Gut und Ehre, und dadurch den Frieden erhält und bewahrt, so findet sich’s, wie köstlich und göttlich das Werk ist, und ich erkenne, daß es auch ein Bein oder eine Hand abhaut, auf daß der ganze Leib nicht vergehe. Denn wenn das Schwert nicht wehrte und den Frieden erhielte, so müßte alles durch Unfrieden verderben, was in der Welt ist. Deshalb ist ein solcher Krieg nichts anderes als ein kleiner, kurzer Unfrieden, der einem ewigen, unermeßlichen Unfrieden wehrt; ein kleines Unglück, das einem großen Unglück wehrt.

Daß man nun viel schreibt und sagt, was für eine große Plage ein Krieg sei, das ist alles wahr. Aber man sollte daneben auch betrachten, wievielmal größer die Plage ist, der man durch Kriegführen wehrt. Ja, wenn die Leute rechtschaffen wären und gern Frieden hielten, so wäre Kriegführen die größte Plage auf Erden. Wohin rechnest du aber ein, daß die Welt böse ist, die Leute nicht Frieden halten wollen, rauben, stehlen, töten, Weib und Kind schänden, Ehre und Gut nehmen? Solchem allgemeinen Unfrieden in aller Welt, vor dem kein Mensch bestehen könnte, muß der kleine Unfrieden, der da Krieg und Schwert heißt, steuern. Darum ehrt Gott auch das Schwert so hoch, daß er’s seine eigene Ordnung nennt, und will nicht, daß man sagen oder wähnen sollte, Menschen hätten es erfunden oder eingesetzt. Denn die Hand, die solch ein Schwert fuhrt und würgt, ist alsdann auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott henkt, rädert, enthauptet, würgt und führt Krieg. Es sind alles seine Werke und seine Gerichte.

 

2.1.4 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden

Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus, und ein solcher Zustand ist an sich schon ein Zustand des Krieges, aber eine föderative Vereinigung derselben beugt dem Ausbruch der Feindseligkeiten vor.

Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen Mächten die Geldmacht wohl die zuverlässigste ist, so sehen sich Staaten, freilich nicht aus moralischen Gründen, gezwungen, den edlen Frieden zu befördern, und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen.– – Auf die Art garantiert die Natur, durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst, den ewigen Frieden; freilich nicht mit hinreichender Sicherheit, so dass sie es zur Pflicht macht, auf diesem (nicht bloß schimärischen) Zustand hinzuarbeiten.

Voraussetzungen zum ewigen Frieden:

Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein.

Diese Verfassung geht aus der Idee eines ursprünglichen Vertrags zwischen allen Staatsbürgern hervor, auf der alle Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muss.

Sie enthält die Aussicht auf den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist: Wenn die Zustimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so müssen sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen (nämlich: selbst zu kämpfen, die Kosten des Krieges selbst zu bezahlen, die Zerstörungen wieder aufzubauen; die später den Frieden selbst erschwerende Schuldenlast selbst zu übernehmen). Sie werden sehr bedenken, ein so schlimmes Spiel anzufangen.

Aber in einer Verfassung, die nicht republikanisch ist, ist der Entschluss zum Krieg die einfachste Sache von der Welt, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse mit den anderen Staatsbürgern ist, sondern Staatseigentümer.

Die Regeln des ewigen Friedens:

Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.

Es sollen für den Krieg keine Staatsschulden gemacht werden dürfen.

Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.

Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: Meuchelmörder, Giftmischer, Anstiftung zum Verrat in dem bekriegten Staat etc.

 

2.1.5 Carl von Clausewitz: Vom Kriege

Erstes Buch. Über die Natur des Krieges

 

Erstes Kapitel: Was ist der Krieg?

 

1 Einleitung

Wir denken die einzelnen Elemente unseres Gegenstandes, dann die
einzelnen Teile
oder Glieder desselben und zuletzt das Ganze in
seinem inneren Zusammenhange zu betrachten, also vom Einfachen zum
Zusammengesetzten fortzuschreiten. Aber es ist hier mehr als irgendwo
nötig, mit einem Blick auf das Wesen des Ganzen anzufangen, weil hier
mehr als irgendwo mit dem Teile auch zugleich immer das Ganze gedacht
werden muß.

2 Definition

Wir wollen hier nicht erst in eine schwerfällige publizistische
Definition des Krieges hineinsteigen, sondern uns an das Element
desselben halten, an den Zweikampf. Der Krieg ist nichts als ein
erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen
Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser,
uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische
Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck
ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren
Widerstand unfähig zu machen.

Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung
unseres Willens zu zwingen.

Die Gewalt rüstet sich mit den Erfindungen der Künste und Wissenschaften
aus, um der Gewalt zu begegnen. Unmerkliche, kaum nennenswerte
Beschränkungen, die sie sich selbst setzt unter dem Namen
völkerrechtlicher Sitte, begleiten sie, ohne ihre Kraft wesentlich zu
schwächen. Gewalt, d. h. die physische Gewalt (denn eine moralische gibt
es außer dem Begriffe des Staates und Gesetzes nicht), ist also das
Mittel,
dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen
Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies
ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung. Es
vertritt den Zweck und verdrängt ihn gewissermaßen als etwas nicht zum
Kriege selbst Gehöriges.

3 Äußerste Anwendung der Gewalt

Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein
künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden
zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut
sich das auch ausnimmt, so muß man doch diesen Irrtum zerstören, denn in
so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer,
welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten. Da der
Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung
der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich
dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein
Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Dadurch gibt er dem
anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne
daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gege ngewichte.

So muß man die Sache ansehen, und es ist ein unnützes, selbst verkehrtes
Bestreben, aus Widerwillen gegen das rohe Element die Natur desselben
außer acht zu lassen.

Sind die Kriege gebildeter Völker viel weniger grausam und zerstörend
als die der ungebildeten, so liegt das in dem gesellschaftlichen
Zustande, sowohl der Staaten in sich als unter sich. Aus diesem Zustande
und seinen Verhältnissen geht der Krieg hervor, durch ihn wird er
bedingt, eingeengt, ermäßigt: aber diese Dinge gehören ihm nicht selbst
an, sind ihm nur ein Gegebenes, und nie kann in der Philosophie des
Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden, ohne
eine Absurdität zu begehen.

Der Kampf zwischen Menschen besteht eigentlich aus zwei verschiedenen
Elementen, dem feindseligen Gefühl und der feindseligen Absicht. Wir
haben das letztere dieser beiden Elemente zum Merkmal unserer Definition
gewählt, weil es das allgemeine ist. Man kann sich auch die roheste, an
Instinkt grenzende Leidenschaft des Hasses nicht ohne feindliche Absicht
denken, dagegen gibt es viele feindselige Absichten, die von gar keiner
oder wenigstens von keiner vorherrschenden Feindschaft der Gefühle
begleitet sind. Bei rohen Völkern herrschen die dem Gemüt, bei
Gebildeten die dem Verstande angehörenden Ab sichten vor; allein dieser
Unterschied liegt nicht in dem Wesen von Roheit und Bildung selbst,
sondern in den sie begleitenden Umständen, Einrichtungen usw.: er ist
also nicht notwendig in jedem einzelnen Fall, sondern er beherrscht nur
die Mehrheit der Fälle, mit einem Wort: auch die gebildetsten Völker
können gegeneinander leidenschaftlich entbrennen.

Man sieht hieraus, wie unwahr man sein würde, wenn man den Krieg der
Gebildeten auf einen bloßen Verstandesakt der Regierungen zurückführen
und ihn sich immer mehr als von aller Leidenschaft loslassend denken
wollte, so daß er zuletzt die physischen Massen der Streitkräfte nicht
wirklich mehr brauchte, sondern nur ihre Verhältnisse, eine Art Algebra
des Handelns.

Die Theorie fing schon an, sich in dieser Richtung zu bewegen, als die
Erscheinungen der letzten Kriege sie eines Besseren belehrten. Ist der
Krieg ein Akt der Gewalt, so gehört er notwendig auch dem Gemüt an. Geht
er nicht davon aus, so führt er doch darauf mehr oder weniger zurück,
und dieses Mehr oder Weniger hängt nicht von dem Grade der Bildung,
sondern von der Wichtigkeit und Dauer der feindseligen Interessen ab.

Finden wir also, daß gebildete Völker den Gefangenen nicht den Tod
geben, Stadt und Land nicht zerstören, so ist es, weil sich die
Intelligenz in ihre Kriegführung mehr mischt und ihnen wirksamere Mittel
zur Anwendung der Gewalt gelehrt hat als diese rohen Äußerungen des
Instinkts.

Die Erfindung des Pulvers, die immer weitergehende Ausbildung des
Feuergewehrs zeigen schon hinreichend, daß die in dem Begriff des
Krieges liegende Tendenz zur Vernichtung des Gegners auch faktisch durch
die zunehmende Bildung keineswegs gestört oder abgelenkt worden ist.

Wir wiederholen also unseren Satz: der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und
es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem
anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff
nach zum äußersten führen muß. Dies ist die erste Wechselwirkung und
das erste Äußerste, worauf wir stoßen.

(Erste Wechselwirkung.)

4 Das Ziel ist, den Feind wehrlos zu machen

Wir haben gesagt: den Feind wehrlos zu machen sei das Ziel des
kriegerischen Aktes, und wir wollen nun zeigen, daß dies wenigstens in
der theoretischen Vorstellung notwendig ist.

Wenn der Gegner unseren Willen erfüllen soll, so müssen wir ihn in eine
Lage versetzen, die nachteiliger ist als das Opfer, welches wir von ihm
fordern; die Nachteile dieser Lage dürfen aber natürlich, wenigstens dem
Anscheine nach, nicht vorübergehend sein, sonst würde der Gegner den
besseren Zeitpunkt abwarten und nicht nachgeben. Jede Veränderung dieser
Lage, welche durch die fortgesetzte kriegerische Tätigkeit
hervorgebracht wird, muß also zu einer noch nachteiligeren führen,
wenigstens in der Vorstellung. Die schlimmste Lage, in die ein
Kriegführender kommen kann, ist die gänzliche Wehrlosigkeit. Soll also
der Gegner zur Erfüllung unseres Willens durch den kriegerischen Akt
gezwungen werden, so müssen wir ihn entweder faktisch wehrlos machen
oder in einen Zustand versetzen, daß er nach Wahrscheinlichkeit damit
bedroht sei. Hieraus folgt: daß die Entwaffnung oder das Niederwerfen
des Feindes, wie man es nennen will, immer das Ziel des kriegerischen
Aktes sein muß.

Nun ist der Krieg nicht das Wirken einer lebendigen Kraft auf eine tote
Masse, sondern, weil ein absolutes Leiden kein Kriegführen sein würde,
so ist er immer der Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander, und was
wir von dem letzten Ziel der kriegerischen Handlung gesagt haben, muß
von beiden Teilen gedacht werden. Hier ist also wieder Wechselwirkung.
Solange ich den Gegner nicht niedergeworfen habe, muß ich fürchten, daß
er mich niederwirft, ich bin also nicht mehr Herr meiner, sondern er
gibt mir das Gesetz, wie ich es ihm gebe. Dies ist die zweite
Wechselwirkung, die zum zweiten Äußersten führt.

(Zweite Wechselwirkung.)

5 Äußerste Anstrengung der Kräfte

Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung
nach seiner Widerstandskraft abmessen; diese drückt sich durch ein
Produkt aus, dessen Faktoren sich nicht trennen lassen, nämlich: die
Größe der vorhandenen Mittel
und die Stärke der Willenskraft.

Die Größe der vorhandenen Mittel würde sich bestimmen lassen, da sie
(wiewohl doch nicht ganz) auf Zahlen beruht, aber die Stärke der
Willenskraft läßt sich viel weniger bestimmen und nur etwa nach der
Stärke des Motivs schätzen. Gesetzt, wir bekämen auf diese Weise eine
erträgliche Wahrscheinlichkeit für die Widerstandskraft des Gegners, so
können wir danach unsere Anstrengungen abmessen und diese entweder so
groß machen, daß sie überwiegen, oder, im Fall dazu unser Vermögen nicht
hinrei cht, so groß wie möglich. Aber dasselbe tut der Gegner; also neue
gegenseitige Steigerung, die in der bloßen Vorstellung wieder das
Bestreben zum Äußersten haben muß. Dies ist die dritte Wechselwirkung
und ein drittes Äußerstes, worauf wir stoßen.

(Dritte Wechselwirkung.)

6 Modifikationen in der Wirklichkeit

So findet in dem abstrakten Gebiet des bloßen Begriffs der überlegende
Verstand nirgends Ruhe, bis er an dem Äußersten angelangt ist, weil er
es mit einem Äußersten zu tun hat, mit einem Konflikt von Kräften, die
sich selbst überlassen sind, und die keinen anderen Gesetzen folgen als
ihren inneren; wollten wir also aus dem bloßen Begriffe des Krieges
einen absoluten Punkt für das Ziel, welches wir aussetzen, und für die
Mittel, welche wir anwenden sollen, ableiten, so würden wir bei den
bestà ¤ndigen Wechselwirkungen zu Extremen geraten, die nichts als ein
Spiel der Vorstellungen wären, hervorgebracht durch einen kaum
sichtbaren Faden logischer Spitzfindigkeit. Wenn man, fest an das
Absolute haltend, alle Schwierigkeiten mit einem Federstrich umgehen und
mit logischer Strenge darin beharren wollte, daß man sich jederzeit auf
das Äußerste gefaßt machen und jedesmal die äußerste Anstrengung
daransetzen müsse, so würde ein solcher Federstrich ein bloßes
Büchergesetz sein und keins für d ie wirkliche Welt.

Gesetzt auch, jenes Äußerste der Anstrengungen wäre ein Absolutes, was
leicht gefunden werden könnte, so muß man doch gestehen, daß der
menschliche Geist sich dieser logischen Träumerei schwerlich unterordnen
würde. Es würde in manchen Fällen ein unnützer Kraftaufwand entstehen,
welcher in anderen Grundsätzen der Regierungskunst ein Gegengewicht
finden müßte; eine Anstrengung des Willens würde erfordert werden, die
mit dem vorgesetzten Zweck nicht im Gleichgewicht stände und also nicht
in s Leben gerufen werden könnte, denn der menschliche Wille erhält
seine Stärke nie durch logische Spitzfindigkeiten.

Anders aber gestaltet sich alles, wenn wir aus der Abstraktion in die
Wirklichkeit übergehen. Dort mußte alles dem Optimismus unterworfen
bleiben, und wir mußten uns den einen wie den anderen denken, nicht bloß
nach dem Vollkommenen strebend, sondern auch es erreichend. Wird dies
jemals in der Wirklichkeit auch so sein? Es würde so sein, wenn:

  1. der Krieg ein ganz isolierter Akt wäre, der urplötzlich entstünde und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhinge,
  2. wenn er aus einer einzigen oder aus einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen bestünde,
  3. wenn er eine in sich vollendete Entscheidung enthielte und nicht der politische Zustand, welcher ihm folgen wird, durch den Kalkül schon auf ihn zurückwirkte.

7 Der Krieg ist nie ein isolierter Akt

Was den ersten Punkt betrifft, so ist jeder der beiden Gegner dem
anderen keine abstrakte Person, auch für denjenigen Faktor im
Widerstandsprodukt, der nicht auf äußere Dinge beruht, nämlich den
Willen. Dieser Wille ist kein ganz Unbekanntes; er tut sich kund für
das, was er morgen sein wird, in dem, was er heute war. Der Krieg
entsteht nicht urplötzlich; seine Verbreitung ist nicht das Werk eines
Augenblicks, es kann also jeder der beiden Gegner den anderen
großenteils schon aus dem beurteilen, w as er ist, was er tut, nicht
nach dem, was er, strenge genommen, sein und tun müßte. Nun bleibt aber
der Mensch mit seiner unvollkommenen Organisation immer hinter der Linie
des Absolut-Besten zurück, und so werden diese von beiden Seiten in
Wirksamkeit tretenden Mängel ein ermäßigendes Prinzip.

8 Er besteht nicht aus einem einzigen Schlag ohne Dauer

Der zweite Punkt gibt uns zu folgenden Betrachtungen Veranlassung.

Wäre die Entscheidung im Kriege eine einzige oder eine Reihe
gleichzeitiger, so müßten natürlich alle Vorbereitungen zu derselben die
Tendenz zum Äußersten bekommen, denn ein Versäumnis ließe sich auf keine
Weise wieder einbringen; es würden also aus der wirklichen Welt
höchstens die Vorbereitungen des Gegners, soweit sie uns bekannt sind,
einen Maßstab für uns abgeben können, und alles übrige fiele wieder der
Abstraktion anheim. Besteht aber die Entscheidung aus mehreren
sukzessiven Akten, so kann natürlich der vorgehende mit allen seinen
Erscheinungen am nachfolgenden ein Maß werden, und auf diese Weise tritt
auch hier die wirkliche Welt an, die Stelle des Abstrakten und ermäßigt
so das Bestreben nach dem Äußersten.

Nun würde aber jeder Krieg notwendig in einer einzigen Entscheidung oder
in einer Reihe gleichzeitiger enthalten sein müssen, wenn die zum Kampf
bestimmten Mittel alle zugleich aufgeboten würden oder sich aufbieten
ließen; denn da eine nachteilige Entscheidung die Mittel notwendig
vermindert, so kann, wenn sie in der ersten alle angewendet worden
sind, eine zweite eigentlich nicht mehr gedacht werden. Alle
kriegerischen Akte, die nachfolgen könnten, gehörten dem ersten
wesentlich zu und bildeten eigentlich nur seine Dauer.

Allein wir haben gesehen, daß schon bei den Vorbereitungen zum Kriege
die wirkliche Welt an die Stelle des bloßen Begriffs, ein wirkliches Maß
an die Stelle einer äußersten Voraussetzung tritt; also schon darum
werden beide Gegner in ihrer Wechselwirkung hinter der Linie einer
äußersten Anstrengung zurückbleiben und also nicht sogleich alle Kräfte
aufgeboten werden.

Aber es liegt auch in der Natur dieser Kräfte und ihrer Anwendung, daß
sie nicht alle zugleich in Wirksamkeit treten können. Diese Kräfte
sind: die eigentlichen Streitkräfte, das Land mit seiner Oberfläche
und Bevölkerung und die Bundesgenossen.

Das Land mit seiner Oberfläche und Bevölkerung macht nämlich, außerdem
daß es der Quell aller eigentlichen Streitkräfte ist, auch noch für sich
einen integrierenden Teil der im Kriege wirksamen Größen aus, und zwar
nur mit dem Teile, der zum Kriegstheater gehört oder einen merklichen
Einfluß darauf hat.

Nun kann man wohl alle beweglichen Streitkräfte gleichzeitig wirken
lassen, aber nicht alle Festungen, Ströme, Gebirge, Einwohner usw., kurz
nicht das ganze Land, wenn dieses nicht so klein ist, daß es von dem
ersten Akt des Krieges ganz umfaßt wird. Ferner ist die Mitwirkung der
Bundesgenossenschaft nicht von dem Willen der Kriegführenden abhängig,
und es liegt in der Natur der Staatenverhältnisse, daß sie häufig erst
später eintritt oder sich verstärkt zur Herstellung des verlorenen
Gleichgewichts.

Daß dieser Teil der Widerstandskräfte, welche nicht sogleich in
Wirksamkeit gesetzt werden können, in manchen Fällen einen viel größeren
Teil des Ganzen ausmacht, als man auf den ersten Blick glauben sollte,
und daß dadurch selbst da, wo die erste Entscheidung mit einer großen
Gewalt gegeben und also das Gleichgewicht der Kräfte sehr gestört worden
ist, dieses doch wieder hergestellt werden kann, wird in der Folge näher
entwickelt werden. Hier genügt es uns zu zeigen, daß der Natur des Krieg
es eine vollkommene Vereinigung der Kräfte in der Zeit entgegen ist.
Nun könnte dies an und für sich kein Grund sein, die Steigerung der
Anstrengungen für die erste Entscheidung zu ermäßigen, weil eine
ungünstige Entscheidung immer ein Nachteil ist, dem man sich nicht
absichtlich aussetzen wird, und weil die erste Entscheidung, wenn sie
auch nicht die einzige bleibt, doch um so mehr Einfluß auf die folgenden
haben wird, je größer sie gewesen ist; allein die Möglichkeit einer
späteren E ntscheidung macht, daß der menschliche Geist sich in seiner
Scheu vor allzugroßen Anstrengungen dahinein flüchtet, also bei der
ersten Entscheidung die Kräfte nicht in dem Maß sammelt und anstrengt,
wie sonst geschehen sein würde. Was jeder der beiden Gegner aus Schwäche
unterläßt, wird für den anderen ein wahrer objektiver Grund der
Ermäßigung, und so wird durch diese Wechselwirkung wieder das Streben
nach dem Äußersten auf ein bestimmtes Maß der Anstrengung zurückgeführt.

9 Der Krieg ist mit seinem Resultat nie etwas Absolutes

Endlich ist selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges nicht
immer für eine absolute anzusehen, sondern der erliegende Staat sieht
darin oft nur ein vorübergehendes Übel, für welches in den politischen
Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann.
Wie sehr auch dies die Gewaltsamkeit der Spannung und die Heftigkeit
der Kraftanstrengung mäßigen muß, versteht sich von selbst.

10 Die Wahrscheinlichkeiten des wirklichen Lebens treten an die Stelle
des Äußersten und Absoluten der Begriffe

Auf diese Weise wird dem ganzen kriegerischen Akte das strenge Gesetz
der nach dem Äußersten getriebenen Kräfte genommen. Wird das Äußerste
nicht mehr gefürchtet und nicht mehr gesucht, so bleibt dem Urteil
überlassen, statt seiner die Grenzen für die Anstrengungen
festzustellen, und dies kann nur aus den Daten, welche die Erscheinungen
der wirklichen Welt darbieten, nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen
geschehen. Sind die beiden Gegner nicht mehr bloße Begriffe, sondern
individuelle Staaten und Regierungen, ist der Krieg nicht mehr ein
idealer, sondern ein sich eigentümlich gestaltender Verlauf der
Handlung, so wird das wirklich Vorhandene die Daten abgeben für das
Unbekannte, zu Erwartende, was gefunden werden soll.

Aus dem Charakter, den Einrichtungen, dem Zustande, den Verhältnissen
des Gegners wird jeder der beiden Teile nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen
auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen.

11 Nun tritt der politische Zweck wieder hervor

Hier drängt sich nun von selbst ein Gegenstand von neuem in die
Betrachtung, den wir (s. Nr. 2) daraus entfernt hatten: es ist der
politische Zweck des Krieges. Das Gesetz des Äußersten, die Absicht,
den Gegner wehrlos zu machen, ihn niederzuwerfen, hatte diesen Zweck
bisher gewissermaßen verschlungen. Sowie dieses Gesetz in seiner Kraft
nachläßt, diese Absicht von ihrem Ziel zurücktritt, muß der politische
Zweck des Krieges wieder hervortreten. Ist die ganze Betrachtung ein
Wahrscheinlichkeitskalkül, aus bestimmten Personen und Verhältnissen
hervorgehend, so muß der politische Zweck als das ursprüngliche
Motiv
ein sehr wesentlicher Faktor in diesem Produkt werden. Je kleiner
das Opfer ist, welches wir von unserem Gegner fordern, um so geringer
dürfen wir erwarten, daß seine Anstrengungen sein werden, es uns zu
versagen. Je geringer aber diese sind, um so kleiner dürfen auch die
unsrigen bleiben. Ferner, je kleiner unser politischer Zweck ist, um so
geringer wird der Wert sein, den wir auf ihn legen, um so eher werden
wir uns gefallen lassen, ihn aufzugeben: also um so kleiner werden auch
aus diesem Grunde unsere Anstrengungen sein. So
wird also der
politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß
sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht
werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind. Aber er
wird dies nicht an und für sich sein können, sondern, weil wir es mit
wirklichen Dingen zu tun haben und nicht mit bloßen Begriffen, so wird
er es in Beziehung auf die beiderseitigen Staaten sein. Ein und
derselbe politische Zweck kann bei verschiedenen Völkern, oder selbst
bei ein und demselben Volk, zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene
Wirkungen hervorbringen. Wir können also den politischen Zweck nur so
als das Maß gelten lassen, indem wir uns ihn in Einwirkungen auf die
Massen denken, die er bewegen soll, so
daß also die Natur dieser Massen
in Betrachtung kommt. Daß dadurch das Resultat ein ganz anderes werden
kann, je nachdem sich in den Massen Verstärkungs- oder
Schwächungsprinzipe für die Handlung finden, ist leicht einzusehen. Es
können in zwei Völkern und Staaten sich solche Spannungen, eine solche
Summe feindseliger Elemente finden, daß ein an sich sehr geringes
politisches Motiv des Krieges eine weit über seine Natur hin ausgehende
Wirkung, eine wahre Explosion hervorbringen kann.

Dies gilt für die Anstrengungen, welche der politische Zweck in beiden
Staaten hervorrufen, und für das Ziel, welches er der kriegerischen
Handlung stecken soll. Zuweilen wird er selbst dieses Ziel sein können,
z. B. die Eroberung einer gewissen Provinz. Zuweilen wird der politische
Zweck selbst sich nicht dazu eignen, das Ziel der kriegerischen Handlung
abzugeben; dann muß ein solches genommen werden, welches als ein
Äquivalent für ihn gelten und beim Frieden ihn vertreten kann. Aber auch
hierbei ist immer die Rücksicht auf die Eigentümlichkeit der wirkenden
Staaten vorausgesetzt. Es gibt Verhältnisse, wo das Äquivalent viel
größer sein muß als der politische Zweck, wenn dieser damit errungen
werden soll. Der politische Zweck wird als Maß um so mehr vorherrschen
und selbst entscheiden, je gleichgültiger sich die Massen verhalten, je
geringer die Spannungen sind, die auch außerdem in beiden Staaten und
ihren Verhältnissen sich finden, und so gibt es Fälle, wo er fast allein
entscheidet.

Ist nun das Ziel des kriegerischen Aktes ein Äquivalent für den
politischen Zweck, so wird er im allgemeinen mit diesem heruntergehen,
und zwar um so mehr, je mehr dieser Zweck vorherrscht; und so erklärt es
sich, wie ohne inneren Widerspruch es Kriege mit allen Graden von
Wichtigkeit und Energie geben kann, von dem Vernichtungskriege hinab bis
zur bloßen bewaffneten Beobachtung. Dies führt uns aber zu einer Frage
anderer Art, die wir noch zu entwickeln und zu beantworten haben.

12 Ein Stillstand im kriegerischen Akt ist dadurch noch nicht erklärt

Wie unbedeutend auch die politischen Forderungen beider Gegner sein
mögen, wie schwach die aufgebotenen Mittel, wie gering das Ziel, welches
sie dem kriegerischen Akte stecken, kann dieser Akt je einen Augenblick
stillstehen? Dies ist eine in das Wesen der Sache tief eindringende
Frage.

Jede Handlung braucht zu ihrer Vollziehung eine gewisse Zeit, die wir
ihre Dauer nennen. Diese kann größer oder kleiner sein, je nachdem der
Handelnde mehr oder weniger Eile hineinlegt

Um dieses Mehr oder Weniger wollen wir uns hier nicht bekümmern. Jeder
macht die Sache auf seine Weise; der Langsame aber macht sie nicht darum
langsamer, weil er mehr Zeit darauf verbringen will, sondern weil er
seiner Natur nach mehr Zeit braucht und sie bei größerer Eile weniger
gut machen würde. Diese Zeit hängt also von inneren Gründen ab und
gehört zur eigentlichen Dauer der Handlung.

Lassen wir nun im Kriege einer jeden Handlung diese ihre Dauer, so
müssen wir wenigstens auf den ersten Blick dafürhalten, daß jeder
Zeitaufwand außer dieser Dauer, d. h. jeder Stillstand im kriegerischen
Akt widersinnig erscheint. Wir müssen immer dabei nicht vergessen, daß
nicht von dem Fortschreiten des einen oder anderen der beiden Gegner,
sondern von dem Fortschreiten des ganzen kriegerischen Aktes die Rede
ist.

13 Es gibt nur einen Grund, welcher das Handeln aufhalten kann, und
dieser scheint immer nur auf einer Seite sein zu können

Haben beide Teile sich zum Kampf gerüstet, so muß ein feindseliges
Prinzip sie dazu vermocht haben; solange sie nun gerüstet bleiben, d.h.
nicht Frieden schließen, muß dieses Prinzip vorhanden sein, und es kann
bei jedem der beiden Gegner nur unter einer einzigen Bedingung ruhen,
nämlich: einen günstigeren Zeitpunkt des Handelns abwarten zu wollen.
Nun scheint es auf den ersten Blick, daß diese Bedingung immer nur auf
einer Seite vorhanden sein könne, weil sie eo ipso auf der anderen zum
Gegenteil wird. Hat der eine das Interesse des Handelns, so muß der
andere das Interesse des Abwartens haben.

Ein völliges Gleichgewicht der Kräfte kann einen Stillstand nicht
hervorbringen, denn bei einem solchen müßte der, welcher den positiven
Zweck hat (der Angreifende), der Vorschreitende bleiben.

Wollte man sich aber das Gleichgewicht so denken, daß derjenige, welcher
den positiven Zweck, also das stärkere Motiv hat, zugleich über die
geringeren Kräfte gebietet, so daß die Gleichung aus dem Produkt von
Motiv und Kräften entstände, so müßte man immer noch sagen: wenn für
diesen Zustand des Gleichgewichts keine Veränderung vorher zu sehen ist,
so müssen beide Teile Frieden machen; ist sie aber vorher zu sehen, so
wird sie nur dem einen günstig sein und dadurch also der andere zum
Hande ln bewogen werden müssen. Wir sehen, daß der Begriff des
Gleichgewichts den Stillstand nicht erklären kann, sondern daß es doch
wieder auf das Abwarten eines günstigeren Augenblicks hinausläuft.
Gesetzt also, von zwei Staaten habe der eine einen positiven Zweck: er
will eine Provinz des Gegners erobern, um sie beim Frieden geltend zu
machen. Nach dieser Eroberung ist sein politischer Zweck erfüllt, das
Bedürfnis des Handelns hört auf, für ihn tritt Ruhe ein. Will der Gegner
sich auch bei diesem Er folg beruhigen, so muß er Frieden schließen,
will er dies nicht, so muß er handeln; nun läßt sich denken, daß er in
vier Wochen mehr dazu organisiert sein wird, er hat also einen
hinlänglichen Grund, das Handeln zu verschieben.

Von dem Augenblick an aber, so scheint es, fällt die logische
Verpflichtung des Handelns dem Gegner zu, damit dem Besiegten nicht Zeit
gelassen werde, sich zum Handeln auszurüsten. Es versteht sich, daß
hierbei eine vollkommene Einsicht des Falles von beiden Seiten
vorausgesetzt wird.

14 Dadurch würde eine Kontinuität in das kriegerische Handeln kommen,
die alles wieder steigerte

Wäre diese Kontinuität des kriegerischen Aktes wirklich vorhanden, so
würde durch sie wieder alles zum Äußersten getrieben werden, denn
abgesehen davon, daß eine solche rastlose Tätigkeit die Gemütskräfte
mehr entflammen und dem Ganzen einen höheren Grad von Leidenschaft, eine
größere Elementarkraft geben würde, so würde auch durch die Kontinuität
des Handelns eine strengere Folge, eine ungestörtere Kausalverbindung
entstehen und damit jede einzelne Handlung bedeutender und also
gefahrvol ler werden.

Aber wir wissen, daß die kriegerische Handlung selten oder nie diese
Kontinuität hat, und daß es eine Menge von Kriegen gibt, wo das Handeln
bei weitem den geringsten Teil der angewendeten Zeit einnimmt und der
Stillstand den ganzen übrigen. Dies kann unmöglich immer eine Anomalie,
und der Stillstand im kriegerischen Akt muß möglich, d. h. kein
Widerspruch in sich sein. Daß und wie es so ist, wollen wir jetzt
zeigen.

15 Hier wird also ein Prinzip der Polarität in Anspruch genommen

Indem wir das Interesse des einen Feldherrn immer in entgegengesetzter
Größe bei dem anderen gedacht haben, haben wir eine wahre Polarität
angenommen. Wir behalten uns vor, diesem Prinzip in der Folge ein
eigenes Kapitel zu widmen, müssen aber hier folgendes darüber sagen.

Das Prinzip der Polarität ist nur gültig, wenn diese an ein und
demselben Gegenstand gedacht wird, wo die positive Größe und ihr
Gegensatz, die negative, sich genau vernichten. In einer Schlacht will
jeder der beiden Teile siegen; das ist wahre Polarität, denn der Sieg
des einen vernichtet den des anderen. Wenn aber von zwei verschiedenen
Dingen die Rede ist, die eine gemeinschaftliche Beziehung außer sich
haben, so haben nicht diese Dinge, sondern ihre Beziehungen die
Polarität.

16 Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und von ungleicher Stärke, die Polarität kann also nicht auf sie angewendet werden

Gäbe es nur eine Form des Krieges, nämlich den Anfall des Gegners, also
keine Verteidigung, oder mit anderen Worten, unterschiede sich der
Angriff von der Verteidigung bloß durch das positive Motiv, welches
jener hat und diese entbehrt, der Kampf wäre aber immer ein und
derselbe: so würde in diesem Kampfe jeder Vorteil des einen immer ein
ebenso großer Nachteil des anderen sein, und es wäre Polarität
vorhanden.

Allein die kriegerische Tätigkeit zerfällt in zwei Formen, Angriff und
Verteidigung, die, wie wir in der Folge sächlich dartun werden, sehr
verschieden und von ungleicher Stärke sind. Die Polarität liegt also in
dem, worauf sich beide beziehen, in der Entscheidung, aber nicht im
Angriff und der Verteidigung selbst. Will der eine Feldherr die
Entscheidung später, so muß der andere sie früher wollen, aber freilich
nur bei derselben Form des Kampfes. Hat A das Interesse, seinen Gegner
nicht jetzt, s ondern vier Wochen später anzugreifen, so hat B das
Interesse, nicht vier Wochen später, sondern jetzt von ihm angegriffen
zu werden. Dies ist der unmittelbare Gegensatz; daraus folgt aber nicht,
daß B das Interesse hätte, A jetzt gleich anzugreifen, welches offenbar
etwas ganz Verschiedenes ist.

17 Die Wirkung der Polarität wird oft durch die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff vernichtet, und so erklärt sich der Stillstand des kriegerischen Aktes

Ist die Form der Verteidigung stärker als die des Angriffs, wie wir in
der Folge zeigen werden, so frägt es sich, ob der Vorteil der späteren
Entscheidung
bei dem einen so groß ist wie der Vorteil der
Verteidigung
bei dem anderen; wo das nicht ist, da kann er auch nicht
vermittelst seines Gegensatzes diesen aufwiegen und so auf das
Fortschreiten des kriegerischen Aktes wirken. Wir sehen also, daß die
anregende Kraft, welche die Polarität der Interessen hat, sich in dem
Unterschied der Stärke von Angriff und Verteidigung verlieren und
dadurch unwirksam werden kann.

Wenn also derjenige, für welchen die Gegenwart günstig ist, zu schwach
ist, um den Vorteil der Verteidigung entbehren zu können, so muß er sich
gefallen lassen, der ungünstigeren Zukunft entgegenzugehen; denn es kann
immer noch besser sein, sich in dieser ungünstigen Zukunft verteidigend
zu schlagen, als jetzt angreifend, oder als Frieden zu schließen. Da nun
nach unserer Überzeugung die Überlegenheit der Verteidigung (richtig
verstanden) sehr groß und viel größer ist, als man sich beim erste n
Anblick denkt, so erklärt sich daraus ein sehr großer Teil der
Stillstandsperioden, welche im Kriege vorkommen, ohne daß man genötigt
ist, dabei auf einen inneren Widerspruch zu schließen. Je schwächer die
Motive des Handelns sind, um so mehr werden ihrer von diesem Unterschied
von Angriff und Verteidigung verschlungen und neutralisiert werden, um
so häufiger also wird der kriegerische Akt innehalten, wie die Erfahrung
dies auch lehrt.

18 Ein zweiter Grund liegt in der unvollkommenen Einsicht des Falles

Aber es gibt noch einen anderen Grund, welcher den kriegerischen Akt zum
Stehen bringen kann, nämlich die unvollkommene Einsicht des Falles.
Jeder Feldherr übersieht nur seine eigene Lage genau, die des Gegners
nur nach ungewissen Nachrichten; er kann sich also in seinem Urteil
darüber irren und infolge dieses Irrtums glauben, das Handeln sei am
Gegner, wenn es eigentlich an ihm ist. Dieser Mangel an Einsicht könnte
nun zwar ebensooft ein unzeitiges Handeln wie ein unzeitiges Innehalten
veranlassen u nd würde also an sich nicht mehr zur Verzögerung als zur
Beschleunigung des kriegerischen Aktes beitragen; aber immer wird es als
eine der natürlichen Ursachen betrachtet werden müssen, welche den
kriegerischen Akt ohne inneren Widerspruch zum Stehen bringen können.
Wenn man aber bedenkt, daß man immer vielmehr geneigt und veranlaßt ist,
die Stärke seines Gegners zu hoch, als sie zu gering zu schätzen, weil
es so in der menschlichen Natur ist, so wird man auch zugeben, daß die
unvollkommene Einsicht des Falles im allgemeinen sehr dazu beitragen
muß, die kriegerische Handlung aufzuhalten und das Prinzip derselben zu
ermäßigen.

Die Möglichkeit eines Stillstandes führt eine neue Ermäßigung in den
kriegerischen Akt, indem sie denselben gewissermaßen mit Zeit verdünnt,
die Gefahr in ihrem Schritte hemmt und die Mittel zur Herstellung eines
verlorenen Gleichgewichts vermehrt. Je größer die Spannungen sind, aus
denen der Krieg hervorgegangen, je größer also seine Energie ist, um so
kürzer werden diese Stillstandsperioden sein; je schwächer das
kriegerische Prinzip ist, um so länger; denn die stärkeren Motive
vermehren die Willenskraft, und diese ist, wie wir wissen, jedesmal ein
Faktor, ein Produkt der Kräfte.

19 Der häufige Stillstand im kriegerischen Akt entfernt den Krieg noch
mehr vom Absoluten, macht ihn noch mehr zum Wahrscheinlichkeitskalkül

Je langsamer aber der kriegerische Akt abläuft, je häufiger und länger
er zum Stehen kommt, um so eher wird es möglich, einen Irrtum
gutzumachen, um so dreister wird also der Handelnde in seinen
Voraussetzungen, um so eher wird er damit hinter der Linie des Äußersten
zurückbleiben und alles auf Wahrscheinlichkeiten und Vermutungen bauen.
Was also die Natur des konkreten Falles an sich schon erfordert, einen
Wahrscheinlichkeitskalkül nach den gegebenen Verhältnissen, dazu läßt
der mehr oder weniger langsame Verlauf des kriegerischen Aktes mehr oder
weniger Zeit.

20 Es fehlt also nur noch der Zufall, um ihn zum Spiel zu machen, und dessen entbehrt er am wenigsten

Wir sehen hieraus, wie sehr die objektive Natur des Krieges ihn zu einem
Wahrscheinlichkeitskalkül macht; nun bedarf es nur noch eines einzigen
Elementes, um ihn zum Spiel zu machen, und dieses Elementes entbehrt
er gewiß nicht: es ist der Zufall. Es gibt keine menschliche
Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in
Berührung stände als der Krieg. Mit dem Zufall aber nimmt das Ungefähr
und mit ihm das Glück einen großen Platz in ihm ein.

21 Wie durch seine objektive Natur, so wird der Krieg auch durch die
subjektive zum Spiel

Werfen wir nun einen Blick auf die subjektive Natur des Krieges, d.h.
auf diejenigen Kräfte, womit er geführt werden muß, so muß er uns noch
mehr als ein Spiel erscheinen. Das Element, in welchem die kriegerische
Tätigkeit sich bewegt, ist Gefahr; welche aber ist in der Gefahr die
vornehmste aller Seelenkräfte? Der Mut. Nun kann zwar Mut sich wohl
mit kluger Berechnung vertragen, aber sie sind doch Dinge von
verschiedener Art, gehören verschiedenen Seelenkräften an; dagegen sind
Wagen, Vertrauen auf Glück, Kühnheit, Verwegenheit nur Äußerungen des
Mutes, und alle diese Richtungen der Seele suchen das Ungefähr, weil es
ihr Element ist.

Wir sehen also, wie von Hause aus das Absolute, das sogenannte
Mathematische, in den Berechnungen der Kriegskunst nirgends einen festen
Grund findet, und daß gleich von vornherein ein Spiel von Möglichkeiten,
Wahrscheinlichkeiten, Glück und Unglück hineinkommt, welches in allen
großen und kleinen Fäden seines Gewebes fortläuft und von allen Zweigen
des menschlichen Tuns den Krieg dem Kartenspiel am nächsten stellt.

22 Wie dies dem menschlichen Geiste im allgemeinen am meisten zusagt

Obgleich sich unser Verstand immer zur Klarheit und Gewißheit
hingedrängt fühlt, so fühlt sich doch unser Geist oft von der
Ungewißheit angezogen. Statt sich mit dem Verstande auf dem engen Pfade
philosophischer Untersuchung und logischer Schlußfolgen durchzuwinden,
um, seiner selbst sich kaum bewußt, in Räumen anzukommen, wo er sich
fremd fühlt, und wo ihn alle bekannten Gegenstände zu verlassen
scheinen, weilt er lieber mit der Einbildungskraft im Reiche der Zufälle
und des Glücks. Statt jener dürftigen Notwendigkeit schwelgt er hier im
Reichtum von Möglichkeiten; begeistert davon, beflügelt sich der Mut,
und so wird Wagnis und Gefahr das Element, in welches er sich wirft wie
der mutige Schwimmer in den Strom.

Soll die Theorie ihn hier verlassen, sich in absoluten Schlüssen und
Regeln selbstgefällig fortbewegen? Dann ist sie unnütz fürs Leben. Die
Theorie soll auch das Menschliche berücksichtigen, auch dem Mut, der
Kühnheit, selbst der Verwegenheit soll sie ihren Platz gönnen. Die
Kriegskunst hat es mit lebendigen und mit moralischen Kräften zu tun,
daraus folgt, daß sie nirgends das Absolute und Gewisse erreichen kann;
es bleibt also überall dem Ungefähr ein Spielraum, und zwar ebenso groß
bei dem Größten wie bei dem Kleinsten. Wie dieses Ungefähr auf der einen
Seite steht, muß Mut und Selbstvertrauen auf die andere treten und die
Lücke ausfüllen. So groß wie diese sind, so groß darf der Spielraum für
jenes werden. Mut und Selbstvertrauen sind also dem Kriege ganz
wesentliche Prinzipe; die Theorie soll folglich nur solche Gesetze
aufstellen, in welchen sich jene notwendigen und edelsten der
kriegerischen Tugenden in allen ihren Graden und Veränderungen frei
bewegen können. Auch im Wagen g ibt es noch eine Klugheit und ebensogut
eine Vorsicht, nur daß sie nach einem anderen Münzfuß berechnet sind.

23 Aber der Krieg bleibt doch immer ein ernsthaftes Mittel für einen ernsthaften Zweck. Nähere Bestimmungen desselben

So ist der Krieg, so der Feldherr, der ihn führt, so die Theorie, die
ihn regelt. Aber der Krieg ist kein Zeitvertreib, keine bloße Lust am
Wagen und Gelingen, kein Werk einer freien Begeisterung; er ist ein
ernstes Mittel für einen ernsten Zweck. Alles, was er von jenem
Farbenspiel des Glückes an sich trägt, was er von den Schwingungen der
Leidenschaften, des Mutes, der Phantasie, der Begeisterung in sich
aufnimmt, sind nur Eigentümlichkeiten dieses Mittels.

Der Krieg einer Gemeinheit – ganzer Völker – und namentlich gebildeter
Völker geht immer von einem politischen Zustande aus und wird nur durch
ein politisches Motiv hervorgerufen. Er ist also ein politischer Akt.
Wäre er nun ein vollkommener, ungestörter, eine absolute Äußerung der
Gewalt, wie wir ihn uns aus seinem bloßen Begriff ableiten mußten, so
würde er von dem Augenblicke an, wo er durch die Politik hervorgerufen
ist, an ihre Stelle treten als etwas von ihr ganz Unabhängiges, sie
verdrängen und nur seinen eigenen Gesetzen folgen, so wie eine Mine, die
sich entladet, keiner anderen Richtung und Leitung mehr fähig ist, als
die man ihr durch vorbereitende Einrichtungen gegeben. So hat man sich
die Sache bisher auch wirklich gedacht, sooft ein Mangel an Harmonie
zwischen der Politik und Kriegführung zu theoretischen Unterscheidungen
der Art geführt hat. Allein so ist es nicht, und diese Vorstellung ist
eine grundfalsche. Der Krieg der wirklichen Welt ist, wie wir gesehen
haben, kein solches Äußerstes, was seine Spannung in einer einzigen
Entladung löst, sondern er ist das Wirken von Kräften, die nicht
vollkommen gleichartig und gleichmäßig sich entwickeln, sondern die
jetzt hinreichend aufschwellen, um den Widerstand zu überwinden, den die
Trägheit und die Friktion ihr entgegenstellen, ein anderes Mal aber zu
schwach sind, um eine Wirkung zu äußern; so ist er gewissermaßen ein
Pulsieren der Gewaltsamkeit, mehr oder weniger heftig, folglich mehr
oder weniger schnell die Spannungen lösend und die Kräfte erschöpfend;
mit anderen W orten: mehr oder weniger schnell ans Ziel führend, immer
aber lange genug dauernd, um auch noch in seinem Verlauf Einfluß darauf
zu gestatten, damit ihm diese oder jene Richtung gegeben werden könne,
kurz, um dem Willen einer leitenden Intelligenz unterworfen zu bleiben.
Bedenken wir nun, daß der Krieg von einem politischen Zweck ausgeht, so
ist es natürlich, daß dieses erste Motiv, welches ihn ins Leben gerufen
hat, auch die erste und höchste Rücksicht bei seiner Leistung bleibt.
Aber der politische Zweck ist deshalb kein despotischer Gesetzgeber, er
muß sich der Natur des Mittels fügen und wird dadurch oft ganz
verändert, aber immer ist er das, was zuerst in Erwägung gezogen werden
muß. Die Politik also wird den ganzen kriegerischen Akt durchziehen und
einen fortwährenden Einfluß auf ihn ausüben, soweit es die Natur der in
ihm explodierenden Kräfte zuläßt.

24 Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln

So sehen wir also, daß der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern
ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen
Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln. Was dem Kriege
nun noch eigentümlich bleibt, bezieht sich bloß auf die eigentümliche
Natur seiner Mittel. Daß die Richtungen und Absichten der Politik mit
diesen Mitteln nicht in Widerspruch treten, das kann die Kriegskunst im
allgemeinen und der Feldherr in jedem einzelnen Falle fordern, und
dieser Anspruch ist wahrlich nicht gering; aber wie stark er auch in
einzelnen Fällen auf die politischen Absichten zurückwirkt, so muß dies
doch immer nur als eine Modifikation derselben gedacht werden, denn die
politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals
kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden.

25 Verschiedenartigkeit der Kriege

Je großartiger und stärker die Motive des Krieges sind, je mehr sie das
ganze Dasein der Völker umfassen, je gewaltsamer die Spannung ist, die
dem Kriege vorhergeht, um so mehr wird der Krieg sich seiner abstrakten
Gestalt nähern, um so mehr wird es sich um das Niederwerfen des Feindes
handeln, um so mehr fallen das kriegerische Ziel und der politische
Zweck zusammen, um so reiner kriegerisch, weniger politisch scheint der
Krieg zu sein. Je schwächer aber Motive und Spannungen sind, um so
weniger wi rd die natürliche Richtung des kriegerischen Elementes,
nämlich der Gewalt, in die Linie fallen, welche die Politik gibt, um so
mehr muß also der Krieg von seiner natürlichen Richtung abgelenkt
werden, um so verschiedener ist der politische Zweck von dem Ziel eines
idealen Krieges, um so mehr scheint der Krieg politisch zu werden.

Wir müssen aber hier, damit der Leser nicht falsche Vorstellungen
unterlege, bemerken, daß mit dieser natürlichen Tendenz des Krieges
nur die philosophische, die eigentlich logische gemeint ist und
keineswegs die Tendenz der wirklich im Konflikt begriffenen Kräfte, so
daß man sich z. B. darunter alle Gemütskräfte und Leidenschaften der
Kämpfenden denken sollte. Zwar könnten in manchen Fällen auch diese in
solchem Maße angeregt sein, daß sie mit Mühe in dem politischen Wege
zurückgehalten werden könnten; in den meisten Fällen aber wird solcher
Widerspruch nicht entstehen, weil durch das Dasein so starker
Bestrebungen auch ein großartiger, damit zusamm enstimmender Plan
bedingt sein wird. Wo dieser Plan nur auf Kleines gerichtet ist, da wird
auch das Streben der Gemütskräfte in der Masse so gering sein, daß diese
Masse immer eher eines Anstoßes als einer Zurückhaltung bedürfen wird.

26 Sie können alle als politische Handlungen betrachtet werden

Wenn es also, um zur Hauptsache zurückzukehren, auch wahr ist, daß bei
der einen Art Krieg die Politik ganz zu verschwinden scheint, während
sie bei der anderen Art sehr bestimmt hervortritt, so kann man doch
behaupten, daß die eine so politisch sei wie die andere; denn betrachtet
man die Politik wie die Intelligenz des personifizierten Staates, so muß
unter allen Konstellationen, die ihr Kalkül aufzufassen hat, doch auch
diejenige begriffen sein können, wo die Natur aller Verhältnisse einen
Krie g der ersten Art bedingt. Nur insofern man unter Politik nicht eine
allgemeine Einsicht, sondern den konventionellen Begriff einer der
Gewalt abgewendeten, behutsamen, verschlagenen, auch unredlichen
Klugheit versteht, könnte die letzte Art des Krieges ihr mehr angehören
als die erstere.

27 Folgen dieser Ansicht für das Verständnis der Kriegsgeschichte und
für die Grundlagen der Theorie

Wir sehen also erstens: daß wir uns den Krieg unter allen Umständen
als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu
denken haben; und nur mit dieser Vorstellungsart ist es möglich, nicht
mit der sämtlichen Kriegsgeschichte in Widerspruch zu geraten. Sie
allein schließt das große Buch zu verständiger Einsicht auf. –
Zweitens: zeigt uns ebendiese Ansicht, wie verschieden die Kriege nach
der Natur ihrer Motive und der Verhältnisse, aus denen sie hervorgehen,
sein müssen.

Der erste, der großartigste, der entschiedenste Akt des Urteils nun,
welchen der Staatsmann und Feldherr ausübt, ist der, daß er den Krieg,
welchen er unternimmt, in dieser Beziehung richtig erkenne, ihn nicht
für etwas nehme oder zu etwas machen wolle, was er der Natur der
Verhältnisse nach nicht sein kann. Dies ist also die erste, umfassendste
aller strategischen Fragen; wir werden sie in der Folge beim Kriegsplan
näher in Betrachtung ziehen.

Hier begnügen wir uns, den Gegenstand bis auf diesen Punkt geführt und
dadurch den Hauptgesichtspunkt festgestellt zu haben, aus welchem der
Krieg und seine Theorie betrachtet werden müssen.

28 Resultat für die Theorie

Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem
konkreten Falle seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen
Gesamterscheinungen nach, in Beziehung auf die in ihm herrschenden
Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der
ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Haß und der
Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind, aus dem
Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien
Seelentätigkeit
machen, und aus der untergeordneten Natur eines
politischen Werkzeuges, wodurch er dem bloßen Verstande anheimfällt.

Die erste dieser drei Seiten ist mehr dem Volke, die zweite mehr dem
Feldherrn und seinem Heer, die dritte mehr der Regierung zugewendet. Die
Leidenschaften, welche im Kriege entbrennen sollen, müssen schon in den
Völkern vorhanden sein; der Umfang, welchen das Spiel des Mutes und
Talents im Reiche der Wahrscheinlichkeiten des Zufalls bekommen wird,
hängt von der Eigentümlichkeit des Feldherrn und des Heeres ab, die
politischen Zwecke aber gehören der Regierung allein an.

Diese drei Tendenzen, die als ebenso viele verschiedene Gesetzgebungen
erscheinen, sind tief in der Natur des Gegenstandes gegründet und
zugleich von veränderlicher Größe. Eine Theorie, welche eine derselben
unberücksichtigt lassen oder zwischen ihnen ein willkürliches Verhältnis
feststellen wollte, würde augenblicklich mit der Wirklichkeit in solchen
Widerspruch geraten, daß sie dadurch allein schon wie vernichtet
betrachtet werden müßte.

Die Aufgabe ist also, daß sich die Theorie zwischen diesen drei
Tendenzen wie zwischen drei Anziehungspunkten schwebend erhalte.

Auf welchem Wege dieser schwierigen Aufgabe noch am ersten genügt werden
könnte, wollen wir in dem Buche von der Theorie des Krieges untersuchen.
In jedem Fall wird die hier geschehene Feststellung des Begriffs vom
Kriege der erste Lichtstrahl, der für uns in den Fundamentalbau der
Theorie fällt, der zuerst die großen Massen sondern und sie uns
unterscheiden lassen wird.

 

Zweites Kapitel: Zweck und Mittel im Kriege

Wir werden in der Folge beim Kriegsplan näher untersuchen, was es heißt,
einen Staat wehrlos machen, müssen aber hier gleich drei Dinge
unterscheiden, die als drei allgemeine Objekte alles übrige in sich
fassen. Es ist die Streitkraft, das Land und der Wille des
Feindes.

Die Streitkraft muß vernichtet, d. h. in einen solchen Zustand versetzt
werden, daß sie den Kampf nicht mehr fortsetzen kann.
Wir erklären
hierbei, daß wir in der Folge bei dem Ausdruck »Vernichtung der
feindlichen Streitkraft« nur dies verstehen werden.

Das Land muß erobert werden, denn aus dem Lande könnte sich eine neue
Streitkraft bilden.

Ist aber auch beides geschehen, so kann der Krieg, d. h. die feindliche
Spannung und Wirkung feindseliger Kräfte, nicht als beendet angesehen
werden, solange der Wille des Feindes nicht auch bezwungen ist, d. h.
seine Regierung und seine Bundesgenossen zur Unterzeichnung des Friedens
oder das Volk zur Unterwerfung vermocht sind; denn es kann sich, während
wir im vollen Besitz des Landes sind, der Kampf in seinem Innern oder
auch durch Beistand seiner Bundesgenossen von neuem entzünden.

 

Drittes Kapitel: Der kriegerische Genius

Jede eigentümliche Tätigkeit bedarf, wenn sie mit einer gewissen
Virtuosität getrieben werden soll, eigentümlicher Anlagen des Verstandes
und Gemüts. Wo diese in einem hohen Grade ausgezeichnet sind und sich
durch außerordentliche Leistungen darstellen, wird der Geist, dem sie
angehören, mit dem Namen des Genius bezeichnet.

Wir wollen bei dieser Fakultät und Würde des Geistes einige Augenblicke
verweilen, um die Berechtigung näher nachzuweisen und den Inhalt des
Begriffs näher kennenzulernen. Aber wir können nicht bei dem durch ein
sehr gesteigertes Talent graduierten, bei dem eigentlichen Genie
stehenbleiben, denn dieser Begriff hat ja keine abgemessenen Grenzen,
sondern wir müssen überhaupt jede gemeinschaftliche Richtung der
Seelenkräfte zur kriegerischen Tätigkeit in Betrachtung ziehen, die wir
dann als das Wesen des kriegerischen Genius ansehen können. Wir sagen
die gemeinschaftlichen, denn darin besteht eben der kriegerische
Genius, daß er nicht eine einzelne dahin gerichtete Kraft, z. B. der Mut
ist, während andere Kräfte des Verstandes und Gemüts fehlen oder eine
für den Krieg unbrauchbare Richtung haben, sondern daß er ein
harmonischer Verein der Kräfte ist,
wobei eine oder die andere
vorherrschen, aber keine widerstreben darf.

Daß auch gebildete Völker eine mehr oder weniger kriegerische Richtung
und Entwicklung haben können, versteht sich von selbst, und je mehr dies
der Fall ist, um so häufiger wird sich in ihrem Heere der kriegerische
Geist auch in dem einzelnen finden. Da dies nun mit dem höheren Grade
desselben zusammentrifft, so gehen von solchen Völkern immer die
glänzendsten kri egerischen Erscheinungen aus, wie Römer und Franzosen
bewiesen haben. Die größten Namen dieser und aller im Kriege einst
berühmten Völker fallen aber immer erst in die Zeiten einer höheren
Bildung.

Der Krieg ist das Gebiet der Gefahr, es ist also Mut vor allen Dingen
die erste Eigenschaft des Kriegers.

Der Mut ist doppelter Art: einmal Mut gegen die persönliche Gefahr, und
dann Mut gegen die Verantwortlichkeit, sei es vor dem Richterstuhl
irgendeiner äußeren Macht oder der inneren, nämlich des Gewissens. Nur
von dem ersteren ist hier die Rede.

Der Mut gegen die persönliche Gefahr ist wieder doppelter Art: erstens
kann er Gleichgültigkeit gegen die Gefahr sein, sei es, daß sie aus dem
Organismus des Individuums oder aus Geringschätzung des Lebens oder aus
Gewohnheit hervorgehe, auf jeden Fall aber ist er als ein bleibender
Zustand anzusehen.

Zweitens kann der Mut aus positiven Motiven hervorgehen wie Ehrgeiz,
Vaterlandsliebe, Begeisterung jeder Art. In diesem Fall ist der Mut
nicht sowohl ein Zustand als eine Gemütsbewegung, ein Gefühl.

Es ist begreiflich, daß beide Arten verschiedener Wirkung sind. Die
erste Art ist sicherer, weil sie, zur zweiten Natur geworden, den
Menschen nie verläßt, die zweite führt oft weiter; der ersten gehört
mehr die Standhaftigkeit, der zweiten mehr die Kühnheit an; die erste
läßt den Verstand nüchterner, die zweite steigert ihn zuweilen,
verblendet ihn aber auch oft. Beide vereinigt geben die
vollkommenste Art des Mutes.

Der Krieg ist das Gebiet körperlicher Anstrengungen und Leiden; um
dadurch nicht zugrunde gerichtet zu werden, bedarf es einer gewissen
Kraft des Körpers und der Seele, die, angeboren oder eingeübt,
gleichgültig dagegen macht. Gehen wir in den Forderungen weiter, die der
Krieg an seine Genossen macht, so treffen wir auf vorherrschende
Verstandeskräfte.
Der Krieg ist das Gebiet der Ungewißheit; drei
Vierteile derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird,
liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewißheit. Her ist es
also zuerst, wo ein feiner, durchdringender Verstand in Anspruch
genommen wird, um mit dem Takte seines Urteils die Wahrheit
herauszufühlen.

Es mag ein gewöhnlicher Verstand diese Wahrheit einmal durch Zufall
treffen, ein ungewöhnlicher Mut mag das Verfehlen ein andermal
ausgleichen, aber die Mehrheit der Fälle, der Durchschnittserfolg, wird
den fehlenden Verstand immer an den Tag bringen.

Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit
muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine
so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt
die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse.

Jene Unsicherheit aller Nachrichten und Voraussetzungen, diese
beständigen Einmischungen des Zufalls machen, daß der Handelnde im
Kriege die Dinge unaufhörlich anders findet, als er sie erwartet hatte,
und es kann nicht fehlen, daß dies auf seinen Plan oder wenigstens auf
die diesem Plane zugehörigen Vorstellungen Einfluß habe. Ist dieser
Einfluß auch so groß, die gefaßten Vorsätze entschieden aufzuheben, so
müssen doch in der Regel neue an ihre Stelle treten, für welche es dann
oft in dem Augenblicke an Datis fehlt, weil im Lauf des Handelns die
Umstände den Entschluß meistens drängen und keine Zeit lassen, sich von
neuem umzusehen, oft nicht einmal so viel, um reifliche Überlegungen
anzustellen. Aber es ist viel gewöhnlicher, daß die Berichtigung unserer
Vorstellungen und die Kenntnis eingetretener Zufälle nicht hinreicht,
unseren Vorsatz ganz umzustoßen, sondern ihn nur wankend zu machen. Die
Kenntnis der Umstände hat sich in uns vermehrt, aber die Ungewißheit ist
dadurch nicht verringert, sondern gesteigert. Die Ursache ist, weil man
diese Erfahrungen nicht alle mit einemmal macht, sondern nach und nach,
weil unsere Entschließungen nicht aufhören, davon bestürmt zu werden,
und der Geist, wenn wir so sagen dürfen, immer unter den Waffen sein
muß.

Soll er nun diesen beständigen Streit mit dem Unerwarteten glücklich
bestehen, so sind ihm zwei Eigenschaften unentbehrlich: einmal ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen, und dann Mut, diesem schwachen Lichte zu folgen. Der erstere ist bildlich mit
dem französischen Ausdruck coup d’oeil bezeichnet worden, der andere
ist die Entschlossenheit.

Aber es ist nicht zu verkennen, daß bald alle im Augenblick der
Ausführung gefaßten treffenden Entschlüsse darunter verstanden worden
sind, z. B. das Erkennen des wahren Angriffspunktes usw. Es ist also
nicht bloß das körperliche, sondern häufiger das geistige Auge, welches
in dem coup d’oeil gemeint ist.

Die Entschlossenheit ist ein Akt des Mutes in dem einzelnen Fall, und
wenn sie zum Charakterzug wird, eine Gewohnheit der Seele. Aber hier ist
nicht der Mut gegen körperliche Gefahr, sondern der gegen die
Verantwortung, also gewissermaßen gegen Seelengefahr gemeint. Man hat
diesen oft courage d’esprit genannt, weil er aus dem Verstande
entspringt, aber er ist darum kein Akt des Verstandes, sondern des
Gemüts. Bloßer Verstand ist noch kein Mut, denn wir sehen die
gescheitesten Leute oft ohne Entschluß. Der Verstand muß also erst das
Gefühl des Mutes erwecken, um von ihm gehalten und getragen zu werden,
weil im Drange des Augenblicks Gefühle den Menschen stärker beherrschen
als Gedanken.

Diese Entschlossenheit nun, welche einen zweifelhaften Zustand besiegt,
kann nur durch Verstand hervorgerufen werden, und zwar durch eine ganz
eigentümliche Richtung desselben. Wir behaupten, daß das bloße
Beisammensein höherer Einsichten und nötiger Gefühle immer noch nicht
die Entschlossenheit macht. Es gibt Leute, die den schönsten Blick des
Geistes für die schwierigste Aufgabe besitzen, denen es auch nicht an
Mut fehlt, vieles auf sich zu nehmen, und die in schwierigen Fällen doch
nicht zum Entschluß kommen können. Ihr Mut und ihre Einsicht stehen
jedes einzeln, bieten sich nicht die Hand und bringen darum nicht die
Entschlossenheit als ein Drittes hervor. Diese entsteht erst durch den
Akt
des Verstandes, der die Notwendigkeit des Wagens zum Bewußtsein
bringt und durch sie den Willen bestimmt. Diese ganz eigentümliche
Richtung des Verstandes, die jede andere Scheu im Menschen niederkämpft
mit der Scheu vor dem Schwanken und Zaudern, ist es, welche in
kräftigen Gemütern die Entschlossenheit ausbildet; darum können Menschen
mit wenig Verstand in unserem Sinne nicht entschlossen sein. Sie können
in schwierigen Fällen ohne Zaudern handeln, aber dann tun sie es ohne
Überlegung,
und es können freilich den, welcher unüberlegt handelt,
keine Zweifel mit sich selbst entzweien. Ein solches Handeln kann auch
hin und wieder das Rechte treffen, aber wir sagen hier wie oben: es ist
der Durchschnittserfolg, welcher auf das Dasein des kriegerischen
Genius deutet.

Bei dem coup d’oeil und der Entschlossenheit liegt es uns ganz nahe, von
der damit verwandten Geistesgegenwart zu reden, die in einem Gebiete
des Unerwarteten, wie der Krieg ist, eine große Rolle spielen muß; denn
sie ist ja nichts als eine gesteigerte Besiegung des Unerwarteten. Man
bewundert die Geistesgegenwart in einer treffenden Antwort auf eine
unerwartete Anrede, wie man sie bewundert in der schnell gefundenen
Aushilfe bei plötzlicher Gefahr. Beide, diese Antwort und diese
Aushilfe, brauchen nicht ungewöhnlich zu sein, wenn sie nur treffen;
denn was nach reiflicher und ruhiger Überlegung nichts Ungewöhnliches,
also in seinem Eindruck auf uns etwas Gleichgültiges wäre, kann als ein
schneller Akt des Verstandes Vergnügen machen. Der Ausdruck
Geistesgegenwart bezeichnet gewiß sehr passend die Nähe und
Schnelligkeit der vom Verstande dargereichten Hilfe.

Wenn wir nun einen Gesamtblick auf die vier Bestandteile werfen, aus
denen die Atmosphäre zusammengesetzt ist, in welcher sich der Krieg
bewegt, auf die Gefahr, die körperliche Anstrengung, die Ungewißheit
und den Zufall, so wird es leicht begreiflich, daß eine große Kraft
des Gemütes und des Verstandes erforderlich ist, um in diesem
erschwerenden Element mit Sicherheit und Erfolg vorzuschreiten, eine
Kraft, die wir nach den verschiedenen Modifikationen, welche sie von den
Umständen annimmt, als Energie, Festigkeit, Standhaftigkeit, Gemüts-
und Charakterstärke
in dem Munde der Erzähler und Berichterstatter
kriegerischer Ereignisse finden.

Solange eine Truppe voll guten Mutes mit Lust und Leichtigkeit kämpft,
ist selten eine Veranlassung da, große Willenskraft in der Verfolgung
seiner Zwecke zu zeigen; sowie aber die Umstände schwierig werden, und
das kann, wo Außerordentliches geleistet werden soll, nie ausbleiben, so
geht die Sache nicht mehr von selbst wie mit einer gut eingeölten
Maschine, sondern die Maschine selbst fängt an Widerstand zu leisten,
und diesen zu überwinden, dazu gehört die große Willenskraft des
Führers.

Von allen großartigen Gefühlen, die die menschliche Brust in dem heißen
Drange des Kampfes erfüllen, ist, wir wollen es nur gestehen, keines so
mächtig und konstant wie der Seelendurst nach Ruhm und Ehre, den die
deutsche Sprache so ungerecht behandelt, indem sie ihn in Ehrgeiz und
Ruhmsucht, durch zwei unwürdige Nebenvorstellungen, herabzusetzen
strebt. Freilich hat der Mißbrauch dieser stolzen Sehnsucht gerade im
Kriege die empörendsten Ungerechtigkeiten gegen das menschliche
Geschlecht hervorbringen müssen; aber ihrem Ursprunge nach sind diese
Empfindungen gewiß zu den edelsten der menschlichen Natur zu zählen, und
im Kriege sind sie der eigentliche Lebenshauch, der dem ungeheuren
Körper eine Seele gibt. Alle anderen Gefühle, wieviel allgemeiner sie
auch werden können, oder wieviel höher manche auch zu stehen scheinen,
Vaterlandsliebe, Ideenfanatismus, Rache, Begeisterung jeder Art, sie
machen den Ehrgeiz und die Ruhmbegierde nicht entbehrlich. Jene Gefühle
können den ganzen Haufen im allgemeinen erregen und höherstimmen, aber
geben dem Führer nicht das Verlangen, mehr zu wollen als die Gefährten,
welches ein wesentliches Bedürfnis seiner Stelle ist, wenn er
Vorzügliches darin leisten soll; sie machen nicht, wie der Ehrgeiz tut,
den einzelnen kriegerisch en Akt zum Eigentum des Anführers, welches er
dann auf die beste Weise zu nutzen strebt, wo er mit Anstrengung pflügt,
mit Sorgfalt sät, um reichlich zu ernten. Diese Bestrebungen aller
Anführer aber, von dem höchsten bis zum geringsten, diese Art von
Industrie, dieser Wetteifer, dieser Sporn sind es vorzüglich, welche die
Wirksamkeit eines Heeres beleben und erfolgreich machen. Und was nun
ganz besonders den höchsten betrifft, so fragen wir: hat es je einen
großen Feldherrn ohne Ehrgeiz gegeben, od er ist eine solche Erscheinung
auch nur denkbar?

Die Festigkeit bezeichnet den Widerstand des Willens in bezug auf die
Stärke eines einzelnen Stoßes, die Standhaftigkeit in bezug auf die
Dauer.

So nahe beide beieinanderliegen, und sooft der eine Ausdruck für den
anderen gebraucht wird, so ist doch eine merkliche Verschiedenheit ihres
Wesens nicht zu verkennen, insofern die Festigkeit gegen einen einzelnen
heftigen Eindruck ihren Grund in der bloßen Stärke eines Gefühls haben
kann, die Standhaftigkeit aber schon mehr von dem Verstande unterstützt
sein will; denn mit der Dauer eine Tätigkeit nimmt die Planmäßigkeit
derselben zu, und aus dieser schöpft die Standhaftigkeit zum Teil ihre
Kraft.

Wenden wir uns zur Gemüts- oder Seelenstärke, so ist die erste Frage:
was wir darunter verstehen sollen.

Offenbar nicht die Heftigkeit der Gemütsäußerungen, die
Leidenschaftlichkeit, denn das wäre gegen allen Sprachgebrauch, sondern
das Vermögen, auch bei den stärksten Anregungen, im Sturm der heftigsten
Leidenschaft, noch dem Verstande zu gehorchen. Sollte dies Vermögen bloß
von der Kraft des Verstandes herrühren? Wir bezweifeln es. Zwar würde
die Erscheinung, daß es Menschen von ausgezeichnetem Verstande gibt, die
sich nicht in ihrer Gewalt haben, noch nichts dagegen beweisen, denn man
könnte sagen, daß es einer eigentümlichen, vielleicht einer mehr
kräftigen als umfassenden Natur des Verstandes bedürfte. Aber wir
glauben der Wahrheit doch näher zu sein, wenn wir annehmen, daß die
Kraft, sich auch in den Augenblicken der heftigsten Gemütsbewegung dem
Verstande noch zu unterwerfen, welche wir die Selbstbeherrschung
nennen, in dem Gemüte selbst ihren Sitz hat. Es ist nämlich ein anderes
Gefühl, was in starken Gemütern der aufgeregten Leidenschaft das
Gleichgewicht hält, ohne sie zu vernichten, und durch dieses
Gleichgewicht wird dem Verstande erst die Herrschaft gesichert. Dieses
Gegengewicht ist nichts anderes als das Gefühl der Menschenwürde, dieser
edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis, überall als ein mit
Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken.
Wir würden darum sagen:
ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten
Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt.

Eine sehr große Kluft liegt zwischen einem Feldherrn, d. h. einem
entweder an der Spitze eines ganzen Krieges oder eines Kriegstheaters
stehenden General, und der nächsten Befehlshaberstufe unter ihm, aus dem
einfachen Grunde, weil dieser einer viel näheren Leitung und Aufsicht
unterworfen ist, folglich der eigenen Geistestätigkeit einen viel
kleineren Kreis läßt. Dies hat denn veranlaßt, daß die gewöhnliche
Meinung eine ausgezeichnete Verstandestätigkeit nur in dieser höchsten
Stelle sieht und bis dahin mit dem gemeinen Verstande auszureichen
glaubt; ja, man ist nicht abgeneigt, in einem unter den Waffen ergrauten
Unterfeldherrn, den seine einseitige Tätigkeit zu einer unverkennbaren
Geistesarmut geführt hat, ein gewisses Verdummen zu erblicken und bei
aller Verehrung für seinen Mut über seine Einfalt zu lächeln. Es ist
nicht unser Vorsatz, diesen braven Leuten ein besseres Los zu erkämpfen;
dies würde nichts zu ihrer Wirksamkeit und wenig zu ihrem Glück
beitragen, sondern wir wollen nur die Sachen zeigen wie sie sind, und
vor dem Irrtum warnen, daß im Kriege ein bloßer Bravo ohne Verstand
Vorzügliches leisten könne.

 

Sechstes Kapitel: Nachrichten im Kriege

Mit dem Worte Nachrichten bezeichnen wir die ganze Kenntnis, welche man
von dem Feinde und seinem Lande hat, also die Grundlage aller eigenen
Ideen und Handlungen. Man betrachte einmal die Natur dieser Grundlage,
ihre Unzuverlässigkeit und Wandelbarkeit, und man wird bald das Gefühl
haben, wie gefährlich das Gebäude des Krieges ist, wie leicht es
zusammenstürzen und uns unter seinen Trümmern begraben kann. – Denn daß
man nur sicheren Nachrichten trauen solle, daß man das Mißtrauen nie von
sich lassen müsse, steht wohl in allen Büchern, ist aber ein elender
Büchertrost und gehört zu der Weisheit, zu welcher System- und
Kompendienschreiber in Ermangelung von etwas Besserem ihre Zuflucht
nehmen.

Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist
widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte
einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen. Was man hier vom Offizier
fordern kann, ist ein gewisses Unterscheiden, was nur Sach- und
Menschenkenntnis und Urteil geben können. Das Gesetz des
Wahrscheinlichen muß ihn leiten. Diese Schwierigkeit ist nicht
unbedeutend bei den ersten Entwürfen, die auf dem Zimmer und noch außer
der eigentlichen Kriegssphäre gemacht werden, aber unendlich größer ist
sie da, wo im Getümmel des Krieges selbst eine Nachricht die andere
drängt; ein Glück noch, wenn sie, einander widersprechend, ein gewisses
Gleichgewicht erzeugen und die Kritik selbst herausfordern. Viel
schlimmer für den Nichtgeprüften, wenn ihm der Zufall diesen Dienst
nicht erweist, sondern eine Nachricht die andere unterstützt, bestätigt,
vergrößert, das Bild mit immer neuen Farben ausmalt, bis die
Notwendigkeit uns in fliegender Eile den Entschluß abgedrängt hat, der –
bald als Torheit erkannt wird, so wie alle jene Nachrichten, als Lügen,
Übertreibungen, Irrtümer usw. Mit kurzen Worten: die meisten Nachrichten
sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der
Lüge und Unwahrheit. In der Regel ist jeder geneigt, das Schlimme eher
zu glauben als das Gute; jeder ist geneigt, das Schlimme etwas zu
vergrößern, und die Gefährlichkeiten, welche auf diese Weise berichtet
werden, ob sie gleich wie die Wellen des Meeres in sich selbst zu
sammensinken, kehren doch wie jene ohne sichtbare Veranlassung immer von
neuem zurück. Fest im Vertrauen auf sein besseres inneres Wissen muß der
Führer dastehen wie der Fels, an dem die Welle sich bricht. Die Rolle
ist nicht leicht; wer nicht von Natur mit leichtem Blute begabt oder
durch kriegerische Erfahrungen geübt und im Urteil gestärkt ist, mag es
sich eine Regel sein lassen, sich gewaltsam, d. h. gegen das innere
Niveau seiner eigenen Überzeugung von der Seite der Befürchtungen ab auf
die Seite der Hoffnungen hinzuneigen; er wird nur dadurch das wahre
Gleichgewicht erhalten können. Diese Schwierigkeit richtig zu sehen,
welche eine der allergrößten Friktionen im Kriege ausmacht, läßt die
Dinge ganz anders erscheinen, als man sie gedacht hat. Der Eindruck der
Sinne ist stärker als die Vorstellungen des überlegenden Kalküls, und
dies geht so weit, daß wohl noch nie eine einigermaßen wichtige
Unternehmung ausgeführt worden ist, wo der Befehlshaber nicht in den
ersten Momenten der Ausführung neue Zweifel bei sich zu besiegen gehabt
hätte. Gewöhnliche Menschen, die fremden Eingebungen folgen, werden
daher meistens unschlüssig an Ort und Stelle; sie glauben die Umstände
anders gefunden zu haben, als sie solche vorausgesetzt hatten, und zwar
um so mehr, da sie auch hier sich wieder fremden Eingebungen überlassen.
Aber auch der, welcher selbst entwarf und jetzt mit eigenen Augen sieht,
wird leicht an seiner vorigen Meinung irre. Festes Vertrauen zu sich
selbst muß ihn gegen den scheinbaren Drang des Augenblicks waffnen;
seine frühere Überzeugung wird sich bei der Entwicklung bewähre n, wenn
die vorderen Kulissen, welche das Schicksal in die Kriegsszenen
einschiebt, mit ihren dick aufgetragenen Gestalten der Gefahr weggezogen
und der Horizont erweitert ist. – Dies ist eine der großen Klüfte
zwischen Entwerfen und Ausführen.

 

Siebentes Kapitel: Friktion im Kriege

Solange man selbst den Krieg nicht kennt, begreift man nicht, wo die
Schwierigkeiten der Sache liegen, von denen immer die Rede ist, und was
eigentlich das Genie und die außerordentlichen Geisteskräfte zu tun
haben, die vom Feldherrn gefordert werden. Alles erscheint so einfach,
alle erforderlichen Kenntnisse erscheinen so flach, alle Kombinationen
so unbedeutend, daß in Vergleichung damit uns die einfachste Aufgabe der
höheren Mathematik mit einer gewissen wissenschaftlichen Würde
imponiert. Wenn man aber den Krieg gesehen hat, wird alles begreiflich,
und doch ist es äußerst schwer, dasjenige zu beschreiben, was diese
Veränderung hervorbringt, diesen unsichtbaren und überall wirksamen
Faktor zu nennen.

Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.
Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die
sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat. So
stimmt sich im Kriege durch den Einfluß unzähliger kleiner Umstände, die
auf dem Papier nie gehörig in Betrachtung kommen können, alles herab,
und man bleibt weit hinter dem Ziel. Ein mächtiger eiserner Wille
überwindet diese Friktion, er zermalmt die Hindernisse, aber freilich
die Maschine mit.

Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein
entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier
unterscheidet. Die militärische Maschine, die Armee und alles, was dazu
gehört, ist im Grunde sehr einfach und scheint deswegen leicht zu
handhaben. Aber man bedenke, daß kein Teil davon aus einem Stücke ist,
daß alles aus Individuen zusammengesetzt ist, deren jedes seine eigene
Friktion nach allen Seiten hin behält. Theoretisch klingt es ganz gut:
der Chef des Bataillons ist verantwortlich für die Ausführung des
gegebenen Befehls, und da das Bataillon durch die Disziplin zu einem
Stück zusammengeleimt ist, der Chef aber ein Mann von anerkanntem Eifer
sein muß, so dreht sich der Balken um einen eisernen Zapfen mit wenig
Friktion. So aber ist es in der Wirklichkeit nicht, und alles, was die
Vorstellung Übertriebenes und Unwahres hat, zeigt sich im Kriege auf der
Stelle. Das Bataillon bleibt immer aus einer Anzahl Menschen
zusammengesetzt, von denen, wenn der Zufall es will, der unbedeutendste
imstande ist, einen Aufenthalt oder sonst eine Unregelmäßigkeit zu
bewirken. Die Gefahren, welche der Krieg mit sich bringt, die
körperlichen Anstrengungen, die er fordert, steigern das Übel so sehr,
daß sie als die beträchtlichsten Ursachen desselben angesehen werden
müssen.

Diese entsetzliche Friktion, die sich nicht wie in der Mechanik auf
wenig Punkte konzentrieren läßt, ist deswegen überall im Kontakt mit dem
Zufall und bringt dann Erscheinungen hervor, die sich gar nicht
berechnen lassen, eben weil sie zum großen Teil dem Zufall angehören.
Ein solcher Zufall ist z. B. das Wetter. Hier verhindert der Nebel, daß
der Feind zu gehöriger Zeit entdeckt wird, daß ein Geschütz zur rechten
Zeit schießt, daß eine Meldung den kommandierenden Offizier findet; dort
der Regen, daß ein Bataillon ankommt, daß ein anderes zur rechten Zeit
kommt, weil es statt drei vielleicht acht Stunden marschieren mußte, daß
die Kavallerie wirksam einhauen kann, weil sie im tiefen Boden
steckenbleibt usw.

Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel. Sowenig
man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung,
das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, sowenig kann man
im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen
halten.

Ferner: jeder Krieg ist reich an individuellen Erscheinungen, mithin ist
jeder ein unbefahrenes Meer voll Klippen, die der Geist des Feldherrn
ahnen kann, die aber sein Auge nie gesehen hat, und die er nun in
dunkler Nacht umschiffen soll.

Zweites Buch. Über die Theorie des Krieges

 

Erstes Kapitel: Einteilung der Kriegskunst

 

Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch
der Streitkräfte im Gefecht,
die Strategie die Lehre vom Gebrauch der
Gefechte zum Zweck des Krieges.

Achtes Buch. Kriegsplan

 

Zweites Kapitel: Absoluter und wirklicher Krieg

 

Man fängt keinen Krieg an, oder man sollte vernünftigerweise keinen
anfangen, ohne sich zu sagen, was man mit und was man in demselben
erreichen will, das erstere ist der Zweck, das andere das Ziel. Durch
diesen Hauptgedanken werden alle Richtungen gegeben, der Umfang der
Mittel, das Maß der Energie bestimmt, und er äußert seinen Einfluß bis
in die kleinsten Glieder der Handlung hinab.

 

Drittes Kapitel: B. Von der Größe des kriegerischen Zweckes und der Anstrengung

Der Zwang, welchen wir unserem Gegner antun müssen, wird sich nach der
Größe unserer und seiner politischen Forderungen richten. Insofern diese
gegenseitig bekannt sind, würde es dasselbe Maß der Anstrengung geben;
allein sie liegen nicht immer so offen da, und dies kann ein erster
Grund zur Verschiedenheit in den Mitteln sein, die beide aufbieten.

Um also das Maß der Mittel kennenzulernen, welches wir für den Krieg
aufzubieten haben, müssen wir den politischen Zweck desselben
unsererseits und von seiten des Feindes bedenken; wir müssen die Kräfte
und Verhältnisse des feindlichen Staates und des unserigen, wir müssen
den Charakter seiner Regierung, seines Volkes, die Fähigkeiten beider,
und alles das wieder von unserer Seite, wir müssen die politischen
Verbindungen anderer Staaten und die Wirkungen, welche der Krieg darin
hervorbringen kan n, in Betrachtung ziehen. Daß das Abwägen dieser
mannigfachen und mannigfach durcheinandergreifenden Gegenstände eine
große Aufgabe, daß es ein wahrer Lichtblick des Genies ist, hierin
schnell das Rechte herauszufinden, während es ganz unmöglich sein würde,
durch eine bloße schulgerechte Überlegung der Mannigfaltigkeit Herr zu
werden, ist leicht zu begreifen.

In diesem Sinne hat Bonaparte ganz richtig gesagt: es würde eine
algebraische Aufgabe werden, vor der selbst ein Newton zurückschrecken
könnte.

Wir müssen also zuvörderst einräumen, daß das Urteil über einen
bevorstehenden Krieg, über das Ziel, welches er haben darf, über die
Mittel, welche nötig sind, nur aus dem Gesamtüberblick aller
Verhältnisse entstehen kann, in welchem also die individuellsten Züge
des Augenblickes mitverflochten sind, und daß dieses Urteil, wie jedes
im kriegerischen Leben, niemals rein objektiv sein kann, sondern nach
den Geistes- und Gemütseigenschaften der Fürsten, Staatsmänner,
Feldherren bestimmt wird, sei es, daß sie in einer Person vereinigt sind
oder nicht.

Allgemein und einer abstrakten Behandlung fähiger wird der Gegenstand
schon dann, wenn wir auf die allgemeinen Verhältnisse der Staaten sehen,
die sie von ihrer Zeit und den Umständen erhalten haben. Wir müssen uns
hier einen flüchtigen Blick auf die Geschichte erlauben.

Halbgebildete Tataren, Republiken der alten Welt, Lehnsherren und
Handelsstädte des Mittelalters, Könige des achtzehnten Jahrhunderts,
endlich Fürsten und Völker des neunzehnten Jahrhunderts: alle führen den
Krieg auf ihre Weise, führen ihn anders, mit anderen Mitteln und nach
einem anderen Ziel.

Die Tatarenschwärme suchen neue Wohnsitze. Sie ziehen mit dem ganzen
Volke aus, mit Weib und Kind, sie sind also zahlreich wie
verhältnismäßig kein anderes Heer, und ihr Ziel ist Unterwerfung oder
Vertreibung des Gegners.

 

Viertes Kapitel: Nähere Bestimmungen des kriegerischen Zieles. Niederwerfung des Feindes

Das Ziel des Krieges sollte nach seinem Begriff stets die Niederwerfung
des Gegners sein; dies ist die Grundvorstellung, von der wir ausgehen.

Was ist nun diese Niederwerfung?

Es kommt darauf an, die vorherrschenden Verhältnisse beider Staaten im
Auge zu haben. Aus ihnen wird sich ein gewisser Schwerpunkt, ein Zentrum
der Kraft und Bewegung bilden, von welchem das Ganze abhängt, und auf
diesen Schwerpunkt des Gegners muß der gesammelte Stoß aller Kräfte
gerichtet sein.

Das Kleine hängt stets vom Großen ab, das Unwichtige von dem Wichtigen,
das Zufällige von dem Wesentlichen. Dies muß unseren Blick leiten.

Alexander, Gustav Adolf, Karl XII., Friedrich der Große hatten ihren
Schwerpunkt in ihrem Heer, wäre dies zertrümmert worden, so würden sie
ihre Rolle schlecht ausgespielt haben; bei Staaten, die durch innere
Parteiungen zerrissen sind, liegt er meistens in der Hauptstadt; bei
kleinen Staaten, die sich an mächtige stützen, liegt er im Heer dieser
Bundesgenossen; bei Bündnissen liegt er in der Einheit des Interesses;
bei Volksbewaffnung in der Person der Hauptführer und in der
öffentlichen Meinung. Gegen diese Dinge muß der Stoß gerichtet sein. Hat
der Gegner dadurch das Gleichgewicht verloren, so muß ihm keine Zeit
gelassen werden, es wieder zu gewinnen; der Stoß muß immer in dieser
Richtung fortgesetzt werden, oder mit anderen Worten, der Sieger muß ihn
immer ganz und das Ganze nicht gegen einen Teil des Gegners richten.
Nicht indem man mit gemütlicher Ruhe und Übermacht eine feindliche
Provinz erobert und den mehr gesicherten Besitz dieser kleinen Eroberung
großen Erfolgen vorzieht, son dern indem man den Kern der feindlichen
Macht immer wieder aufsucht, das Ganze daransetzt, um das Ganze zu
gewinnen, wird man den Gegner wirklich zu Boden werfen.

Was aber such das Hauptverhältnis des Gegners sein mag, wogegen unsere
Wirksamkeit zu richten ist, so bleibt doch die Besiegung und Zerstörung
seiner Streitkraft der sicherste Anfang und in allen Fällen ein sehr
wesentliches Stück.

Wir glauben daher, daß nach der Masse der Erfahrungen folgende Umstände
die Niederwerfung des Gegners hauptsächlich ausmachen:

  1. Zertrümmerung seines Heeres, wenn es einigermaßen eine Potenz bildet.
  2. Einnahme der feindlichen Hauptstadt, wenn sie nicht bloß der Mittelpunkt der Staatsgewalten, sondern auch der Sitz politischer Körper und Parteiungen ist.
  3. Ein wirksamer Stoß gegen den hauptsächlichsten Bundesgenossen, wenn dieser an sich bedeutender ist als der Gegner.

Wir wenden uns nun bestimmter zu der Frage, warum ein solches Ziel
möglich und ratsam ist.

Zuerst muß unsere Streitkraft hinreichend sein:

  1. einen entscheidenden Sieg über die feindliche zu erhalten;
  2. den Kraftaufwand zu machen, welcher nötig ist, wenn wir den Sieg bis auf den Punkt verfolgen, wo die Herstellung des Gleichgewichts nicht mehr denkbar ist.

Sodann müssen wir nach unserer politischen Lage sicher sein, durch einen
solchen Erfolg nicht Feinde zu erwecken, die uns auf der Stelle zwingen
können, von dem ersten Gegner abzulassen.

Der kriegerische Akt braucht seine Zeit wie jedes Ding auf Erden; man
kann nicht in acht Tagen zu Fuß von Wilna nach Moskau gehen, das
versteht sich; aber von einer Wechselwirkung zwischen Zeit und Kraft,
wie sie in der Dynamik stattfindet, ist hier keine Spur.

Die Zeit ist beiden Kriegführenden nötig, und es frägt sich nur, welcher
von beiden wird seiner Stellung nach am ersten besondere Vorteile von
ihr zu erwarten haben; dies aber ist, die Eigentümlichkeit des einen
Falles gegen den anderen aufgewogen, offenbar der Unterliegende:
freilich nicht nach dynamischen, aber nach psychologischen Gesetzen.
Neid, Eifersucht, Besorgnis, auch wohl hin und wieder Edelmut sind die
natürlichen Fürsprecher des Unglücklichen, sie werden ihm auf der einen
Seite Freunde erwecken, auf der anderen das Bündnis seiner Feinde
schwächen und trennen. Es wird sich also mit der Zeit eher für den
Eroberten etwas Vorteilhaftes ergeben als für den Erobernden. Ferner ist
zu bedenken, daß die Benutzung eines ersten Sieges, wie wir anderswo
gezeigt haben, einen großen Kraftaufwand erfordert; dieser will nicht
bloß gemacht, er will wie ein großer Hausstand unterhalten sein; nicht
immer sind die Staatskräfte, welche uns den Besitz feindlicher Provinzen
zugeführt, hinreichend, diese Mehrausgaben auszugleichen, nach und nach
wird die Anstrengung schwieriger, zuletzt kann sie unzureichend wer den,
die Zeit also von selbst einen Umschwung herbeiführen.

Wir haben durch dieses Räsonnement klarmachen wollen, daß keine
Eroberung schnell genug vollendet werden kann; daß ihre Verteilung auf
einen größeren Zeitraum als absolut nötig, um die Handlung zu
vollbringen, sie nicht erleichtert, sondern erschwert. Ist diese
Behauptung richtig, so ist es auch die, daß, wenn man überhaupt stark
genug ist, eine gewisse Eroberung zu vollbringen, man es auch sein
müsse, um sie in einem Zuge zu machen, ohne Zwischenstation.

 

Sechstes Kapitel: A. Einfluß des politischen Zweckes auf das kriegerische Ziel

Niemals wird man sehen, daß ein Staat, der in der Sache eines anderen
auftritt, diese so ernsthaft nimmt wie seine eigene. Eine mäßige
Hilfsarmee wird vorgesandt; ist sie nicht glücklich, so sieht man die
Sache ziemlich als abgemacht an und sucht so wohlfeil als möglich
herauszukommen.

Es ist in der europäischen Politik eine hergebrachte Sache, daß die
Staaten sich in Schutz- und Trutzbündnissen zu gegenseitigem Beistand
verpflichten, aber nicht so, als wenn die Feindschaft und das Interesse
des einen dadurch eben das für den anderen werden sollte, sondern indem
sie sich einander ohne Rücksicht auf den Gegenstand des Krieges und die
Anstrengungen des Gegners im voraus eine bestimmte, gewöhnlich sehr
mäßige Kriegsmacht zusagen. Bei einem solchen Akt der
Bundesgenossenschaft betrachtet sich der Bundesgenosse mit dem Gegner
nicht in einem eigentlichen Krieg begriffen, der notwendig mit einer
Kriegserklärung anfangen und mit einem Friedensschluß endigen müßte.
Aber such dieser Begriff besteht nirgends mit einiger Schärfe, und der
Gebrauch schwankt hin und her.

Gewöhnlich haben die Hilfstruppen ihren eigenen Feldherrn, der nur von
seinem Hofe abhängt, und dem dieser ein Ziel steckt, wie es sich mit der
Halbheit seiner Absichten am besten verträgt.

Aber selbst dann, wenn zwei Staaten wirklich Kriegführende gegen einen
dritten sind, heißt es nicht immer, wir müssen diesen dritten als
unseren Feind ansehen, den wir vernichten müssen, damit er uns nicht
vernichte, sondern die Sache wird oft wie ein Handelsgeschäft abgemacht;
ein jeder legt nach Verhältnis der Gefahr, die er zu bestehen und der
Vorteile, die er zu erwarten hat, eine Aktie von 30 bis 40000 Mann ein
und tut, als könne er nichts als diese dabei verlieren.

Endlich hat such im eigenen Kriege die politische Veranlassung desselben
einen mächtigen Einfluß auf seine Führung.

Wollen wir vom Feinde nur ein geringes Opfer, so begnügen wir uns, durch
den Krieg nur ein geringes Äquivalent zu gewinnen, und dazu glauben wir
mit mäßigen Anstrengungen zu gelangen. Ungefähr ebenso schließt der
Gegner. Findet nun der eine oder der andere, daß er sich in seiner
Rechnung etwas betrogen hat, daß er dem Feinde nicht, wie er gewollt, um
etwas überlegen, sondern daß er selbst schwächer ist, so fehlt es doch
in dem Augenblick gewöhnlich an Geld und an allen anderen Mitteln, es
fehlt an hinreichendem moralischen Anstoß zu größerer Energie; man
behilft sich also, wie man kann, hofft von der Zukunft günstige
Ereignisse, wenn man such gar kein Recht dazu hat, und der Krieg
schleppt sich unterdessen wie ein siecher Körper kraftlos fort.

So geschieht es, daß die Wechselwirkung, das Überbieten, das Gewaltsame
und Unaufhaltsame des Krieges sich in der Stagnation schwacher Motive
verlieren, und daß beide Parteien sich in sehr verkleinerten Kreisen mit
einer Art Sicherheit bewegen.

Läßt man diesen Einfluß des politischen Zweckes auf den Krieg einmal zu,
wie man ihn denn zulassen muß, so gibt es keine Grenze mehr, und man muß
sich gefallen lassen, such zu solchen Kriegen herunterzusteigen, die in
bloßer Bedrohung des Gegners und in einem Subsidium des
Unterhandelns
bestehen.

 

Sechstes Kapitel: B. Der Krieg ist ein Instrument der Politik

Nachdem wir uns bis jetzt bei dem Zwiespalt, in dem die Natur des
Krieges mit anderen Interessen des einzelnen Menschen und des
gesellschaftlichen Verbandes steht, bald nach der einen, bald nach der
anderen Seite haben umsehen müssen, um keines dieser entgegengesetzten
Elemente zu vernachlässigen, ein Zwiespalt, der in dem Menschen selbst
gegründet ist, und den der philosophische Verstand also nicht lösen
kann, wollen wir nun diejenige Einheit suchen, zu welcher sich im
praktischen Leben diese widers prechenden Elemente verbinden, indem sie
sich teilweis gegenseitig neutralisieren. Wir würden diese Einheit
gleich von vornherein aufgestellt haben, wenn es nicht notwendig gewesen
wäre, eben jene Widersprüche recht deutlich hervorzuheben und die
verschiedenen Elemente auch getrennt zu betrachten. Diese Einheit nun
ist der Begriff, daß der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs
sei, also durchaus nichts Selbständiges.

Man weiß freilich, daß der Krieg nur durch den politischen Verkehr der
Regierungen und der Völker hervorgerufen wird; aber gewöhnlich denkt man
sich die Sache so, daß mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz
anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen
unterworfen sei.

Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des
politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit
Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser
politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas
ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen
fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich
bedient, und daß die Hauptlinien, an welchen die kriegerischen
Ereignisse fortlaufen und gebunden sind, nur seine Lineamente sind, die
sich zwischen den Krieg durch bis zum Frieden fortziehen. Und wie wäre
es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die
politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf? Ist
nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres
Denkens? Er hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene
Logik.

Hiernach kann der Krieg niemals von dem politischen Verkehr getrennt
werden, und wenn dies in der Betrachtung irgendwo geschieht, werden
gewissermaßen die Fäden des Verhältnisses zerrissen, und es entsteht ein
sinn- und zweckloses Ding.

Diese Vorstellungsart würde selbst dann unentbehrlich sein, wenn der
Krieg ganz Krieg, ganz das ungebundene Element der Feindschaft wäre,
denn alle die Gegenstände, auf welchen er ruht und die seine
Hauptrichtungen bestimmen: eigene Macht, Macht des Gegners,
beiderseitige Bundesgenossen, gegenseitiger Volks- und
Regierungscharakter usw., wie wir sie im ersten Kapitel des ersten
Buches aufgezählt haben, sind sie nicht politischer Natur, und hängen
sie nicht mit dem ganzen politischen Verkehr so genau zusammen, daß es
unmöglich ist, sie davon zu trennen? – Aber diese Vorstellungsart wird
doppelt unentbehrlich, wenn wir bedenken, daß der wirkliche Krieg kein
so konsequentes, auf das Äußerste gerichtetes Bestreben ist, wie er
seinem Begriff nach sein sollte, sondern ein Halbding, ein Widerspruch
in sich; daß er als solcher nicht seinen eigenen Gesetzen folgen kann,
sondern als Teil eines anderen Ganzen betrachtet werden muß, – und
dieses Ganze ist die Politik.

Die Politik, indem sie sich des Krieges bedient, weicht allen strengen
Folgerungen aus, welche aus seiner Natur hervorgehen, bekümmert sich
wenig um die endlichen Möglichkeiten und hält sich nur an die nächsten
Wahrscheinlichkeiten. Kommt dadurch viel Ungewißheit in den ganzen
Handel, wird er also zu einer Art Spiel, so hegt die Politik eines jeden
Kabinetts zu sich das Vertrauen, es dem Gegner in Gewandtheit und
Scharfsicht bei diesem Spiel zuvorzutun.

So macht also die Politik aus dem alles überwältigenden Element des
Krieges ein bloßes Instrument; aus dem furchtbaren Schlachtschwert, was
mit beiden Händen und ganzer Leibeskraft aufgehoben sein will, um damit
einmal und nicht mehr zuzuschlagen, einen leichten, handlichen Degen,
der zuweilen selbst zum Rapier wird, und mit dem sie Stöße, Finten und
Paraden abwechseln läßt.

So lösen sich die Widersprüche, in welche der Krieg den von Natur
furchtsamen Menschen verwickelt, wenn man dies für eine Lösung gelten
lassen will.

Gehört der Krieg der Politik an, so wird er ihren Charakter annehmen.
Sobald sie großartiger und mächtiger wird, so wird es auch der Krieg,
und das kann bis zu der Höhe steigen, wo der Krieg zu seiner absoluten
Gestalt gelangt.

Wir haben also bei dieser Vorstellungsart nicht nötig, den Krieg in
dieser Gestalt aus den Augen zu verlieren; vielmehr muß fortwährend sein
Bild im Hintergrunde schweben.

Freilich dringt das politische Element nicht tief in die Einzelheiten
des Krieges hinunter, man stellt keine Vedetten und führt keine
Patrouille nach politischen Rücksichten: aber desto entschiedener ist
der Einfluß dieses Elementes bei dem Entwurf zum ganzen Kriege, zum
Feldzuge und oft selbst zur Schlacht.

Wir haben uns deshalb auch nicht beeilt, diesen Gesichtspunkt gleich
anfangs aufzustellen. Bei den einzelnen Gegenständen würde es uns wenig
genutzt, unsere Aufmerksamkeit gewissermaßen zerstreut haben; bei dem
Kriegs- und Feldzugsplan ist er unentbehrlich.

Daß die Politik alle Interessen der inneren Verwaltung, auch die der
Menschlichkeit, und was sonst der philosophische Verstand zur Sprache
bringen könnte, in sich vereinigt und ausgleicht, wird vorausgesetzt;
denn die Politik ist ja nichts an sich, sondern ein bloßer Sachwalter
aller dieser Interessen gegen andere Staaten. Daß sie eine falsche
Richtung haben, dem Ehrgeiz, dem Privatinteresse, der Eitelkeit der
Regierenden vorzugsweise dienen kann, gehört nicht hierher; denn in
keinem Fall ist es die Kriegskunst, welche als ihr Präzeptor betrachtet
werden kann, und wir können hier die Politik nur als Repräsentanten
aller Interessen der ganzen Gesellschaft betrachten.

Die Frage bleibt also nur, ob bei Kriegsentwürfen der politische
Standpunkt dem rein militärischen (wenn ein solcher überhaupt denkbar
wäre) weichen, d. h. ganz verschwinden oder sich ihm unterordnen, oder
ob er der herrschende bleiben und der militärische ihm untergeordnet
werden müsse.

Denken wir an die Natur des wirklichen Krieges, erinnern wir uns des im
dritten Kapitel dieses Buches Gesagten, daß jeder Krieg vor allen Dingen nach der Wahrscheinlichkeit seines Charakters und seiner Hauptumrisse aufgefaßt werden soll, wie sie sich aus den politischen
Größen und Verhältnissen ergeben,
und daß oft, ja wir können in unseren
Tagen wohl behaupten, meistens der Krieg wie ein organisches Ganze
betrachtet werden muß, von dem sich die einzelnen Glieder nicht
absondern lassen, wo also jede einzelne Tätigkeit mit dem Ganzen
zusammenströmen und aus der Idee dieses Ganzen hervorgehen muß, so wird
es uns vollkommen gewiß und klar, daß der oberste Standpunkt für die
Leitung des Krieges, von dem die Hauptlinien ausgehen, kein anderer als
der der Politik sein könne.

Von diesem Standpunkt aus sind die Entwürfe wie aus einem Guß
hervorgegangen, das Auffassen und Beurteilen wird leichter, natürlicher,
die Überzeugung kräftiger, die Motive befriedigender und die Geschichte
verständlicher.

Von diesem Standpunkte aus ist ein Streit zwischen den politischen und
kriegerischen Interessen wenigstens nicht mehr in der Natur der Sache
und also da, wo er eintritt, nur als eine Unvollkommenheit der Einsicht
zu betrachten. Daß die Politik an den Krieg Forderungen macht, die er
nicht leisten kann, wäre gegen die Voraussetzung, daß sie das Instrument
kenne, welches sie gebrauchen will, also gegen eine natürliche, ganz
unerläßliche Voraussetzung. Beurteilt sie aber den Verlauf der
kriegerischen E reignisse richtig, so ist es ganz ihre Sache und kann
nur die ihrige sein, zu bestimmen, welche Ereignisse und welche Richtung
der Begebenheiten dem Ziele des Krieges entsprechen.

Mit einem Wort, die Kriegskunst auf ihrem höchsten Standpunkte wird zur
Politik, aber freilich eine Politik, die statt Noten zu schreiben,
Schlachten liefert.

Mit dieser Ansicht ist es eine unzulässige und selbst schädliche
Unterscheidung, wonach ein großes kriegerisches Ereignis oder der Plan
zu einem solchen eine rein militärische Beurteilung zulassen soll; ja,
es ist ein widersinniges Verfahren, bei Kriegsentwürfen Militäre zu Rate
zu ziehen, damit sie rein militärisch darüber urteilen sollen, wie die
Kabinette wohl tun; aber noch widersinniger ist das Verlangen der
Theoretiker, daß die vorhandenen Kriegsmittel dem Feldherrn überwiesen
werden sollen, um danach einen rein militärischen Entwurf zum Kriege
oder Feldzuge zu machen. Auch lehrt die allgemeine Erfahrung, daß trotz
der großen Mannigfaltigkeit und Ausbildung des heutigen Kriegswesens die
Hauptlineamente des Krieges doch immer von den Kabinetten bestimmt
worden sind, d. h. von einer, wenn man technisch sprechen will, nur
politischen, nicht militärischen Behörde.

Dies ist vollkommen in der Natur der Dinge. Keiner der Hauptentwürfe,
welche für einen Krieg nötig sind, kann ohne Einsichten in die
politischen Verhältnisse gemacht werden, und man sagt eigentlich etwas
ganz anderes, als man sagen will, wenn man, was häufig geschieht, von
dem schädlichen Einfluß der Politik auf die Führung des Krieges spricht.
Es ist nicht dieser Einfluß, sondern die Politik selbst, welche man
tadeln sollte. Ist die Politik richtig, d. h. trifft sie ihr Ziel, so
kann sie auf den Krieg in ihrem Sinn auch nur vorteilhaft wirken; und wo
diese Einwirkung vom Ziel entfernt, ist die Quelle nur in der verkehrten
Politik zu suchen.

Nur dann, wenn die Politik sich von gewissen kriegerischen Mitteln und
Maßregeln eine falsche, ihrer Natur nicht entsprechende Wirkung
verspricht, kann sie mit ihren Bestimmungen einen schädlichen Einfluß
auf den Krieg haben. Wie jemand in einer Sprache, der er nicht ganz
gewachsen ist, mit einem richtigen Gedanken zuweilen Unrichtiges sagt,
so wird die Politik dann oft Dinge anordnen, die ihrer eigenen Absicht
nicht entsprechen.

Dies ist unendlich oft vorgekommen, und dies macht es fühlbar, daß eine
gewisse Einsicht in das Kriegswesen von der Führung des politischen
Verkehrs nicht getrennt werden sollte.

Soll ein Krieg ganz den Absichten der Politik entsprechen, und soll die
Politik den Mitteln zum Kriege ganz angemessen sein, so bleibt, wo der
Staatsmann und der Soldat nicht in einer Person vereinigt sind, nur ein
gutes Mittel übrig, nämlich den obersten Feldherrn zum Mitglied des
Kabinetts zu machen, damit dasselbe teil an den Hauptmomenten seines
Handelns nehme. Dies ist aber wieder nur möglich, wenn das Kabinett, d.
h. also die Regierung, selbst sich in der Nähe des Schauplatzes
befindet, damit die Dinge ohne merklichen Zeitverlust abgemacht werden
können.

2.2 Zeittypisch-grundlegende Texte

2.2.1 Satzung der Vereinten Nationen

WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN, ENTSCHLOSSEN,

Die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat, und

Den Glauben an grundlegende Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und von großen und kleinen Nationen erneut zu bekräftigen und Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und Achtung der Verpflichtungen, die auf Verträgen oder anderen Quellen des Völkerrechtes beruhen, gewährleistet werden kann und Sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit zu fördern

UND FÜR DIESE ZWECKE

Toleranz zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben und

Unsere Macht zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten und

Durch die Annahme von Grundsätzen und die Schaffung entsprechender Methoden sicherzustellen, daß Waffengewalt nicht zur Anwendung komme, es sei denn im Interesse des Gemeinwohles, und

Internationale Organisationen heranzuziehen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern,

HABEN BESCHLOSSEN, UNSERE ANSTRENGUNGEN ZU VEREINEN, UM DIESE ABSICHTEN ZU ERREICHEN.

Dementsprechend haben sich unsere Regierungen durch ihre in der Stadt San Francisco versammelten Vertreter, die ihre in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten vorgewiesen haben, auf die vorliegende Satzung der Vereinten Nationen geeinigt und errichten hiermit eine internationale Organisation, die den Namen „Vereinte Nationen“ tragen soll.

Kapitel VII. Maßnahmen bei Bedrohung des Friedens, bei Friedensbrüchen und Angriffshandlungen

Artikel 39. 1. Der Sicherheitsrat hat jedesmal festzustellen, daß eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorliegt, und erstattet Empfehlungen oder beschließt, welche Maßnahmen gemäß Artikel 41 und 42 zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen sind.

Artikel 40. Um eine Verschärfung der Situation zu verhindern, kann der Sicherheitsrat, bevor er Empfehlungen erstattet oder über die in Artikel 39 vorgesehenen Maßnahmen beschließt, die beteiligten Parteien auffordern, sich den vorläufigen Maßnahmen zu fügen, die er für nötig oder erwünscht hält. Solche vorläufige Maßnahmen berühren die Rechte, Ansprüche oder die Stellung der beteiligten Parteien nicht. Der Sicherheitsrat stellt die Nichtbefolgung solcher vorläufiger Maßnahmen entsprechend in Rechnung.

Artikel 41. Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen, bei denen Waffengewalt nicht zur Anwendung kommt, zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen, und er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Diese können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der wirtschaftlichen Beziehungen der Eisenbahn-, Schiffs-, Luft-, Post-, Telegraphen-, Radio- und sonstigen Verbindungen und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen umfassen.

Artikel 42. Sollte der Sicherheitsrat zur Auffassung gelangen, daß die in Artikel 41 vorgesehenen Maßnahmen nicht genügen oder sich als ungeeignet erwiesen haben, kann er durch Luft-, See- oder Landstreitkräfte die Operationen durchführen, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nötig sind. Solche Maßnahmen können Demonstrationen, Blockade und andere Operationen von Luft-, See- oder Landstreitkräften von Mitgliedern der Vereinten Nationen umfassen.

Artikel 51. Keine Bestimmung der vorliegenden Satzung beeinträchtigt das Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung, wenn ein Angriff mit Waffengewalt gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen erfolgt, bis der Sicherheitsrat die zur Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat. Von den Mitgliedern in Ausübung dieses Rechts der Selbstverteidigung ergriffene Maßnahmen sind dem Sicherheitsrat sofort zu melden und beeinträchtigen in keiner Weise die in der vorliegenden Satzung vorgesehene Befugnis und Verpflichtung des Sicherheitsrates, zu jeder Zeit die ihm erforderlich scheinenden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen.

2.2.2 Charta von Paris

FÜR EIN NEUES EUROPA

Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE): Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Heiliger Stuhl, Irland, Island, Italien – Europäische Gemeinschaft, Jugoslawien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechische und Slowakische Föderative Republik, Türkei, Ungarn, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern

Paris, 19.- 21. November 1990

Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken. In diesem Bestreben werden wir an folgendem festhalten:

Demokratische Regierung gründet sich auf den Volkswillen, der seinen Ausdruck in regelmäßigen, freien und gerechten Wahlen findet. Demokratie beruht auf Achtung vor der menschlichen Person und Rechtsstaatlichkeit. Demokratie ist der beste Schutz für freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit für alle.

Die Demokratie, ihrem Wesen nach repräsentativ und pluralistisch, erfordert Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft, Bindung der staatlichen Gewalt an das Recht sowie eine unparteiische Rechtspflege. Niemand steht über dem Gesetz.

Freundschaftliche Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten

In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlußakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, daß die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.

Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.

Nun, da die Teilung Europas zu Ende geht, werden wir unter uneingeschränkter gegenseitiger Achtung der Entscheidungsfreiheit eine neue Qualität in unseren Sicherheitsbeziehungen anstreben. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.

Menschliche Dimension

Wir sind entschlossen, den wertvollen Beitrag nationaler Minderheiten zum Leben unserer Gesellschaften zu fördern, und verpflichten uns, deren Lage weiter zu verbessern. Wir bekräftigen unsere tiefe Überzeugung, daß freundschaftliche Beziehungen zwischen unseren Völkern sowie Friede, Gerechtigkeit, Stabilität und Demokratie den Schutz der ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität nationaler Minderheiten und die Schaffung von Bedingungen für die Förderung dieser Identität erfordern. Wir erklären, daß Fragen in bezug auf nationale Minderheiten nur unter demokratischen Bedingungen befriedigend gelöst werden können. Ferner erkennen wir an, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein anerkannten Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden müssen.
Wir sind entschlossen, alle Formen von Haß zwischen Rassen und Volksgruppen, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung irgendeines Menschen sowie von Verfolgung aus religiösen und ideologischen Gründen zu bekämpfen.

 

2.2.3 Gemeinsame Sicherheit 2022 – Olof-Palme-Report 2022

Einleitung

Die Welt steht an einem Scheideweg. Sie steht vor der Wahl zwischen einer Existenz auf der Grundlage von Wettbewerb und Aggression oder einer Existenz, die auf einer transformativen Friedensagenda und gemeinsamer Sicherheit beruht. Im Jahr 2022 ist die Menschheit mit den existenziellen Bedrohungen eines Atomkriegs, des Klimawandels und von Pandemien konfrontiert. Hinzu kommt eine giftige Mischung aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und schrumpfendem demokratischen Raum. Wie die Menschheit auf diese Bedrohungen reagiert, wird über unser Überleben entscheiden.

Das globale Sicherheitssystem steht auf der Kippe. Im Bericht des UN-Generalsekretärs Unsere gemeinsame Agenda heißt es: „Die Menschheit steht vor einer dringenden Entscheidung: Zusammenbruch oder Durchbruch“.

Dieser drohende Zusammenbruch sollte ein Weckruf für die Welt sein.

Seit der Palme-Kommission hat es mehrere Kriege und militärische Angriffe gegeben, die eine eklatante Missachtung des Völkerrechts darstellen, wie etwa im Irak, im Jemen und zuletzt in der Ukraine. Die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022, während dieser Bericht fertiggestellt wurde, stellt einen katastrophalen Zusammenbruch der gemeinsamen Sicherheit dar. Sie hat zu einem entsetzlichen Verlust an Menschenleben, Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen und zu globalen wirtschaftlichen Erschütterungen geführt. Es ist eine schreckliche Erinnerung an die Zerbrechlichkeit des Friedens.

Dieser Zusammenbruch der Sicherheit unterstreicht, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit und die Achtung des Völkerrechts sind. Das derzeitige Regime muss überarbeitet werden, um Kriege zu verhindern und die gemeinsamen Sicherheitsinteressen aller Staaten zu wahren. Die Militarisierung der Welt schreitet voran, die Militärausgaben steigen rapide an, begleitet von nuklearen Bedrohungen. Nukleare und militärische Abschreckungsstrategien haben jedoch kategorisch versagt, um Frieden und Stabilität zu erreichen. Es ist Zeit für eine Erneuerung des globalen Sicherheitssystems auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheitsprinzipien. Wir brauchen jetzt mehr denn je ein starkes und effizientes multilaterales System für Frieden und Sicherheit.

Um das Ruder herumzureißen, müssen wir:

  • Die UN-Charta auf der Grundlage der Rechte und Pflichten von „uns, den Völkern“ bekräftigen. Internationale Zusammenarbeit und die Achtung des Völkerrechts müssen für alle Staaten von grundlegender Bedeutung sein.
  • Den Aufruf des UN-Generalsekretärs zu einem weltweiten Waffenstillstand als Ausgangspunkt für Friedensprozesse in verschiedenen Regionen der Welt wiederbeleben und umsetzen.
  • Die Achtung des humanitären Völkerrechts muss angesichts des zunehmenden Schadens, der der Zivilbevölkerung in den jüngsten Konflikten zugefügt wird, dringend gestärkt werden.
  • Erkennen, dass Frieden und Sicherheit in der Welt gemeinsam geschaffen werden – wenn das Gegenüber nicht sicher ist, werden auch man selbst nicht sicher sein. Das in der UN-Charta verankerte Verbot der Gewaltanwendung und die Unverletzlichkeit der Grenzen müssen geachtet werden.
    Anerkennen, dass die Gefahren eines Atomkriegs und der Klimawandel existenzielle Bedrohungen für die Menschheit darstellen.
  • Stärkung des Vertrauens zwischen Staaten und Völkern, damit Länder mit unterschiedlichen Systemen, Kulturen, Religionen und Ideologien gemeinsam an globalen Herausforderungen arbeiten können.
  • Aufbau einer Weltordnung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Es gibt keine Entwicklung ohne Frieden und keinen Frieden ohne Entwicklung. Und beides ist ohne die Achtung der Menschenrechte nicht möglich.
  • Gewährleistung einer integrativen Regierungsführung auf allen Ebenen der Gesellschaft, um die demokratischen Grundsätze und die Einbeziehung von Frauen, jungen Menschen und Minderheiten zu gewährleisten.

Gemeinsame Sicherheit 2022: Die Grundsätze

  1. Alle Menschen haben das Recht auf menschliche Sicherheit: Freiheit von Furcht und Freiheit von Not
  2. Der Aufbau von Vertrauen zwischen Nationen und Völkern ist eine Grundvoraussetzung für eine friedliche und nachhaltige menschliche Existenz
  3. Es kann keine gemeinsame Sicherheit geben ohne nukleare Abrüstung, strenge Beschränkungen für konventionelle Waffen und reduzierte Militärausgaben
  4. Globale und regionale Zusammenarbeit, Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit sind entscheidend für die Bewältigung vieler Herausforderungen in der Welt
  5. Dialog, Konfliktverhütung und vertrauensbildende Maßnahmen müssen an die Stelle von Aggression und militärischer Gewalt als Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten treten
  6. Bessere Rechtsetzung, internationales Recht und verantwortungsvolle Regierungsführung müssen auch auf neue Militärtechnologien ausgedehnt werden, wie z.B. im Bereich des cyber space, des Weltraums und der „künstlichen Intelligenz“.

Ein Aufruf zum Handeln

Die Abkehr von der Idee der nuklearen Abschreckung als Grundlage der internationalen Sicherheit ist dringender denn je. Die nuklearen Drohungen der Staaten offenbaren die fadenscheinige Grundlage, auf der die nukleare Abschreckung angeblich funktioniert. Die Menschheit wird einen Atomkrieg nicht überleben, und wir können uns auch nicht auf einen Atomkrieg vorbereiten oder seine Folgen abmildern. Es muss also ein alternativer Weg gefunden werden. Es muss ein positives und kooperatives Sicherheitskonzept entwickelt werden, das den Menschen und Regierungen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Gemeinsame Sicherheit ist die Alternative zu nuklearem Wettbewerb und der Bedrohung durch Massenvernichtung.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass eine globale Krise ohne internationale Zusammenarbeit nur sehr schwer zu bewältigen ist. Inkrementelle Veränderungen reichen nicht aus, um die Menschheit zu retten. Die Maßnahmen auf Regierungsebene müssen durch Maßnahmen auf der Ebene der lokalen Gemeinschaften ergänzt werden. Es muss ein neuer Gesellschaftsvertrag geschlossen werden, und ein neuer Friedensdialog sollte an die Stelle des Narratives von Militarisierung und Wettbewerb treten. Dieser Ansatz sollte Rechenschaftspflicht, Überprüfung und Transparenz in den Mittelpunkt stellen. Gemeinsame Sicherheit erfordert nicht nur Maßnahmen der Regierungen, sondern auch der nationalen Parlamente und der Zivilgesellschaft – einschließlich der NRO, der Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden, der Glaubensgemeinschaften, der Frauen- und Jugendbewegungen und der Gewerkschaften. Darüber hinaus hat der Unternehmenssektor die Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren und zur menschlichen Sicherheit beizutragen, wie es in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte festgelegt ist.

Es besteht ein dringender Bedarf an Institutionen und Gesetzen, die die Bürgerinnen und Bürger und nicht nur die Politiker und Entscheidungsträger in grenzüberschreitende Diskussionen, einen gerechteren Handel, Lösungen für das Problem des Klimawandels, die Verringerung der Ungleichheit sowie die Friedens- und Vertrauensbildung einbeziehen und beteiligen. Die Zivilgesellschaft muss als Wachhund, als motivierende Kraft und als Gegengewicht zu politischem Gehabe fungieren – mit Unterstützung der in bestehenden und neuen Verträgen enthaltenen Überprüfungs- und vertrauensbildenden Maßnahmen. Darüber hinaus müssen Nichtregierungsorganisationen eine aktive Rolle bei der Lobbyarbeit und Bewusstseinsbildung spielen – nicht nur in Bezug auf die gemeinsame Sicherheit, sondern auch in Bezug auf Militarisierung, gerechte Konversion und darüber hinaus. Der Dialog auf diplomatischer Ebene sollte auch die organisierte Zivilgesellschaft einbeziehen – sowohl neben dem Regierungsdialog als auch unabhängig davon.

Die Kriegsgefahr und ihre Folgen sind im Laufe der Jahre nicht geringer geworden. Aber politischer Wille, die Macht der Menschen und eine kollektive Haltung können zu einem Wandel führen. Es ist noch Zeit, innovativ und ehrgeizig zu sein, wenn es darum geht, die Sicherheit neu zu gestalten und unsere Welt neu zu entwerfen.

 

2.2.4 Carlo Masala: WELTUNORDNUNG

Als der Ost-West-Konflikt mit dem Fall der Mauer und der Implosion der Sowjetunion zu Ende ging, herrschte allerorten Euphorie. Das Ende der Geschichte, der Beginn des ewigen Friedens oder die gemeinsame globale Verantwortung aller Staaten für das Schicksal der Menschheit – dies sind nur einige Metaphern für den damals verbreiteten Optimismus, dass nach fast 45 Jahren harter Konfrontation zwischen den Blöcken nunmehr ein Zeitalter des Friedens und der Stabilität anbrechen würde.

Blicken wir auf die internationale Politik des 21. Jahrhunderts, dann bietet sich dem Betrachter ein gänzlich anderes, chaotisches, in Teilen beängstigendes Bild. Vermeintlich mächtige Staaten verlieren Kriege gegen schwächere Gegner; der Krieg zwischen Staaten, der vielen als ein Relikt der Politik des 18. und 19. Jahrhunderts galt, kehrt auf die globale Bühne zurück. An allen Ecken und Enden des Globus zerfallen Staaten, zumeist gewaltsam. Globale und regionale Institutionen verlieren zusehends an Einfluss.

Parallel zu diesem vermeintlichen Chaos, das die internationale Politik kennzeichnet, erleben wir seit nunmehr fast 25 Jahren unzählige Versuche und Bemühungen, eine neue Ordnung zu etablieren. Sie reichen von Ideen wie einem neuen globalen Machtkonzert über mehr imperiale Führung, stärkere globale Organisationen und regionale Integration nach dem Vorbild der Europäischen Union bis zu utopischen Ideen wie der Gründung einer Weltföderation.

Optimisten sehen die Gegenwart als ein Interregnum, einen Zwischenzustand, der über kurz oder lang zu Ende gehen wird. Sie sind unterschiedlicher Auffassung darüber, wie dieses Ende aussehen wird. Gemein ist ihnen allen jedoch, dass sie schließlich eine neue Ordnung, Stabilität und, bis zu einem gewissen Grade, Berechenbarkeit erwarten. Pessimisten hingegen befürchten, dass das internationale System auf Dauer ins Chaos abgleiten wird.

Leider spricht heutzutage vieles dafür, dass genau diese Unordnung, die Akademiker, Praktiker und die an internationaler Politik interessierten Bürger beunruhigt, mehr als eine Übergangsphase ist; weniger Interregnum als vielmehr Stabilis. Sie ist der Zustand, an den wir uns, auch wenn er unserer ordnungsliebenden Natur zuwiderläuft, gewöhnen sollten – und an den sich staatliche Politik anpassen muss.
So sehr wir uns über bestimmte Potentaten aufregen mögen und so sehr wir politische Systeme verachten, die nicht unseren Maßstäben entsprechen: Wir können uns nicht aussuchen, wer in anderen Teilen der Welt die Macht besitzt. Kluge Politik muss auch mit Diktatoren verhandeln, die wir für ihre Taten verabscheuen. Wer versucht, die eigene Außenpolitik allein an moralischen Maßstäben auszurichten, und die Welt nach den Kategorien von Gut und Böse einteilt, der wird nicht Ordnung schaffen, sondern nur immer wieder neues Chaos anrichten – insbesondere dann, wenn er auf den Gedanken verfällt, das Gute herbeibomben zu wollen.

Die internationale Politik wird auf lange Zeit unübersichtlich bleiben und wir müssen uns darauf einstellen. Das Klein-Klein der konkreten Problemlösung in wechselnden Koalitionen wird wichtiger als große Visionen einer neuen Weltordnung. Stabilität und Frieden rücken in den Vordergrund gegenüber Moral und Demokratie. Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten gewinnt wieder die Oberhand gegenüber humanitären Interventionen und Regimechange.

Je demokratischer die Welt wird, so die Auffassung liberaler Theoretiker, desto mehr Kooperation wird es zwischen Staaten geben, desto mehr wird sich internationale Politik am Allgemeinwohl orientieren. Wenn eine liberale Sicht auf die internationale Politik in Staaten mit großen Machtpotenzialen dominiert, dann wird sie gefährlich. Denn dann werden Staaten versucht sein, diese Sichtweise mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln umzusetzen.

Dem stelle ich eine realistische Sichtweise auf die internationale Politik entgegen, die von der Annahme ausgeht, dass internationale Politik primär durch das Streben nach Macht gekennzeichnet ist. In einer Welt, in der es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die darüber wacht, dass Regeln eingehalten werden und die, wenn Regeln verletzt werden, diese automatisch sanktioniert, sind Staaten stets um ihre eigene Sicherheit besorgt. Und um diese zu garantieren, streben sie nach Macht. Dadurch entsteht zwischen Staaten ein Wettbewerb, der durchaus in Krieg münden kann. Großmächte sind in dieser Sichtweise die eigentlichen und zentralen Antriebskräfte der internationalen Politik. Sie ringen miteinander um regionale und letzten Endes auch um globale Vorherrschaft. Ihr Handeln wird nicht durch eine Orientierung am Allgemeinwohl motiviert, sondern durch ihre nationalen Interessen (was immer sie dafür halten). Institutionen, Regeln und Normen sowie das Völkerrecht haben in meiner realistischen Sichtweise eine eher nachrangige Bedeutung zur Erklärung der internationalen Politik.

Gemäß dem Sprichwort, dass alle Probleme wie Nägel aussehen, wenn man nur einen Hammer hat, wurde die militärische Intervention zu einem der bevorzugten Instrumente, das die USA zur Verfolgung ihrer Interessen einsetzten. In keinem Fall brachte dies den gewünschten Erfolg. Die Folgen dieses liberalen Imperialismus sind bis heute spürbar. Territoriale Neuordnung in verschiedenen Gegenden der Welt, Flüchtlingsströme und ein tief sitzender Hass (insbesondere im Mittleren und Nahen Osten) auf die westliche Politik, die aus der Perspektive der Menschen in dieser Region bislang nichts anderes als Chaos bewirkt hat.

Das Wissen um das gemeinsame Interesse an der Verhinderung einer nuklearen Eskalation hat aber auch seine Schattenseiten. Denn sie ermöglicht Staaten wie Russland und China, die sich in direkter machtpolitischer Konkurrenz zu den USA befinden, in ihrem unmittelbaren Umfeld militärisch aggressiver aufzutreten. Anders lassen sich die russische Invasion im Osten der Ukraine, die Krimbesetzung, die beständigen militärischen Provokationen Russlands gegenüber der NATO, aber auch die chinesische Politik im Südchinesischen Meer nicht erklären.

Es fehlt an globaler Ordnung, weil die Großmächte keine gemeinsame Idee von dieser Ordnung haben. Darauf zu hoffen, dass die Welt sich in einer Ubergangsphase befindet und sich dieser Zustand alsbald legt, ist aber vergeblich. Denn die Vorstellung, dass die Weltordnung wieder stabil wird, sobald sich das Machtverhältnis zwischen den Großmächten und der einzig verbliebenen Supermacht wieder eingependelt hat, verkennt, dass es eine fundamentale Veränderung in der internationalen Politik gibt, die diese mit Blick auf die Geschichte sicherlich berechtigte Hoffnung ins Leere laufen lässt: die Tatsache, dass sich die Natur von Macht grundlegend verändert hat.

Der Besitz militärischer Macht ist im 21. Jahrhundert nicht mehr mit der Fähigkeit gleichzusetzen, mit ihrem Einsatz oder der Androhung von Zwangsgewalt eigene Interessen global durchzusetzen.

Der neue Nationalismus wird Spannungen zwischen Gesellschaften erzeugen und wird – wie es sich im Falle Europas bereits beobachten lässt – zu Desintegration führen.

Wie kann unter den Bedingungen der Weltunordnung im 21. Jahrhundert überhaupt noch Außen- und Sicherheitspolitik betrieben werden?

Eine solche Politik müsste zunächst einmal anerkennen, dass sie unter den Bedingungen eines anarchischen internationalen Systems stattfindet, in dem es keine den Staaten übergeordnete Zwangsgewalt gibt. Dieses Faktum bewirkt, dass Konflikte zwischen Staaten ein beständiges Merkmal der internationalen Beziehungen sind. Da sich Staaten auf keine höhere Autorität im internationalen System verlassen können, die sie beschützt, müssen sie den Schutz ihrer Souveränität und territorialen Integrität selbst organisieren. Die Sicherstellung staatlichen Überlebens erfolgt primär über den Aufbau von Machtmitteln. Da Sicherheit aber nur relational betrachtet werden kann, bedeutet die Sicherheit des einen immer, dass jemand anderes sich unsicherer fühlt und sich darum bemühen wird, diesen Nachteil auszugleichen. Der Kampf um Macht in Form von Macht- und Gegenmachtbildung ist daher charakteristisch für das internationale System. Diesen Zusammenhang zu verwischen, indem man die Welt in Gut und Böse einteilt und dieses Prinzip nur bei den Bösen am Werk glaubt, führt zu gefährlichen Fehlwahrnehmungen, die für die Stabilität des Systems kontraproduktiv sein können.

Ferner muss eine realistische Politik anerkennen, dass es auf einer philosophischen Ebene zwar universelle Werte gibt, deren Verbreitung wir uns alle wünschen, dass der Versuch, diesen aktiv zur Durchsetzung zu verhelfen, für Stabilität und Sicherheit aber durchaus kontraproduktiv sein kann. Neue Ordnungen sind immer als gerechter für alle «verkauft» worden. «Gerechtigkeit» als Kategorie der internationalen Politik läuft immer Gefahr, letztlich nur den partikularen Vorstellungen mächtiger Staaten zu dienen. Sie ist dann eine «Maske der Mächtigen», die die Wahrung eigener Interessen bemäntelt.

Eine Ordnung, die auf westlichen Werten basiert, ist so voraussetzungsreich, dass sie viel Zeit braucht, um sich zu entwickeln. Versuche, dies zu erzwingen oder von außen zu beschleunigen, sind bestenfalls naiv. Den westlichen Werten ist weitaus mehr gedient, wenn man sich auf ihre natürliche Anziehungskraft verlässt und ihre Verbreitung befördert, indem man lediglich Kooperation und Austausch ermöglicht.

Wenn aber langfristiges und nachhaltiges Handeln kaum noch möglich ist, dann bedeutet eine realistische Außen- und Sicherheitspolitik zuvorderst, dass sie selektiv und in Koalitionen der Willigen erfolgen muss. Selektiv bedeutet in diesem Fall für einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland, dass er sein Handeln strikt an seinen eigenen Interessen ausrichten muss. Weder Bündnissolidarität noch eine wie auch immer empfundene Verantwortung für die Aufrechterhaltung globaler Stabilität sind unter den hier skizzierten Bedingungen geeignet, primäre Ziele deutscher Außenpolitik zu sein.

Selektiv zu handeln, heißt aber auch anzuerkennen, dass es Konflikte und Entwicklungen gibt, die man als Bundesrepublik Deutschland nicht beeinflussen kann.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist in Unordnung. Ordnung wird sich weder auf der globalen Ebene noch in weiten Teilen dieser Welt regional einstellen. Dies ist das Hauptargument des vorliegenden Buches. Fehlende Ordnung bedeutet aber nicht notwendigerweise Chaos, wenn man lernt, sich auf die gegebenen Bedingungen einzustellen. Sie bedeutet lediglich Unberechenbarkeit, Unübersichtlichkeit, Überraschung und vor allem Nichtplanbarkeit. Sie zwingt alle Akteure (Staaten, aber auch private Akteure) dazu, einen 360-Grad-Blick beizubehalten, auf alles vorbereitet zu sein und ständig in der Erwartung zu handeln, dass sich alles von heute auf morgen radikal ändern kann.
Unordnung bedeutet auch nicht, dass man alle Versuche, Ordnung zu stiften, sein lassen soll. Das vorliegende Buch ist auch als Plädoyer dafür zu verstehen, dass man punktuell durchaus Ordnung schaffen und Stabilität herstellen kann, wenn man realistische Ziele verfolgt. Diese realistischen Ziele sollen zuvorderst darin bestehen, nicht immer und überall den Versuch zu unternehmen, partikularistische, westliche Vorstellungen über Politik und gutes Regieren durchzusetzen, sondern Handeln primär in Koalitionen der Willigen und Fähigen zu betreiben.

Dies ist – und dies sei abschließend nochmals betont – nicht als Allheilmittel zu verstehen; aber es ist die einzige Form, im 21. Jahrhundert zumindest partiell Stabilität zu produzieren.

 

2.3 Aktuelle Texte

2.3.1 Ukrainisches Sprachgesetz

Ukraine-Russland-Konflikt : Das Russische abwürgen

Von Kerstin Holm -Aktualisiert am 18.01.2022-20:24

Vor drei Jahren beschlossen, tritt in der Ukraine ein neues Sprachgesetz in Kraft. Es soll das Russische zurückdrängen, schafft aber neue Probleme für Verlage und die russischsprachige Kritik an Putin.

In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind nicht verboten, doch parallel dazu muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage ge­druckt werden. Für die Verlage ist das freilich unrentabel. Die letzte landesweite russische Tageszeitung „Westi“ wurde kürzlich auf Ukrainisch umgestellt, viele Blätter erscheinen nur noch im Netz.

Das Gesetz, das gegen das von vielen Ukrainern zumal im Osten und im Süden des Landes bevorzugte Russisch gerichtet ist, war kurz nach der Abwahl von Präsident Petro Poroschenko 2019 verabschiedet worden. Doch seither galt eine Übergangsfrist, die am Wochenende auslief. Ausgenommen von der Pflicht zur Publikation auf Ukrainisch sind bezeichnenderweise Sprachen „angestammter Minderheiten“ im Land wie der Krimtataren, der Polen, Ungarn, Rumänen, Griechen, Bulgaren, aber auch das Englische sowie alle offiziellen Sprachen der EU. Auch von der Pflicht ukrainischer Buchläden, mindestens fünfzig Prozent ihrer Bestände auf Ukrainisch anzubieten, gibt es Ausnahmen für die genannten Minderheiten- und die EU-Sprachen.

Ab sofort sind zudem sämtliche Staatsangestellten, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärzte verpflichtet, die Bürger, sofern diese nicht um eine andere Sprache bitten, auf Ukrainisch anzureden. Das gleiche gilt für Dienstleistungsbetriebe, also Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken, Banken. Verstöße gegen das „Recht auf Bedienung in der Landessprache“ können beim Sonderbevollmächtigten zum Schutz der Staatssprache ge­meldet und im Wiederholungsfall mit Geldstrafen geahndet werden.

Dass darüber hinaus nun ausländische Filme jetzt ukrainisch synchronisiert werden müssen, richtet sich gegen die russische Medienmacht, die zwei Drittel der Fernsehserien bestreitet. Auch bei Vorträgen, Shows, Konzertabenden muss der Redner, sofern er russisch spricht, obligatorisch ins Ukrainische übersetzt werden. Leidtragende sind russischsprachige ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler, deren Tätigkeitsfeld stark eingeschränkt wird. Aber auch traditionell russischsprachige Städte wie Charkiw, Dnipro oder Odessa, dem Präsident Wolodymyr Selenskyj entstammt, werden vom Westen des Landes kulturell assimiliert.

Ein Hauptgrund für das Gesetz war zweifellos der Anspruch von Präsident Putin, „Schutzherr“ russisch­sprachiger Ukrainer zu sein. Doch nun sei die Ukraine das erste Land, das Pressepublikationen in einer konkreten Sprache faktisch verbiete, klagt der in London lebende russische Journalist Oleg Kaschin. Das Gesetz sei nicht zuletzt ein Schlag gegen ukrainische Medien, die auf Russisch Putin und dessen Ukrainepolitik kritisierten und als russische Gegenöffentlichkeit eigentlich Schutz verdient hätten.

 

2.3.2 Präsident der Ukraine: Anordnung Nr. 117/2021 vom 24. März 2021

123

Указом Президента України від 24 березня 2021 року № 117/2021

456

Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol

Die 2014 begonnene bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine führte zur vorübergehenden Besetzung integraler Teile des Territoriums der Ukraine durch die Russische Föderation – der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, bestimmter Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk – und schuf den ersten Präzedenzfall in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie versuchte, einen Teil des Territoriums eines Staates durch einen anderen zu annektieren.

Die Russische Föderation hat als eine der Vertragsparteien des Memorandums über Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen von 1994 ihre internationalen Verpflichtungen aus diesem internationalen Vertrag grob missachtet, eines der Grundprinzipien des Völkerrechts über die Unverletzlichkeit der Grenzen verletzt und die Architektur des europäischen Sicherheitssystems verändert.

Um die Bedingungen für die Entbesetzung und sichere Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol zu schaffen, bestimmt die Ukraine die Strategie der De-Besetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol Krim und die Stadt Sewastopol.

Allgemeine Bestimmungen

1.- Das End-to-End-Element der Politik der Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol (im Folgenden als vorübergehend besetztes Gebiet bezeichnet) ist die Durchführung einer Reihe von Maßnahmen diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher, informationeller, humanitärer und anderer Art.

3.- Die Bildung einer Politik der Ent-Besetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets in der Ukraine wird mit Maßnahmen zur Schaffung von Frieden, zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit des Staates, zur Gewährleistung der weiteren sozio-politischen und sozioökonomischen Entwicklung der Ukraine auf der Grundlage der europäischen und euro-atlantischen Integration kombiniert.

  1. Die Ziele der staatlichen Politik zur Gewährleistung der Entgewaltung des vorübergehend besetzten Gebiets und seiner sicheren Wiedereingliederung sind:
    • Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Staatsgrenze, Gewährleistung der staatlichen Souveränität der Ukraine;
    • Gewährleistung der nationalen Einheit, der Widerstandsfähigkeit und des Zusammenhalts der ukrainischen Gesellschaft und des Staates der Ukraine;

8.- Die Ukraine betont die Priorität der politischen und diplomatischen Mittel zur Lösung des von der Russischen Föderation entfesselten bewaffneten Konflikts, der Wiederherstellung und der Friedenskonsolidierung.

9.- Die Ukraine behält sich das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der nationalen Gesetzgebung vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Menschenrechte und Freiheiten sowie die nationalen Interessen zu schützen, die territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Staatsgrenze wiederherzustellen und die staatliche Souveränität zu gewährleisten.

23.- Die Voraussetzungen für die Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets sind:

Förderung der Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft, der Bildung einer patriotischen, staatlichen Weltanschauung, der Erhaltung und Entwicklung der spirituellen und moralischen Werte des ukrainischen Volkes;

37.- Die Ukraine stellt der Bevölkerung des vorübergehend besetzten Gebiets Verwaltungsdienste zur Verfügung, indem sie geeignete Zentren in der Nähe der Verwaltungsgrenze zu dem vorübergehend besetzten Gebiet schafft, zu denen der Zugang gemäß den Ausweisdokumenten gemäß den Rechtsvorschriften der Ukraine erfolgt, und entwickelt vorrangige Online-Dienste zur Erbringung einschlägiger Dienstleistungen.

78.- Die Ukraine wendet sich gegen Versuche, ethnische und religiöse Faktoren zu nutzen, um die Besatzungsaktivitäten der Russischen Föderation, ihre Besatzungsverwaltung in dem vorübergehend besetzten Gebiet oder die künstliche Schaffung von Schismen in der ukrainischen Gesellschaft zu legitimieren.

  1. Die Ukraine bietet eine spezielle Ausbildung der Streitkräfte der Ukraine und anderer militärischer Formationen, die nach dem Gesetz der Ukraine vorgesehen sind, der Strafverfolgungsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Prozesse der Entsatzung und Wiedereingliederung sowie unter Nutzung der Erfahrungen ukrainischer Bürger, die an internationalen Friedenssicherungs- und Sicherheits operationen teilgenommen haben.

81.- Die Ukraine gründet und entwickelt die Plattform für die Krim als zentrales außenpolitisches Instrument zur Konsolidierung der internationalen Bemühungen um die Entrechtung und Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine, zur Überwindung der Folgen der vorübergehenden Besetzung der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch die Russische Föderation sowie zum Schutz der Rechte und Interessen der ukrainischen Bürger.

  1. Die Ukraine ergreift Maßnahmen, um die Relevanz der Frage der vorübergehenden Besetzung und der versuchten Annexion durch die Russische Föderation der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol in der europäischen und der Weltpolitik aufrechtzuerhalten, wobei die Russische Föderation eines der Grundprinzipien des Völkerrechts in Bezug auf die Unverletzlichkeit der Grenzen von Staaten verletzt.

91.- Die Ukraine behält sich gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen das Recht vor, alle im Völkerrecht und in der Gesetzgebung der Ukraine vorgesehenen Mittel anzuwenden, um die Rechte und Freiheiten des Menschen und der Bürger, die Unabhängigkeit, die staatliche Souveränität und die territoriale Unversehrtheit zu schützen.

  1. Die Ukraine leitet einen internationalen Verhandlungsprozess ein, um die Modalitäten der Befreiung des vorübergehend besetzten Gebiets und der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung der Ukraine in diesem Gebiet festzulegen, der sich insbesondere auf die Bestimmungen des Memorandums über Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen sowie auf die Ergebnisse der Krim-Plattform stützt.
  1. Das Ministerkabinett der Ukraine entwickelt und genehmigt einen Maßnahmenplan zur Umsetzung der Strategie für die Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, auf dessen Grundlage die zuständigen staatlichen Stellen Aktionspläne ausarbeiten und umsetzen, um die Entbesetzung des vorübergehend besetzten Gebiets sicherzustellen.

 

2.3.3 Russische Vertragsentwürfe für die USA und NATO und Antworten

Entwurf: Vertrag zwischen Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Sicherheitsgarantien

Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika, nachstehend „Vertragsparteien“ genannt, sind geleitet von den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen, … wie folgt übereingekommen:

Artikel 1

Die Vertragsparteien arbeiten auf der Grundlage der Grundsätze der unteilbaren und gleichen Sicherheit und der ungeschmälerten Sicherheit füreinander zusammen. Und zu diesem Zweck ergreifen, beteiligen sich nicht an oder unterstützen keine Maßnahmen, die die Sicherheit der anderen Vertragspartei beeinträchtigen, und setzen keine Sicherheitsmaßnahmen um, die einzeln oder im Rahmen einer internationalen Organisation, eines Militärbündnisses oder einer Koalition ergriffen werden und die die grundlegenden Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei untergraben würden.

Artikel 3

Die Vertragsparteien nutzen das Hoheitsgebiet anderer Staaten nicht, um einen bewaffneten Angriff gegen die andere Vertragspartei vorzubereiten oder durchzuführen oder in anderer Weise so zu handeln, dass die wesentlichen Sicherheitsinteressen der anderen Vertragspartei beeinträchtigt werden.

Artikel 4

Die Vereinigten Staaten verpflichten sich, eine weitere Osterweiterung der Nordatlantikpakt-Organisation auszuschließen und die Aufnahme von Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gehörten, in das Bündnis zu verweigern.

Die Vereinigten Staaten errichten keine Militärstützpunkte im Hoheitsgebiet von Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gehörten und nicht Mitglied der Nordatlantikpakt-Organisation sind, nutzen deren Infrastruktur nicht zur Durchführung militärischer Aktivitäten und entwickeln keine bilaterale militärische Zusammenarbeit mit ihnen.

Artikel 5

Die Vertragsparteien unterlassen die Stationierung ihrer Streitkräfte und Rüstungsgüter, auch im Rahmen internationaler Organisationen, Militärbündnisse oder -koalitionen, in Gebieten, in denen eine solche Stationierung von der anderen Vertragspartei als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit empfunden würde, mit Ausnahme einer solchen Stationierung innerhalb der nationalen Hoheitsgebiete der Vertragsparteien.

Die Vertragsparteien unterlassen Flüge von schweren Bombern, die für nukleare oder nichtnukleare Waffen ausgerüstet sind, und die Anwesenheit von Überwasserkampfschiffen aller Klassen, auch im Rahmen von Bündnissen, Koalitionen und Organisationen, in Gebieten außerhalb des nationalen Luftraums bzw. außerhalb der nationalen Hoheitsgewässer, von denen aus sie Ziele im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei bekämpfen können.

Die Vertragsparteien führen einen Dialog und arbeiten gemeinsam an der Verbesserung der Mechanismen zur Verhinderung gefährlicher militärischer Aktivitäten auf hoher See und im darüber liegenden Luftraum, einschließlich der Vereinbarung über den Sicherheitsabstand für Kriegsschiffe und Flugzeuge.

Artikel 7

Die Vertragsparteien schließen die Stationierung von Kernwaffen außerhalb ihres Hoheitsgebiets aus und bringen solche Waffen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Vertrags bereits außerhalb ihres Hoheitsgebiets stationiert sind, in ihr Hoheitsgebiet zurück. Die Vertragsparteien beseitigen alle bestehenden Infrastrukturen für die Stationierung von Kernwaffen außerhalb ihres Hoheitsgebiets.
Die Vertragsparteien bilden weder militärisches Personal noch Zivilisten aus Ländern, die nicht im Besitz von Kernwaffen sind, im Umgang mit solchen Waffen aus.

Artikel 8

Dieser Vertrag tritt an dem Tag in Kraft, an dem die letzte schriftliche Benachrichtigung eingeht, dass die Vertragsparteien die hierfür erforderlichen innerstaatlichen Verfahren erfüllt haben. In zweifacher Ausfertigung in russischer und englischer Sprache, wobei beide Texte gleichermaßen verbindlich sind.

Die Antwort der USA auf Russlands Vorschläge

Bereiche des Engagements zur Verbesserung der Sicherheit

Einleitung: Die Vereinigten Staaten ist darauf vorbereitet, gemeinsam mit ihren Verbündeten jenseits des Atlantiks und mit Partnern weiter auf eine Verständigung mit Russland in Sicherheitsfragen von Interesse hinzuarbeiten.

Wir sind bereit, Russland auf bilateraler Ebene in den Strategischen Stabilitätsdialog zwischen den USA und Russland, in den NATO-Russland-Rat und in die OSZE einzubinden, um konkrete Verbesserungen der Sicherheit in Europa zu erreichen. In diesen Dialogen sind die Vereinigten Staaten offen für die Erörterung von Sicherheitsfragen, die für Russland, die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten und Partner von Bedeutung sind. Die Vereinigten Staaten unterstützen weiterhin nachdrücklich die Politik der offenen Tür der NATO und sind der Auffassung, dass der NATO-Russland-Rat das geeignete Forum für die Erörterung dieser Frage ist (Artikel 4 des von Russland vorgeschlagenen bilateralen Vertrags).

Wir sind auch bereit, die Unteilbarkeit der Sicherheit – und unsere jeweiligen Auslegungen dieses Konzepts – zu erörtern, wie sie in Artikel 1 des von Russland vorgeschlagenen Entwurfs eines bilateralen Vertrags dargelegt ist. Wir nehmen das gemeinsam vereinbarte Konzept der umfassenden, kollektiven, gleichen und unteilbaren Sicherheit ernst, das in der Gedenkerklärung des OSZE-Gipfels von Astana 2010 dargelegt wurde, in der sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht bekräftigten, seine Sicherheitsvereinbarungen, einschließlich verbündeter Verträge, frei zu wählen oder zu ändern.

Das Gleichgewicht der Kräfte in der Ukraine (vorgeschlagene Plattform: Strategischer Sicherheitsdialog zwischen den USA und Russland, die OSZE und das Normandie-Format).

Standpunkt der USA: Angesichts der Umstände ist Washington bereit, Maßnahmen zu erörtern, die die gegenseitige Offenheit und Verpflichtung der Vereinigten Staaten und Russlands zum Verzicht auf die Stationierung offensiver landgestützter Raketen und regulärer Truppen auf ukrainischem Hoheitsgebiet gewährleisten. Wir werden die Konsultationen mit der Ukraine zu diesem Thema fortsetzen.
Sorgen: Die Vereinigten Staaten bringen ihre Besorgnis über russische Formationen und Ausrüstung auf ukrainischem Gebiet zum Ausdruck, insbesondere über die fortgesetzte militärische Aufrüstung auf der Krim und in der Nähe der ukrainischen Grenze. Die Bedenken der USA rühren daher, dass Russland gegen seine Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien verstößt, …
Militärische Fähigkeiten der USA, der NATO und Russlands (vorgeschlagene Plattform: amerikanisch-russischer Dialog über strategische Sicherheit und der NATO-Russland-Rat).

Standpunkt der USA: Die bestehenden militärischen Fähigkeiten der USA und der NATO sind begrenzt, verhältnismäßig und stehen in vollem Einklang mit den Verpflichtungen, die im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte eingegangen wurden. Wir verzichten weiterhin auf die „zusätzliche Stationierung bedeutender Kampftruppen auf dauerhafter Basis“ sowie auf die Stationierung von Atomwaffen in Osteuropa. Die Vereinigten Staaten sind bereit, Differenzen zu erörtern und Möglichkeiten auszuloten, um Bedenken hinsichtlich der konventionellen Streitkräfte und der Rüstung, einschließlich einer größeren Transparenz und Risikoprävention, im Einklang mit dem Wiener Dokument zu erörtern, um gegenseitige Bedenken auszuräumen.

Sorgen: Die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten sind besorgt über Russlands zunehmende multidimensionale militärische Aufrüstung, sein selbstbewussteres Auftreten, seine neuartigen militärischen Fähigkeiten und seine provokativen Handlungen, auch in der Nähe der Grenzen von NATO-Verbündeten, sowie über die groß angelegten Militärübungen, die ohne Vorwarnung durchgeführt werden, die fortgesetzte Besetzung und militärische Aufrüstung auf der Krim und in der Nähe der Ostgrenzen der Ukraine, die Stationierung fortschrittlicher Dual-Use-Raketen in Kaliningrad und die wiederholten Angriffe in der Ukraine. Russland hat vorgeschlagen, Grenzen für militärische Aktivitäten festzulegen und die Mechanismen zur Verhinderung gefährlicher Aktivitäten zu verbessern (Artikel 5 des von Russland vorgeschlagenen bilateralen Abkommens).

 

Entwurf: Abkommen über Sicherheitsmaßnahmen zwischen Russland und den Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation

Russland und die Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO), im Folgenden „Vertragsparteien“ genannt, sind … wie folgt übereingekommen:

Artikel 1

Die Vertragsparteien gestalten ihre Beziehungen untereinander auf der Grundlage der Grundsätze der Zusammenarbeit sowie der gleichen und unteilbaren Sicherheit. Sie dürfen ihre Sicherheit weder einzeln noch innerhalb einer internationalen Organisation, eines Militärbündnisses oder einer Koalition auf Kosten der Sicherheit anderer stärken.

Die Vertragsparteien verpflichten sich, keine Bedingungen oder Situationen zu schaffen, die eine Bedrohung der nationalen Sicherheit anderer Mitglieder darstellen oder als solche angesehen werden könnten.

Artikel 2

Zur Lösung von Fragen und Situationen, die Anlass zur Sorge geben, nutzen die Vertragsparteien dringende bilaterale und multilaterale Konsultationsmechanismen, einschließlich des NATO-Russland-Rates.

Um Notfallkontakte zwischen den Teilnehmern aufrechtzuerhalten, werden „heiße“ Telefonleitungen organisiert.

Artikel 3

Die Vertragsparteien bestätigen, dass sie sich nicht als Gegner betrachten.

Die Vertragsparteien pflegen den Dialog und interagieren, um die Mechanismen zur Verhinderung von Zwischenfällen auf hoher See und im darüber liegenden Luftraum (vor allem in der Ostsee- und Schwarzmeerregion) zu verbessern.

Artikel 4

Russland und alle Vertragsparteien, die am 27. Mai 1997 Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation waren, stationieren ihre Streitkräfte und Rüstungsgüter nicht zusätzlich zu den Streitkräften und Rüstungsgütern, die am 27. Mai 1997 im Hoheitsgebiet eines anderen europäischen Staates stationiert waren. In Ausnahmefällen, in denen es erforderlich ist, eine Bedrohung der Sicherheit einer oder mehrerer Vertragsparteien zu neutralisieren, können solche Stationierungen mit Zustimmung aller Vertragsparteien durchgeführt werden.

Artikel 6

Die Vertragsparteien, die Mitgliedstaaten der Nordatlantikpakt-Organisation sind, verpflichten sich, eine weitere Ausdehnung der NATO, einschließlich des Beitritts der Ukraine und anderer Staaten, auszuschließen.

Artikel 9

Dieses Übereinkommen tritt an dem Tag in Kraft, an dem mehr als die Hälfte der Unterzeichnerstaaten ihre Zustimmung, durch das Übereinkommen gebunden zu sein, mitgeteilt haben. Für einen Staat, der eine solche Mitteilung zu einem späteren Zeitpunkt einreicht, tritt dieses Abkommen am Tag seiner Übermittlung in Kraft.

Jede Vertragspartei dieses Abkommens kann durch eine an den Verwahrer gerichtete Mitteilung vom Übereinkommen zurücktreten. Dieses Übereinkommen endet für dieses Mitglied nach [30] Tagen nach Eingang einer solchen Mitteilung beim Verwahrer.
Dieses Abkommen ist in russischer, englischer und französischer Sprache abgefasst, wobei beide Texte gleichermaßen verbindlich sind, und wird im Archiv der jeweiligen Regierung hinterlegt.[hrsg/russland.NEWS]

Die Antwort der NATO auf Russlands Vorschlag

1 Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar.

2 Wir sind der festen Überzeugung, dass Konflikte und Meinungsverschiedenheiten durch Dialog und Diplomatie, ohne Drohungen oder Gewaltanwendung gelöst werden sollten. Angesichts der substantiellen, unprovozierten, ungerechtfertigten und anhaltenden russischen Militäraufrüstung in und nahe der Ukraine und in Weißrussland fordern wir Russland auf, die Spannungen unverzüglich abzubauen – dies muss nachprüfbar, zeitnah und langfristig geschehen. Wir bekräftigen unsere Unterstützung für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, einschließlich der Krim, innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen. Eine Lösung des Ukraine-Konflikts im Einklang mit den Punkten des Minsker Abkommens und auf der Grundlage der vereinbarten Formate könnte die Sicherheitslage und die Stabilitätsaussichten in Europa erheblich verbessern.

6 Die euro-atlantische Sicherheit kann durch die Verabschiedung der folgenden Vorschläge gestärkt werden:

7 Der Stand der Beziehungen zwischen der NATO und Russland:

7.1. Die bestehenden Kommunikationskanäle zwischen den Militärs vollständig zu nutzen, um die Vorhersehbarkeit, Transparenz und Risikominderung zu verbessern.

8 Europäische Sicherheit, einschließlich der Situation in und um die Ukraine:

8.1 Alle Länder sollen die Grundsätze der Souveränität, der Unverletzlichkeit der Grenzen und der territorialen Integrität der Staaten achten und einhalten und auf die Androhung von Gewalt verzichten.

8.2 Alle Staaten respektieren das Recht anderer Staaten, Sicherheitsvereinbarungen zu wählen oder zu ändern und ihre eigene Zukunft und Außenpolitik ohne Einmischung von außen zu bestimmen. In diesem Sinne bekräftigen wir unser Bekenntnis zur Politik der offenen Tür der NATO im Einklang mit Artikel 10 des Washingtoner Vertrags.

9 Wir sind weiterhin offen für konstruktive Gespräche und einen Dialog mit Russland über gegenseitige Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen, einschließlich der Erörterung der folgenden Vorschläge:

9.8 Konsultationen über spezifische Möglichkeiten zur Verhinderung von Zwischenfällen in der Luft und auf See, um das Vertrauen wiederherzustellen und die Vorhersehbarkeit in der euro-atlantischen Region zu verbessern.

10 Seit mehr als 30 Jahren bemüht sich die NATO um den Aufbau einer Partnerschaft mit Russland. Aber Russland hat das Vertrauen untergraben, das unsere Zusammenarbeit untermauert hat, und die Grundprinzipien der globalen und euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur in Frage gestellt.

 

2.3.4 Pressekonferenz von Präsident Putin und Bundeskanzler Scholz am 15. Februar 2022

Präsident Putin: Natürlich haben wir uns offen über russische Initiativen und Vorschläge an die USA und an die Nato ausgetauscht, die sich auf langfristige juristisch verpflichtende Sicherheitsgarantien für Russland beziehen. Gesprochen haben wir auch über die wichtigsten Forderungen. Die wichtigsten davon sind die Nichtzulassung der weiteren Nato-Erweiterung, der Verzicht auf die Installation von Angriffswaffen in der Nähe russischer Grenzen und der Rückzug des militärischen Potenzials und der Infrastruktur der Allianz in Europa auf den Zustand von 1997, als die Russland-Nato-Grundakte unterzeichnet wurde. Russland kann sich nicht davor verschließen, wie die USA und die nordatlantische Allianz ziemlich willkürlich und zu ihren eigenen Gunsten die wichtigsten Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit interpretieren, die in vielen gesamteuropäischen Dokumenten verankert sind. Dieser Grundsatz umfasst nicht nur die Bestimmung, dass es das Recht gibt, seine Sicherheit frei zu gewährleisten und jeglichen militärischen Allianzen beizutreten, was unsere Kollegen immer wieder betonen, sondern es gibt auch Verpflichtungen, seine eigene Sicherheit nicht auf Kosten von anderen Staaten zu gewährleisten.

Dieser Bedrohung begegnen sollen juristisch verpflichtende Abkommen, deren Entwürfe wir eingereicht haben. Die Antworten, die wir von den USA und den Nato-Mitgliedsländern erhalten haben, entsprechen aus unserer Sicht nicht den wichtigsten Anforderungen Russlands. Doch in den Antworten, die vorgelegt wurden, gibt es, wie Außenminister Lawrow mir gestern berichtet hat, einige Überlegungen, die wir nicht nur besprechen wollen. Es ging um europäische Sicherheit, es ging um bestimmte Waffengattungen – ich meine Kurz- und Mittelstreckenraketen -, und es geht um militärische Transparenz. Wir sind bereit, diese Zusammenarbeit weiter zu pflegen. Wir sind auch bereit, diesen Gesprächsprozess fortzusetzen. Doch alle Fragen, die ich benannt habe, müssen in einem Paket betrachtet werden, ohne Loslösung von den wichtigsten russischen Forderungen, deren Umsetzung für uns eine absolute Priorität ist.

Die Thematik der europäischen Sicherheit wurde auch im Kontext der ukrainischen Konfliktlösung erörtert. Die Kiewer Regierung verweigert sich, wie bekannt ist, der Erfüllung der Minsker Vereinbarung und der Umsetzung der Vereinbarung von 2015 beziehungsweise der Vereinbarungen, die auf den späteren Normandie-Gipfeln erreicht wurden, insbesondere in Berlin und in Paris. Es gibt auch keine Bewegung in Grundsatzfragen wie Verfassungsreform, Amnestie, Kommunalwahlen und rechtliche Aspekte des Sonderstatus des Donbass. Man ignoriert Möglichkeiten, die territoriale Integrität des Landes friedlich wiederherzustellen, indem man in einen direkten Dialog mit Donezk und Lugansk eintritt. Massenhaft werden Menschenrechtsverletzungen zugelassen. Gesetzlich verankert ist eine Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung.

Bundeskanzler Scholz: Die militärischen Truppenzusammenstellungen und Aktivitäten Russlands an der ukrainischen Grenze haben einen breiten Raum in unseren Gesprächen eingenommen wie natürlich auch die Fragen nach den Sicherheitsgarantien, die Russland formuliert hat. In diesem Zusammenhang kann man gar nicht genug betonen, dass wir sehr besorgt darüber sind, was wohl aus den 100 000 Soldaten und ihren Aktivitäten in nächster Zeit werden wird. Wir können keinen vernünftigen Grund für diese Truppenzusammenstellung erkennen.

Präsident Putin hat mir in unserem Gespräch von den gestrigen Beratungen mit seinem Außenminister und dem Verteidigungsminister berichtet. Ich stimme ausdrücklich zu: Die diplomatischen Möglichkeiten sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. – Jetzt muss es darum gehen, entschlossen und mutig an einer friedlichen Auflösung dieser Krise zu arbeiten. Dass jetzt, wie wir hören, einzelne Truppen abgezogen werden, ist jedenfalls ein gutes Zeichen. Wir hoffen, dass noch weitere folgen.

Wir sind bereit, gemeinsam mit allen Partnern und Verbündeten in der EU und der Nato und mit Russland ganz konkrete Schritte zur Verbesserung der gegenseitigen oder noch besser der gemeinsamen Sicherheit zu unternehmen. Dazu hat die Nato bereits zu konkreten thematischen Gesprächen im Nato-Russland-Rat eingeladen. Dazu sind die USA in ihrem bilateralen Gespräch mit Russland bereit. Im Rahmen der OSZE hat der polnische Vorsitz einen neuen, hochrangigen Dialogprozess initiiert. Dieser Dialog wird im Geist der Gegenseitigkeit und in Anerkennung der Gesamtheit von Prinzipien und Verpflichtungen erfolgen, die wir alle gemeinsam in der OSZE vereinbart haben. Dazu gehören die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa und die Souveränität und territoriale Unversehrtheit aller Staaten, auch der Ukraine. Sie sind für uns unverhandelbar.

Mein dringender Wunsch: Lassen Sie uns diese Dinge im Wege des Dialogs weiterbereden. Wir dürfen nicht in einer Sackgasse enden. Sie wäre ein Unglück für uns alle.

Für die Bundesregierung ist klar, dass eine weitere militärische Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende politische, wirtschaftliche und strategische Konsequenzen zur Folge hätte. Mein Eindruck ist: Das wissen alle ganz genau. – Die Suche nach diplomatischen Lösungen ist ein zentraler Grund meiner Reise nach Kiew gestern und nun nach Moskau. Präsident Putin und ich, wir sind uns darin einig, dass das Normandie-Format neben den Gesprächen zwischen den USA und Russland, im Nato-Russland-Rat und in der OSZE ein weiteres wichtiges Format zur Beilegung des Konflikts darstellt. Hier brauchen wir Bewegung und natürlich auch Fortschritt.

Deshalb ist es gut, dass Präsident Selensky gestern fest zugesagt hat, dass der Trilateralen Kontaktgruppe, die im Rahmen des Minsker Prozesses festgesetzt worden ist und in der alle Bet eiligten zusammenkommen, in Kürze alle drei vorgesehenen Gesetzestexte zum Status der Ostukraine, zur Verfassungsänderung und zur Wahlvorbereitung vorliegen werden. Das ist ein guter Fortschritt, und daran gilt es anzuknüpfen. Ich habe den Präsidenten ermuntert, seine Verhandler mit einem entsprechenden konstruktiven Mandat auszugestalten, sodass wir dort Fortschritte erreichen.

Zum Abschluss auch noch dieses: Für uns Deutsche, aber auch für alle Europäer ist klar, dass nachhaltige Sicherheit nicht gegen Russland, sondern nur mit Russland erreicht werden kann. Darüber sind wir uns alle in der Nato und der Europäischen Union aber auch einig. Deshalb müsste es möglich sein, eine Lösung zu finden.

Das will ich noch sagen: Für meine Generation ist Krieg in Europa undenkbar geworden, und wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt. Es ist unsere verdammte Pflicht und Aufgabe als Staats- und Regierungschefs, zu verhindern, dass es in Europa zu einer kriegerischen Eskalation kommt.

 

2.3.5 Putins Rede vom 24.02.2022 an das russische Volk zum Beginn der Militäroperation

Es ist bekannt, dass wir seit 30 Jahren hartnäckig und geduldig versuchen, mit den führenden NATO-Ländern eine Einigung über die Grundsätze der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu erzielen. Als Antwort auf unsere Vorschläge sind wir immer wieder entweder auf zynische Täuschungen und Lügen oder auf Druck und Erpressungsversuche gestoßen, während sich das Nordatlantische Bündnis trotz all unserer Proteste und Bedenken immer weiter ausdehnt. Die Kriegsmaschinerie ist in Bewegung und, ich wiederhole das, sie kommt sehr nahe an unsere Grenzen heran.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR begann faktisch eine Neuverteilung der Welt und die etablierten Normen des internationalen Rechts – die wichtigsten, grundlegenden Normen wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs angenommen und festigten weitgehend dessen Ergebnisse – begannen, diejenigen zu behindern, die sich im Kalten Krieg zum Sieger erklärt haben.

Man braucht nicht weit zu gehen, um Beispiele zu finden. Zuerst wurde die blutige Militäroperation gegen Belgrad durchgeführt, ohne dass der UN-Sicherheitsrat dies genehmigt hätte. Mehrere Wochen andauernde Bombardierungen ziviler Städte und lebenswichtiger Infrastruktur.

Dann waren der Irak, Libyen und Syrien an der Reihe. Die unrechtmäßige Anwendung militärischer Gewalt gegen Libyen und die Umgehung aller Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats zur Libyenfrage führten zur völligen Zerstörung des Staates, schufen eine riesige Brutstätte des internationalen Terrorismus und stürzten das Land in eine humanitäre Katastrophe und einen langen Bürgerkrieg, der noch immer wütet.
Ein ähnliches Schicksal war für Syrien vorgesehen. Das militärische Vorgehen der westlichen Koalition auf dem Territorium dieses Landes ohne die Zustimmung der syrischen Regierung und ohne die Erlaubnis des UN-Sicherheitsrates ist nichts anderes als eine Aggression, eine Intervention.

Einen besonderen Platz in dieser Reihe nimmt jedoch die Invasion des Irak ein, die natürlich ebenfalls ohne jede Rechtsgrundlage erfolgte.

Generell entsteht der Eindruck, dass praktisch überall, in vielen Regionen der Welt, wo der Westen kommt, um seine Ordnung zu etablieren, blutige, nicht heilende Wunden, Wunden des internationalen Terrorismus und Extremismus zurückbleiben.

Dazu gehören auch die Versprechen unseres Landes, die NATO nicht einen Zoll nach Osten zu erweitern. Ich wiederhole: Sie haben uns betrogen, oder, um es im Volksmund zu sagen, uns einfach abserviert.

Die USA sind immer noch ein großes Land, eine systembildende Macht. Seine Trabanten fügen sich nicht nur demütig und gehorsam, singen bei jeder Gelegenheit mit, sondern kopieren auch das Verhalten und akzeptieren begeistert die von ihnen vorgegebenen Regeln.

Was unser Land betrifft, so haben sie nach dem Zusammenbruch der UdSSR trotz der beispiellosen Offenheit des neuen, modernen Russlands und seiner Bereitschaft zur ehrlichen Zusammenarbeit mit den USA und anderen westlichen Partnern und unter den Bedingungen der tatsächlich einseitigen Abrüstung sofort versucht, uns zu Fall zu bringen, uns zu erledigen und endgültig zu vernichten. Genau das geschah in den 90er und frühen 2000er Jahren, als der so genannte kollektive Westen den Separatismus und die Söldnerbanden in Südrussland aktiv unterstützte. Welche Opfer und Verluste hat uns das gekostet, welche Opfer haben wir auf uns nehmen müssen, bis wir dem internationalen Terrorismus im Kaukasus endlich das Handwerk gelegt haben. Wir erinnern uns daran und werden es nie vergessen.

Trotz allem haben wir im Dezember 2021 erneut versucht, mit den USA und ihren Verbündeten eine Einigung über die Sicherheitsgrundsätze in Europa und über die Nichterweiterung der NATO zu erzielen. Alles umsonst. Der Standpunkt der USA hat sich nicht geändert. Sie halten eine Einigung mit Russland in dieser für uns wichtigen Frage nicht für notwendig, sie verfolgen ihre eigenen Ziele und setzen sich über unsere Interessen hinweg.

Und natürlich stellt sich in dieser Situation die Frage: Was ist als nächstes zu tun, was ist zu erwarten? Wir wissen aus der Geschichte, dass die Sowjetunion 1940 und Anfang 1941 alles getan hat, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder zumindest zu verzögern.
Infolgedessen war das Land auf den Einmarsch Nazi-Deutschlands, das am 22. Juni 1941 ohne Kriegserklärung unser Land angriff, nicht vollständig vorbereitet. Der Feind konnte gestoppt und dann vernichtet werden, allerdings zu einem kolossalen Preis. Wir werden einen solchen Fehler nicht ein zweites Mal machen, dazu haben wir kein Recht.

Im militärischen Bereich ist das moderne Russland auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Verlust eines Großteils seines Potenzials heute eine der mächtigsten Nuklearmächte der Welt und verfügt darüber hinaus über gewisse Vorteile bei einer Reihe modernster Waffensysteme.

Schon jetzt, in dem Maße, wie sich die NATO nach Osten ausdehnt, wird die Situation für unser Land von Jahr zu Jahr schlechter und gefährlicher. Darüberhinaus hat die NATO-Führung in den letzten Tagen ausdrücklich von der Notwendigkeit gesprochen, das Vorrücken der Infrastruktur des Bündnisses in Richtung der russischen Grenzen zu beschleunigen und zu forcieren. Wir können nicht länger nur zusehen, was passiert. Das wäre völlig unverantwortlich von uns.

Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – wohlgemerkt auf unseren eigenen historischen Territorien – ein „Anti-Russland“ geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle des Auslandes gestellt, von den Streitkräften der NATO-Länder intensiv entwickelt und mit den modernsten Waffen vollgepumpt wird.

Für unser Land ist es jedoch letztlich eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation. Und das ist keine Übertreibung – so ist es nun einmal. Das ist eine echte Bedrohung nicht nur für unsere Interessen, sondern für die Existenz unseres Staates und seine Souveränität. Das ist die rote Linie, über die immer wieder gesprochen wurde. Sie haben sie überschritten.

In diesem Zusammenhang und in Bezug auf die Situation im Donbass. Wie ich bereits in meiner vorherigen Ansprache sagte, kann man das, was dort geschieht, nicht ohne Mitgefühl betrachten. Es war einfach unmöglich, das noch länger zu ertragen. Es war notwendig, diesen Alptraum – diesen Völkermord an den Millionen von Menschen, die dort leben und nur auf Russland hoffen, die nur auf uns hoffen – sofort zu beenden.

Die führenden NATO-Länder unterstützen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine, die ihrerseits den Menschen auf der Krim und in Sewastopol ihre freie Entscheidung für die Wiedervereinigung mit Russland nie verzeihen werden.
Natürlich werden sie auf die Krim gehen, genau wie in den Donbass, mit einem Krieg, um zu töten, so wie wie die Strafkolonnen der ukrainischen Nationalisten und Hitlers Kollaborateure während des Großen Vaterländischen Krieges wehrlose Menschen getötet haben. Sie erheben auch unverhohlen Anspruch auf eine ganze Reihe anderer russischer Gebiete.

Der gesamte Verlauf der Ereignisse und die Analyse der eingehenden Informationen zeigen, dass ein Zusammenstoß zwischen Russland und diesen Kräften unvermeidlich ist. Es ist nur eine Frage der Zeit: Sie bereiten sich vor, sie warten auf einen günstigen Moment. Jetzt wollen sie auch Atomwaffen. Wir werden das nicht zulassen.

In diesem Zusammenhang habe ich gemäß Artikel 51 im Abschnitt 7 der Charta der Vereinten Nationen, mit Genehmigung des russischen Föderationsrates und in Übereinstimmung mit den von der Bundesversammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträgen über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk beschlossen, eine Militäroperation durchzuführen.
Ihr Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die seit acht Jahren von dem Kiewer Regime misshandelt und ermordet werden. Und zu diesem Zweck werden wir uns bemühen, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren und diejenigen vor Gericht zu stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschließlich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben.

Gleichzeitig sehen unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete vor. Wir haben nicht die Absicht, jemandem etwas mit Gewalt aufzuzwingen.

Ich muss mich auch an die Streitkräfte der Ukraine wenden.

Verehrte Kameraden! Eure Väter, Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft und unser gemeinsames Vaterland verteidigt, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können. Ihr habt einen Eid auf das ukrainische Volk geschworen und nicht auf die volksfeindliche Junta, die die Ukraine ausraubt und eben dieses Volk schikaniert.

Führt ihre kriminellen Befehle nicht aus. Ich fordere Euch auf, die Waffen sofort niederzulegen und nach Hause zu gehen. Um es klar zu sagen: Alle Angehörigen der ukrainischen Armee, die dieser Forderung nachkommen, werden das Kriegsgebiet ungehindert verlassen und zu ihren Familien zurückkehren können.

Nun ein paar wichtige, sehr wichtige Worte an diejenigen, die von außen versucht sein könnten, sich in das Geschehen einzumischen. Wer auch immer versucht, sich bei uns einzumischen, geschweige denn unser Land und unser Volk zu gefährden, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen wurden in dieser Hinsicht getroffen.

 

2.3.6 Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022

Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.

Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Viele von ihnen verleihen ihrem Entsetzen Ausdruck – überall im Land, auch hier in Berlin.

Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.

Das setzt eigene Stärke voraus.

Ja, wir wollen und wir werden unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand sichern.

Meine Damen und Herren, mit dem Überfall auf die Ukraine will Putin nicht nur ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen. Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte.

Präsident Putin redet dabei stets von unteilbarer Sicherheit. Tatsächlich aber will er gerade den Kontinent mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären teilen. Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden.

Fünf Handlungsaufträge liegen nun vor uns.

Erstens. Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen. In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen.

Wie Sie wissen, haben wir gestern entschieden, dass Deutschland der Ukraine Waffen zur Verteidigung des Landes liefern wird. Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben.

Meine Damen und Herren, unser zweiter Handlungsauftrag ist, Putin von seinem Kriegskurs abzubringen. Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen.

Gemeinsam mit den EU-Staats- und -Regierungschefs haben wir ein Sanktionspaket von bisher unbekanntem Ausmaß verabschiedet. Wir schneiden russische Banken und Staatsunternehmen von der Finanzierung ab. Wir verhindern den Export von Zukunftstechnologien nach Russland.

Unsere Richtschnur bleibt die Frage: Was trifft die Verantwortlichen am härtesten? Die, um die es geht, und nicht das russische Volk!
Denn Putin, nicht das russische Volk, hat sich für den Krieg entschieden. Deshalb gehört es deutlich ausgesprochen: Dieser Krieg ist Putins Krieg.

Die Differenzierung ist mir wichtig; denn die Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen nach dem Zweiten Weltkrieg ist und bleibt ein wichtiges Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte.

Deutschland steht heute an der Seite der Ukrainerinnen und der Ukrainer. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl gelten heute den Opfern des russischen Angriffskriegs. Genauso stehen wir an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen.

Meine Damen und Herren, die dritte große Herausforderung liegt darin, zu verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa übergreift. Das bedeutet: Ohne Wenn und Aber stehen wir zu unser Beistandspflicht in der NATO.

Das habe ich auch unseren Alliierten in Mittel- und Osteuropa gesagt, die sich um ihre Sicherheit sorgen. Präsident Putin sollte unsere Entschlossen heit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen.

Die Bundeswehr hat ihre Unterstützung für die östlichen Bündnispartner bereits ausgeweitet und wird das weiter tun.

Meine Damen und Herren, angesichts der Zeitenwende, die Putins Aggression bedeutet, lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten. Das heute klar und unmissverständlich festzuhalten, reicht aber nicht aus; denn dafür braucht die Bundeswehr neue, starke Fähigkeiten.

Und das ist mein viertes Anliegen, meine Damen und Herren. Wer Putins öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine im Fernsehen gesehen hat oder wer wie ich kürzlich persönlich mit ihm stundenlang gesprochen hat, der kann keinen Zweifel mehr haben: Putin will ein russisches Imperium errichten. Er will die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen, und dabei schreckt er nicht zurück vor militärischer Gewalt.

Wir müssen uns daher fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft?

Klar ist: Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.

Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.

Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.

Und wir werden umsteuern – umsteuern, um unsere Importabhängigkeit von einzelnen Energielieferanten zu überwinden. Deshalb gilt: Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser.

Schließlich haben wir die Entscheidung getroffen, zwei Flüssiggasterminals, LNG-Terminals, in Brunsbüttel und Wilhelmshaven schnell zu bauen.

Damit bin ich beim fünften und letzten Punkt. Putins Krieg bedeutet eine Zäsur, auch für unsere Außenpolitik. So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens willen.
Wir werden uns Gesprächen mit Russland nicht verweigern. Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich.

Unsere größte Stärke sind unsere Bündnisse und Allianzen. Ihnen verdanken wir das große Glück, das unser Land seit über 30 Jahren genießt: in einem vereinten Land zu leben, in Wohlstand und Frieden mit unseren Nachbarn.

 

2.3.7 Beschlüsse der UNO

Sicherheitsrat – Vereinte Nationen – S/2022/155 – 25. Februar 2022

Albanien, Andorra, Antigua und Barbuda, Australien, Bahamas, Barbados, Belgien, Belize, Bosnien und Herzegowina, Botsuana, Bulgarien, Chile, Costa Rica, Dänemark, Deutschland, Dominikanische Republik, Ecuador, Estland, Fidschi, Finnland, Frankreich, Gambia, Georgien, Grenada, Griechenland, Guatemala, Haiti, Irland, Island, Italien, Jamaika, Japan, Kanada, Kiribati, Kolumbien, Kroatien, Kuwait, Lesotho, Lettland, Liberia, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Marshallinseln, Mikronesien (Föderierte Staaten von), Monaco, Montenegro, Neuseeland, Niederlande, Niger, Nordmazedonien, Norwegen, Österreich, Palau, Panama, Papua- Neuguinea, Paraguay, Peru, Polen, Portugal, Republik Korea, Republik Moldau, Rumänien, Samoa, San Marino, Schweden, Schweiz, Singapur, Slowakei, Slowenien, Spanien, Suriname, Timor-Leste, Trinidad und Tobago, Tschechien, Türkei, Ukraine, Ungarn, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, Vereinigte Staaten von Amerika und Zypern:

Resolutionsentwurf

Der Sicherheitsrat,

unter Hinweis darauf, dass alle Staaten nach Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet sind, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder anderweitig mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen und ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen,

unter Hinweis auf seine Hauptverantwortung nach der Charta der Vereinten Nationen für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit,

unter Hinweis auf die Schlussakte von Helsinki der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 und das Budapester Memorandum von 1994,

unter Hinweis auf seine Resolution 2202 (2015), in der die Parteien aufgefordert werden, das „Maßnahmenpaket für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“, einschließlich der darin vorgesehenen umfassenden Waffenruhe, vollständig umzusetzen, sowie betonend, wie wichtig die vollständige Durchführung des Minsker Protokolls vom 5. September 2014 und des Minsker Memorandums vom 19. September 2014 ist,

sich der Forderung des Generalsekretärs an die Russische Föderation nach Einstellung ihrer Offensive gegen die Ukraine anschließend,

verurteilend, dass die Russische Föderation am 23. Februar 2022 eine „besondere Militäroperation“ in der Ukraine verkündet hat,
mit dem Ausdruck seiner großen Besorgnis über Meldungen, wonach es Opfer unter der Zivilbevölkerung gibt,

  1. bekräftigt sein Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen;
  2. missbilligt auf das Entschiedenste die gegen die Ukraine gerichtete Aggression der Russischen Föderation unter Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen;
  3. beschließt, dass die Russische Föderation die Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine sofort einzustellen und jede weitere rechtswidrige Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen einen Mitgliedstaat der Vereinten Nationen zu unterlassen hat;
  4. beschließt, dass die Russische Föderation ihre gesamten Streitkräfte sofort vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzuziehen hat;
  5. missbilligt den Beschluss der Russischen Föderation vom 21. Februar 2022 im Zusammenhang mit dem Status bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine als Verletzung der territorialen Unversehrtheit und Souveränität der Ukraine und als mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar;
  6. beschließt, dass die Russische Föderation den Beschluss im Zusammenhang mit dem Status bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine sofort und bedingungslos rückgängig zu machen hat;
  7. fordert die Parteien auf, sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den relevanten internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf ihre vollständige Durchführung hinzuwirken;
  8. fordert alle Parteien auf, den raschen, sicheren und ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe zu den hilfebedürftigen Menschen in der Ukraine zu gestatten und zu erleichtern und die Zivilbevölkerung, darunter auch das humanitäre Personal und die Menschen in prekären Situationen, einschließlich Kindern, zu schützen;
  9. verurteilt alle Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und alle Menschenrechtsverletzungen und -übergriffe und fordert alle Parteien auf, die einschlägigen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts, einschließlich der Genfer Abkommen von 1949 und deren Zusatzprotokollen von 1977, soweit anwendbar, strikt einzuhalten und die Menschenrechte zu achten;
  10. begrüßt und fordert mit Nachdruck die Fortsetzung der Anstrengungen des Generalsekretärs, von Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, der Organisation für
    Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler und regionaler Organisationen, die Deeskalation der aktuellen Situation zu unterstützen, sowie die Anstrengungen der Vereinten Nationen, der humanitären Krise und der Flüchtlingskrise zu begegnen, die durch die Aggression der Russischen Föderation ausgelöst wurden;
  11. beschließt, mit dieser Angelegenheit aktiv befasst zu bleiben.

 

Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 2. März 2022

Aggression gegen die Ukraine
Die Generalversammlung,

in Bekräftigung der überragenden Bedeutung der Charta der Vereinten Nationen für die Förderung der Herrschaft des Rechts in den Beziehungen zwischen den Nationen,

unter Hinweis darauf, dass alle Staaten nach Artikel 2 der Charta verpflichtet sind, in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder anderweitig mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen und ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen,

sowie unter Hinweis auf die nach Artikel 2 Absatz 2 der Charta bestehende Verpflichtung, dass alle Mitglieder, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit der Charta übernehmen, erfüllen,

Kenntnis nehmend von der Resolution 2623 (2022) des Sicherheitsrats vom 27. Februar 2022, in der der Rat eine Notstandssondertagung der Generalversammlung einberief, um die in Dokument S/Agenda/8979 enthaltene Frage zu prüfen,

unter Hinweis auf die Resolution 377 A (V) der Generalversammlung vom 3. November 1950 mit dem Titel „Vereint für den Frieden“ und in Anbetracht dessen, dass die fehlende Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats auf seiner 8979. Sitzung den Rat daran gehindert hat, seine Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wahrzunehmen,

sowie unter Hinweis auf ihre Resolution 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970, in der sie die Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehun- gen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinte Nationen billigte, und in Bekräftigung der darin enthaltenen Grundsätze, dass das Hoheitsgebiet eines Staates nicht zum Gegenstand der Aneignung durch einen anderen Staat als Ergebnis der Androhung oder Anwendung von Gewalt gemacht werden darf und dass jeder Versuch, die nationale Einheit und territoriale Unversehrtheit eines Staates oder Landes teilweise oder gänzlich zu zerstören oder seine politische Unabhängigkeit zu beeinträchtigen, mit den Zielen und Grundsätzen der Charta unvereinbar ist,

ferner unter Hinweis auf ihre Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, nach der „Aggression“ die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen anderen Staat ist,

eingedenk der Bedeutung der Wahrung und Festigung des Weltfriedens auf der Grundlage der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte sowie der Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen unabhängig von ihrem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System oder von ihrem Entwicklungsstand,

unter Hinweis auf die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde, und auf die Vereinbarung über Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Beitritt der Ukraine zu dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Budapester Memorandum) vom 5. Dezember 1994,

verurteilend, dass die Russische Föderation am 24. Februar 2022 eine „militärische Sonderoperation“ in der Ukraine angekündigt hat,

erneut erklärend, dass ein sich aus der Androhung oder Anwendung von Gewalt ergebender Gebietserwerb nicht als rechtmäßig anerkannt werden darf,

mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis angesichts von Berichten über Angriffe auf zivile Einrichtungen wie Wohnhäuser, Schulen und Krankenhäuser und über Opfer unter der Zivilbevölkerung, darunter Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und Kinder,

feststellend, dass die militärischen Operationen der Russischen Föderation innerhalb des Hoheitsgebiets der Ukraine ein Ausmaß haben, das die internationale Gemeinschaft in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat, und dass dringend gehandelt werden muss, um diese Generation vor der Geißel des Krieges zu bewahren,

der Erklärung des Generalsekretärs vom 24. Februar 2022 beipflichtend, in der er daran erinnerte, dass die Anwendung von Gewalt durch ein Land gegen ein anderes Land eine Zurückweisung der Grundsätze darstellt, zu deren Einhaltung sich jedes Land verpflichtet hat, und dass die aktuelle Militäroffensive der Russischen Föderation gegen die Charta verstößt,

unter Verurteilung der Entscheidung der Russischen Föderation, den Bereitschaftsgrad ihrer Nuklearstreitkräfte zu erhöhen,

mit dem Ausdruck ihrer ernsten Besorgnis über die Verschlechterung der humanitären Lage in der und um die Ukraine, wo ständig mehr Binnenvertriebene und Flüchtlinge humanitäre Hilfe benötigen,

sowie mit dem Ausdruck ihrer Besorgnis darüber, dass der Konflikt angesichts dessen, dass die Ukraine und die Region zu den weltweit wichtigsten Getreide- und Agrarexportgebieten gehören, und zu einem Zeitpunkt, zu dem Millionen Menschen in mehreren Weltregionen von Hungersnot betroffen oder unmittelbar bedroht sind oder unter schwerer Ernährungsunsicherheit leiden, sich nachteilig auf die weltweite Ernährungssicherheit sowie auf die Energiesicherheit auswirken könnte,

unter Begrüßung der fortwährenden Anstrengungen des Generalsekretärs und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler und regionaler Organisationen, die Deeskalation der Situation in Bezug auf die Ukraine zu unterstützen, und unter Befürwortung eines anhaltenden Dialogs,

  1. bekräftigt ihr Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich ihrer Hoheitsgewässer;
  2. missbilligt auf das Schärfste die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine unter Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 der Charta;
  3. verlangt, dass die Russische Föderation ihre Gewaltanwendung gegen die Ukraine sofort einstellt und jede weitere rechtswidrige Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen jedweden Mitgliedstaat unterlässt;
  4. verlangt außerdem, dass die Russische Föderation alle ihre Streitkräfte unver- züglich, vollständig und bedingungslos aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen abzieht;
  5. missbilligt die Entscheidung der Russischen Föderation vom 21. Februar 2022 im Zusammenhang mit dem Status bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine als eine Verletzung der territorialen Unversehrtheit und der Souveränität der Ukraine und als mit den Grundsätzen der Charta unvereinbar;
  6. verlangt, dass die Russische Föderation die Entscheidung im Zusammenhang mit dem Status bestimmter Gebiete der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine unverzüglich und bedingungslos rückgängig macht;
  7. fordert die Russische Föderation auf, sich an die in der Charta und in der Erklä- rung über freundschaftliche Beziehungen1 verankerten Grundsätze zu halten;
  8. fordert die Parteien auf, sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Durchführung hinzuwirken;
  9. verlangt, dass alle Parteien den sicheren und ungehinderten Durchlass zu Zielen außerhalb der Ukraine gestatten und den raschen, sicheren und ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe für die Hilfebedürftigen in der Ukraine erleichtern, dass sie Zivilpersonen, einschließlich des humanitären Personals, und Menschen in verletzlichen Situationen, dar- unter Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, indigene Völker, Migrantin- nen und Migranten und Kinder, schützen und die Menschenrechte achten;
  10. missbilligt die Beteiligung von Belarus an dieser rechtswidrigen Gewaltanwen- dung gegen die Ukraine und fordert das Land auf, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen;
  11. verurteilt alle Verletzungen des humanitären Völkerrechts sowie alle Menschen- rechtsverletzungen und -übergriffe und fordert alle Parteien auf, die einschlägigen Bestim- mungen des humanitären Völkerrechts, einschließlich der Genfer Abkommen von 19492 und des Zusatzprotokolls I von 19773, soweit anwendbar, strikt einzuhalten und die internationalen Menschenrechtsnormen zu achten, und verlangt in dieser Hinsicht ferner, dass alle Parteien die Schonung und den Schutz des gesamten Sanitätspersonals und ausschließlich medizinische Aufgaben wahrnehmenden humanitären Personals, seiner Transportmittel und Ausrüstung sowie der Krankenhäuser und anderer medizinischer Einrichtungen gewährleisten;
  12. verlangt, dass alle Parteien ihren nach dem humanitären Völkerrecht bestehenden Verpflichtungen vollständig nachkommen, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu schonen, für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Gegenstände weder anzugreifen noch zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen und humanitäres Personal und für humanitäre Hilfseinsätze verwendete Sendungen zu schonen und zu schützen;
  13. ersucht den Nothilfekoordinator, 30 Tage nach der Verabschiedung dieser Re- solution einen Bericht über die humanitäre Lage in der Ukraine und über die humanitären Maßnahmen vorzulegen;
  14. fordert nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Ver- mittlung und andere friedliche Mittel;
  15. begrüßt und fordert nachdrücklich die fortgesetzten Anstrengungen des Generalsekretärs, von Mitgliedstaaten, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler und regionaler Organisationen zur Unterstützung der Deeskalation der aktuellen Situation sowie die Anstrengungen der Vereinten Nationen, na- mentlich des Krisenkoordinators der Vereinten Nationen für die Ukraine, und humanitärer Organisationen zur Bewältigung der humanitären Krise und der Flüchtlingskrise, die durch die Aggression der Russischen Föderation entstanden sind;
  16. beschließt, die elfte Notstandssondertagung der Generalversammlung vorläufig zu vertagen und den Präsidenten der Generalversammlung zu ermächtigen, die Tagung auf Antrag von Mitgliedstaaten wiederaufzunehmen.

 

2.3.8 Ein Friedensplan der italienischen Regierung

Der erste Schritt ist ein Waffenstillstand, der im Kampf ausgehandelt werden muss. Es ist ein grundlegendes Element, weil es unrealistisch ist, sich vorzustellen, dass ein Waffenstillstand von selbst zustande kommt oder die Voraussetzung für Verhandlungen ist. Der Waffenstillstand sollte nach dem italienischen Vorschlag von Überwachungsmechanismen und der Entmilitarisierung der Frontlinie begleitet werden, um die offenen Fragen zu erörtern und den Boden für eine endgültige Einstellung der Feindseligkeiten zu bereiten. Angesichts der Situation vor Ort ist dies der komplexeste Schritt. Wenn dies geschehen wäre, würde es einen bedeutenden Raum des Friedens eröffnen.

Der nächste Schritt – der zweite – dreht sich um multilaterale Verhandlungen über den künftigen internationalen Status der Ukraine. Und insbesondere über die eventuelle Bedingung der Neutralität in Kiew, die durch eine internationale politische „Garantie“ gewährleistet wird. Das Forum, um diese Neutralität zu diskutieren, wäre eine Friedenskonferenz. Voraussetzung für den Schutz der Ukrainer ist, dass dieser Status mit der Absicht des Landes, Mitglied der EU zu werden, uneingeschränkt vereinbar ist. Ein entscheidender Aspekt, da die Mitgliedschaft Verpflichtungen und Klauseln mit sich bringt, die an den Ausnahmecharakter des Beitritts angepasst werden sollten.

Der dritte Punkt, der aus diplomatischer Sicht „heißeste“ ist, betrifft die Definition des bilateralen Abkommens zwischen Russland und der Ukraine über territoriale Fragen, wiederum nach internationaler Vermittlung. Zentral sind offensichtlich die Krim und der Donbass. In dem Pakt, so der Plan, sollen Streitigkeiten über international anerkannte Grenzen, den Souveränitätsproblem, die territoriale Kontrolle, die gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Bestimmungen dieser Gebiete, die politischen Maßnahmen der Selbstverwaltung beigelegt werden. Dazu gehören sprachliche und kulturelle Rechte, der freie Personen-, Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, die Bewahrung des historischen Erbes und bestimmte befristete Revisionsklauseln. Die Themenliste deutet den Rahmen an: eine praktisch vollständige Autonomie der umstrittenen Bereiche und ein autonomes Sicherheitsmanagement. Doch der Verweis auf international anerkannte Grenzen zeigt die Absicht, die Souveränität Kiews über das gesamte Staatsgebiet nicht in Frage zu stellen.

Endlich die vierte Stufe. Im Kontext der OSZE und der Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union wird ein neues multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa vorgeschlagen. In der Tat eine Neuordnung der internationalen Gleichgewichte, beginnend mit dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Moskau. Innerhalb dieses Rahmens sind eine Reihe von Prioritäten zu definieren: strategische Stabilität, Abrüstung und Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung und vertrauensbildende Maßnahmen.

 

Der frühere russische Präsident Medwedew lehnte den Plan ab43:

 

Medwedew: „Die Krim an die Ukraine? Es wäre ein totaler Krieg“

Der Versuch, eine autonome Krim unter der Souveränität der Ukraine zu schaffen, stellt eine Bedrohung für Russland dar und könnte zu einem „totalen Krieg“ führen. Dies erklärte der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew, derzeit stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates, und lehnte den im italienischen Friedensplan enthaltenen Vorschlag ab. Keine politische Kraft in Russland würde eine solche Lösung akzeptieren, denn „es käme einem Verrat am Land gleich“, fügte Medwedew hinzu, der von der Tass-Agentur zitiert wurde.

 

Stellungnahmen aus wichtigen Institutionen des Westens sind nicht bekannt.

2.4 Weitere Quellen

2.4.1 Deutende Texte

  1. John J. Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault

    Jeder Tag bringt neue Meldungen, neue Informationen, neue Meinungen. Unterricht sollte versuchen, grundlegende Positionen sowohl der Kriegsparteien als auch der Auseinandersetzung mit dem Krieg bekannt zu machen. Sie finden sich in Texten von Politikern und Institutionen, aber auch in publizistischen Texten. Besonders interessant sind dabei Texte von jenen, die als „Politikwissenschaftler“44 schreiben.

    Aber man sollte sich dennoch ein paar Texte anschauen, die eine etwas längere Haltbarkeit haben könnten. Eigentlich müssten diese Texte hier vollständig abgedruckt werden. Die Leser könnten von einer Bezahlschranke abgehalten werden, aber eine komplette Wiedergabe wird vom Urheberrecht verhindert. So bleibt nur der Versuch, Texte vorzustellen, die der Lehrer für den Unterricht selbst im Internet finde n, gewinnen und für den Unterricht aufbereiten muss.

    In der politikwissenschaftlichen und publizistischen Debatte setzte der Text des „Realisten“ John J. Mearsheimer einen Markstein45. UM diesen Text kommt man nicht herum, egal, wie man zur Sache steht.

    Im Westen gilt es als gesicherte Erkenntnis, dass an der Ukraine-Krise maßgeblich die aggressive Haltung der Russen schuld ist. Der russische Präsident Wladimir Putin, so die gängige Argumentation, hat die Krim annektiert, weil er schon lange eine Wiederbelebung des Sowjetreichs im Sinn hatte, und wird womöglich auch den Rest der Ukraine und andere Länder Osteuropas ins Visier nehmen. Die Absetzung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014 habe Putin lediglich den Vorwand dafür geliefert, russische Streitkräfte auf die Krim zu entsenden.

    Doch diese Darstellung ist falsch: Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten. An der Wurzel des Konflikts liegt die NATO-Osterweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden. Dazu kamen die EU-Osterweiterung und die Unterstützung der Demokratiebewegung in der Ukraine durch den Westen, beginnend mit der Orangenen Revolution 2004. Seit Mitte der 1990er Jahre lehnen russische Staatschefs eine NATO-Osterweiterung entschieden ab, und in den vergangenen Jahren haben sie unmissverständlich klargemacht, dass sie einer Umwandlung ihres strategisch wichtigen Nachbarn in eine Bastion des Westens nicht untätig zusehen würden. Das Fass zum Überlaufen brachte der unrechtmäßige Sturz des demokratisch gewählten pro-russischen Präsidenten der Ukraine; Putin sprach zu Recht von einem »Staatsstreich«. Als Reaktion darauf annektierte er die Halbinsel Krim, auf der, wie er befürchtete, die Einrichtung einer NATO-Marinebasis geplant war, und betrieb die Destabilisierung der Ukraine, um sie von einer Annäherung an den Westen abzubringen.

    Putins Gegenwehr kam eigentlich alles andere als überraschend. Immerhin war der Westen, wie Putin nicht müde wurde zu betonen, in den Hinterhof Russlands vorgedrungen und hatte dessen strategische Kerninteressen bedroht. Die politischen Eliten der USA und Europas trafen die Ereignisse nur deshalb unvorbereitet, weil sie der Logik des Realismus im 21. Jahrhundert kaum noch Bedeutung zumessen und davon ausgehen, dass sich die Einheit und Freiheit Europas mittels liberaler Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, ökonomischer Interdependenz und Demokratie gewährleisten lassen.

    Doch dieses Konzept ging in der Ukraine nicht auf. Die dortige Krise belegt, dass die Realpolitik durchaus noch relevant ist – und Staaten, die dies übersehen, es auf eigene Gefahr tun. Der Versuch US-amerikanischer und europäischer Politiker, die Ukraine in einen Stützpunkt des Westens direkt an der russischen Grenze zu verwandeln, ist gründlich misslungen. Nun, da die Konsequenzen unübersehbar sind, wäre es ein noch größerer Fehler, diese verhunzte Politik fortzusetzen.

     

  2. Fiona Hill: „Es geht um die Zusammenführung der einstigen Teile des Russischen Reiches“

    Ganz anders sieht die US-amerikanische Russland-Expertin Fiona Hill den Ursprung von Krise und Krieg46:

    Bereits der erste Angriff auf die Ukraine 2014 war von der Wiederherstellung der Russkiy Mir, der „russischen Welt“, inspiriert. Ist das mittlerweile Putins übergeordnetes Ziel?

    Nun, Belarus ist ja bereits absorbiert worden. Und die Ukraine gehört auch dazu. Nicht umsonst spricht man oft von Malorossija, also „Kleinrussland“. Der Begriff Russkiy Mir beschreibt den Raum der größten Ausdehnung alles Russischen, sowohl im Sinne der russischen Sprache als auch mit Blick auf die Einflusssphäre der russisch-orthodoxen Kirche.

    Aus Putins Sicht geht es um die Zusammenführung der Länder, die einst Teil des Russischen Reichs waren – und um Einfluss und Dominanz über andere. Putin flirtet immer wieder mit Ideologien und Geschichten, die nützlich sind, um die Existenz des Russischen Reichs zu rechtfertigen. Die Sowjetunion ist für ihn nur eine andere Version dieses Reichs.

    Den Zusammenbruch der Sowjetunion hat Putin bekanntlich als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet …
    Dabei hatte er auch den „Verlust“ einiger Länder und Völker des Russischen Reichs im Sinn. Und in seiner Rede zur Rechtfertigung des Kriegs gegen die Ukraine kritisierte er Lenin und die Bolschewiki dafür, dass sie eine separate Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der UdSSR geschaffen hatten. Folgt man Putins Beschwörung der früheren Geschichte, dann sieht er Belarus, den größten Teil der Ukraine, Transnistrien, Bessarabien, Moldau und wahrscheinlich auch die nördlichen Teile Kasachstans als Teil der russischen Welt.
    In der Region ist man sich der möglichen Folgen dieser Haltung durchaus bewusst: In Zentralasien haben sich Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Turkmenistan deshalb zuletzt ausgesprochen ruhig verhalten und diplomatisch zwischen Russland und China laviert. Ich denke, Putin hat allen Staatsoberhäuptern in der Region sehr deutlich gemacht, dass es großen Ärger geben wird, wenn sie sich zu sehr in Richtung USA, Westen, Europa und Nato bewegen. Und er hat die potenziellen Konsequenzen bereits demons triert: Der Einmarsch in Georgien im Jahr 2008 war ein großes rotes Warnschild für alle anderen Staaten in der Region.

    Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte 2014, Putin lebe „in einer anderen Welt“. Hatte sie recht?

    Sie hatte völlig recht. In den Vereinigten Staaten wurde das Zitat zunächst missverstanden, im Sinne von „Putin ist irrational“ oder „Putin ist verrückt“. Was sie damit auf Deutsch offenbar sagen wollte, war, dass Putin in einem völlig anderen Bezugsrahmen lebt. Mittlerweile ist klar, dass Putin sich als die Verkörperung des russischen Staats sieht. Es ist diese Besessenheit, seine Version der Geschichte, die uns an den Punkt geführt haben, an dem wir heute stehen.

    Auch hier geht es also nicht nur um die Nato. Es geht um Putins Auffassung davon, welcher Platz Russland in Europa zusteht. Er hat oft gesagt, dass er eine Anerkennung der Tatsache erwarte, dass Russland „ein außergewöhnlicher Staat“ sei.

    Deshalb hat er sich auch oft gegen das amerikanische Gefühl des Exzeptionalismus gewehrt und gesagt: Außergewöhnlich sind wir auch. Wir haben unseren rechtmäßigen Platz in Europa und der Welt, und deshalb wollten wir von der Nato nicht nur eine beratende Rolle, sondern ein Vetorecht. Die Forderungen, die Putin im Dezember 2021 aufgestellt hat, sind in dieser Hinsicht sehr eindeutig: Der Präsident will Russlands Vorherrschaft im ehemaligen Sowjetblock, einschließlich der baltischen Staaten, Polens, Ungarns, der Slowakei, der Tschechischen Republik und des Balkans festigen.

    Ich selbst war einmal in diesem riesigen weißen Raum, in dem sich Putin zuletzt an seinem außergewöhnlich langen Tisch mit Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz getroffen hat. Als ich dort war, sah ich vier Statuen, die der Präsident offenkundig selbst ausgesucht hatte. Es waren Peter der Große, Katharina die Große, Alexander I. und Nikolaus I. Das erzählt uns doch bereits die ganze Geschichte: Putin sieht sich als Wladimir der Große, und er wird möglicherweise bis 2036 a n der Macht bleiben, was ihn noch vor Stalin zum dienstältesten Staatschef in der modernen russischen und sowjetischen Geschichte machen würde.

    Was sagt uns das über die etwaigen Grenzen seiner Ambitionen?

    Nichts Gutes. Wir sehen daran, dass Putins Ziele eher maximalistisch sind. Er macht Druck, und wenn er auf Schwäche stößt, wird er weiter Druck machen.

    Die geradezu unfreiwillige Dominanz der USA habe Russland in eine – allerdings selbstgewählte – verzweifelte Lage gebracht, die zum Angriff Russlands gegen die Ukraine führte.

     

  3. Robert Kagan: The Price of Hegemony

    Der einflussreiche US-amerikanische Politikwissenschaftler Robert Kagan47 schreibt gegen den Vorwurf, die USA würden sich überall einmischen48:

    Die Vereinigten Staaten waren bereits während des Kalten Krieges die einzige echte globale Supermacht mit ihrem beispiellosen Reichtum und ihrer Macht und ihren umfangreichen internationalen Allianzen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion verstärkte die globale Hegemonie der USA nur – und nicht, weil Washington eifrig eintrat, um das Vakuum zu füllen, das Moskaus Schwäche hinterlassen hat. Stattdessen erweiterte der Zusammenbruch den Einfluss der USA, weil die Kombination aus Macht und demokratischen Überzeugungen der Vereinigten Staaten das Land für diejenigen attraktiv machte, die Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und Autonomie anstreben. Die Vereinigten Staaten sind daher ein auferlegendes Hindernis für ein Russland, das versucht, seinen verlorenen Einfluss zurückzugewinnen.

    Was in den letzten drei Jahrzehnten in Osteuropa passiert ist, ist ein Beweis für diese Realität. Washington strebte nicht aktiv danach, die dominierende Macht der Region zu sein. Aber in den Jahren nach dem Kalten Krieg wandten sich die neu befreiten Länder Osteuropas, einschließlich der Ukraine, an die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten, weil sie glaubten, dass der Beitritt zur transatlantischen Gemeinschaft der Schlüssel zu Unabhängigkeit, Demokratie und Wohlstand sei. …

    In den 1990er Jahren gab es sicherlich Russen – zum Beispiel Jelzins Außenminister Andrej Kozyrev -, die dachten, dass Russland eine ähnliche Entscheidung treffen sollte. Sie wollten Russland auch auf Kosten traditioneller geopolitischer Ambitionen in den liberalen Westen integrieren. Aber das war nicht die Ansicht, die letztendlich in Russland vorherrschte. … Seine Eliten dachten, dass die wahrscheinlichste Folge der Integration die Herabstufung Russlands zu bestenfalls zu einer zweitrangigen Macht sein würde. Russland wäre in Frieden, und es hätte immer noch eine Chance zu gedeihen. Aber es würde nicht das Schicksal Europas und der Welt bestimmen.

     

  4. Sergei Karaganow: Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin

    Ganz anders, aber vielleicht nur spiegelverkehrt, argumentiert der russische Politologe Sergei Karaganow49. Auch ihm werden enge Beziehungen zur Staatsspitze nachgesagt.

    Derzeit befindet sich der Westen auf einem langsamen, aber unausweichlichen Zerfallskurs, sowohl innen- als auch außenpolitisch und sogar wirtschaftlich. Und genau aus diesem Grund hat er nach fast fünfhundert Jahren weltpolitischer, wirtschaftlicher und kultureller Vorherrschaft diesen neuen Kalten Krieg begonnen. Vor allem nach seinem entscheidenden Sieg in den 1990ern bis Mitte der 2000er-Jahre. Ich glaube, dass der Westen höchstwahrscheinlich verlieren wird, indem er als globaler Führer zurücktritt und ein vernünftigerer Partner wird. Und das keinen Moment zu früh: Russland wird seine Beziehungen zu einem freundlichen, aber zunehmend mächtigeren China ausbalancieren müssen.

    Der Westen versucht derzeit verzweifelt, sich mit aggressiver Rhetorik dagegen zu wehren. Er versucht, sich zu konsolidieren und seine letzten Trümpfe auszuspielen, um diesen Trend umzukehren. Einer dieser Trümpfe ist der Versuch, die Ukraine zu nutzen, um Russland zu schaden und zu schwächen. Es ist wichtig zu verhindern, dass sich diese krampfhaften Versuche in ein vollwertiges Patt verwandeln, und der derzeitigen Politik der USA und der NATO entgegenzuwirken. Sie sind kontraproduktiv und gefährlich, auch wenn sie für die Initiatoren relativ unproblematisch sind. Wir müssen den Westen erst noch davon überzeugen, dass er sich damit nur selbst schadet.

    Ein weiterer Trumpf ist die dominierende Rolle des Westens im bestehenden euro-atlantischen Sicherheitssystem, das zu einer Zeit geschaffen wurde, als Russland nach dem Kalten Krieg stark geschwächt war. Es ist sinnvoll, dieses System allmählich zu beseitigen, vor allem indem man sich weigert, an ihm teilzunehmen und nach seinen veralteten Regeln zu spielen, die für uns von Natur aus nachteilig sind. Für Russland sollte die westliche Schiene gegenüber seiner eurasischen Diplomatie zweitrangig werden. Die Aufrechterhaltung konstruktiver Beziehungen zu den Ländern im westlichen Teil des Kontinents kann Russland die Integration in den eurasischen Großraum erleichtern. Das alte System steht jedoch im Weg und sollte daher abgebaut werden.

     

    Dieser Krieg wird an der ideologischen Front mit großer Härte geführt. Putin setzte als Kriegsziel die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Im Westen hält man das für eine propagandistische Formel. Die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti veröffentlichte einen Beitrag von Timofei Sergeitsev, ein in Deutschland kaum bekannter Autor, unter der Überschrift „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“50:

    Wir brauchen keine Nazis, eine Bandera Ukraine, einen Feind Russlands und ein Instrument des Westens, um Russland zu zerstören. Heute hat sich das Thema Entnazifizierung auf die praktische Ebene verlagert.

    Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – höchstwahrscheinlich die Mehrheit – vom Nazi-Regime absorbiert und in die Politik hineingezogen wurde. Das heißt, wenn die Hypothese „Das Volk ist gut – die Regierung ist schlecht“ nicht funktioniert. Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, all ihrer Aktivitäten, und die Tatsache selbst ist ihr Thema.

    Russland ist für die Ukraine zuständig

    Ukraine ist in dieser Situation. Die Tatsache, dass der ukrainische Wähler für den „Frieden von Poroschenko“ und die „Welt von Selenskyj“ gestimmt hat, sollte nicht irreführend sein – die Ukrainer waren mit dem kürzesten Weg zum Frieden durch den Blitzkrieg durchaus zufrieden, den die letzten beiden ukrainischen Präsidenten bei ihrer Wahl transparent andeuteten. Es ist diese Methode der „Beschwichtigung“ interner Antifaschisten – durch totalen Terror –, die in ODESSA, Charkiw, Dnepropetrowsk, Mariupol, andere russische Städte. Und das passte dem ukrainischen Mann auf der Straße ganz gut. Die Entnazifizierung ist eine Reihe von Maßnahmen gegen die nationalsozialisierte Masse der Bevölkerung, die technisch nicht direkt als Kriegsverbrecher bestraft werden können.

    Im weiteren Verlauf des Textes werden Maßnahmen vorgeschlagen, die – vielleicht ist es ein Problem der Übersetzung, vielleicht sind die Formulierungen mit Absicht zweideutig und ungenau – als Programm einer vollständigen Umerziehung der gesamten Bevölkerung der Ukraine in Verbindung mit Massenmord an den führenden politischen und sozialen Schichten gelesen werden kann. Dieser Text hat im Westen großes Aufsehen erregt und ist mit Empörung kommentiert worden51.

     

  5. Vladimir Laučius: Was tun mit Russland?

    Von der Seite der Unterstützer der Ukraine gibt es durchaus Ähnliches zu lesen. Der Litauer Vladimir Laučius 52veröffentlichten schrieb53:

    Der einzige „Diplomat“, der den russischen Bolschewismus richtig behandelte, war Marschall Heinz Guderian, als sich die 2. Panzerarmee unter seinem Kommando Moskau näherte. Dies ist der seltene Fall, in dem die Erben Lenins, die immer noch in Russland das Sagen haben, in die Pflicht genommen wurden, und der Aufruf, der an sie erging, war ganz anders als der von Macron – und es ging nicht darum, „das Gesicht zu wahren“. …

    Russlands Wahrnehmung im Westen beruht bislang auf falschen Annahmen, Russland sei ein Teil Europas, der durch wirtschaftliche Zusammenarbeit befriedet werden könne und sich so schrittweise in den Westen integrieren könne – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Die Wahrheit ist, dass Russlands wirtschaftliche Integration nicht der Weg zu seiner politischen Verwestlichung ist, und Russland war nie und wird in naher Zukunft kein Teil Europas sein. …

    Der Weg des Rückzugs sollte nicht Putin überlassen werden, sondern Russland, von dem ein Regimewechsel klar erwartet wird.

    Ein Regimewechsel in Russland kann nur im Rahmen autoritärer Herrschaft stattfinden. Demokratie in Russland ist im Moment nicht nur unmöglich, sondern auch unerwünscht, da freie Wahlen höchstwahrscheinlich einen weiteren Putin oder Stalin an die Macht bringen würden. Die Gehirne der russischen Gesellschaft sind so beschädigt, dass, wenn sie nicht repariert würden, die Abstimmung viel schlimmer wäre als die, die 1933 in Deutschland stattfand.

    Die erste Stufe ist die Ersetzung eines dem Westen feindlich gesinnten Regimes durch ein viel günstigeres Regime, das, nachdem es bestimmte Sicherheitsgarantien vom Westen erhalten hat, sich verpflichten würde, die russische Gesellschaft zu erziehen und zu verwestlichen. Dies kann eine Übergangszeit von mindestens 15-20 Jahren erfordern.

    Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Texte nur durch das Objekt der Betrachtung, der Umerziehung. Der Tonfall des litauischen Texte klingt zivilisierter. Aber es geht in beiden Fällen um den vollständigen Umsturz, das Auswechseln nicht nur der Regierung, sondern gleich des ganzen politischen Systems mit einer anschließenden langjährigen Erziehungsdiktatur. Einen Unterschied gibt es allerdings: Der litauische Text ist in Westen nicht zur Kenntnis genommen worden. Über die politischen Ideologien, Konzeptionen und auch Verrücktheiten, die in den „westlichen“ osteuropäischen Staaten umher laufen, weiß man in Deutschland praktisch nichts. Dieser Text kann auf diese Lücke hinweisen.

2.4.2 Stellungnahmen

Ein Text aus einem Kreis von Politikwissenschchaftlern, ehemaligen Militärs und Angehörigen des Diplomatischen Diestes um Professor Johannes Varwick aus der Zeit vor dem Krieg.
https://www.gsp-sipo.de/news/news-details/aufruf-zur-verbesserung-der-beziehungen-zu-russland

Eine Web-Seite aus der Friedensbewegung mit Stellungnahmen und Aktionsvorschlägen
https://nie-wieder-krieg.org/

„28 Intellektuelle und KünstlerInnen schreiben einen Offenen Brief an Kanzler Scholz. Sie befürworten seine Besonnenheit und warnen vor einem 3. Weltkrieg.“ Der Aufruf löste eine heftige öffentliche Kontroverse aus.
https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463

Ein Gegentext: „Viele Menschen dürften seit Wochen auf diesen offenen Brief gewartet haben: Endlich haben sich bekannte Journalisten, Wissenschaftler und Künstler zusammengetan, um für eine Unterstützung der Ukraine zu werben.“
https://www.blog-der-republik.de/offener-brief-an-bundeskanzler-olaf-scholz-gegen-weitere-waffenlieferungen-an-die-ukraine-deeskalation-jetzt/

Fußnoten:

3

Wolfgang Hilligen: Worauf es ankommt (1961), in ders.: Zur Didaktik des politischen Unterrichts Bd II, Opladen 1976, überarbeitete Fassung, S. 53 – 79, hier S. 60ff., und ders.: Zur Didaktik des politischen Unterrichts Bd I, S. 28ff, „’Überleben‘ und ‚gutes Leben‘ als Schlüsselbegriffe für ein didaktisches Instrumentarium“.

4

Zum Beispiel der Atomwaffenverbotsvertrag https://de.wikipedia.org/wiki/Atomwaffenverbotsvertrag. Von großer Bedeutung ist die Entwicklung in den Atomwaffenstaaten: Upsetting the nuclear order: how the rise of nationalist populism increases nuclear dangers, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10736700.2020.1864932.

7

Deshalb ist die Beschäftigung mit Clausewitz erforderlich, insbesondere mit dessen Aussagen über das Verhältnis von Politik und Krieg und über die Informationslage im Krieg. – Eine Beschäftigung mit Kriegspropaganda wäre ebenfalls sinnvoll https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Prinzipien_der_Kriegspropaganda.

8

Kurt Gerhard Fischer u.a. 1960: Der politische Unterricht, Bad Homburg v.d. Höhe Berlin Zürich: Gehlen 1960, S.104f

10

Ein Unterricht, in dem der Lehrer die Informationstexte schreibt, über die die Schüler*innen dann arbeiten, scheidet also aus. Politische und militärische Lagen von Krise und Krieg sind immer unübersichtlich. Deutungen beteiligter Akteure bestimmen die Wahrnehmung. Deshalb ist es erforderlich, mit den Schüler*nnen Selbständigkeit bei der Gewinnung von Informationen und der Formulierung von Urteilen zu üben. In späteren Jahren steht auch kein Lehrer den Schüler*innen bei, nur noch Markus Lanz.

12

Ferne Vorbilder dieses Textes: Die Buchreihe „Texte zur politischen Bildung“, hrsgg von Franz Neumann, Signal-Verlag Baden-Baden, 1978f. Der Band „Frieden“ von Reimer Gronemeyer beispielsweise ist immer noch lesenswert.

22

https://www.ipb.org/wp-content/uploads/2022/04/CommonSecurity_Report_2022_DE.pdf – Deutsche Fassung vom 14.4.2022 erstellt von: International Peace Bureau, Marienstr. 19-20, D-10117 Berlin, info@ipb-office.berlin

23

Carlo Masala: WELTUNORDNUNG – Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, Verlag C.H.Beck, München 2016

33

Resolutionsentwurf für den Sicherheitsrat https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_sonst/s22-155.pdf, Veto Russlands. Der Beschluss der Vollversammlung und das Abstimmungsverhalten https://de.wikipedia.org/wiki/Resolution_ES-11/1_der_UN-Generalversammlung, https://www.un.org/Depts/german/gv-notsondert/a-es11-1.pdf,

34

https://www.repubblica.it/politica/2022/05/19/news/piano_pace_governo_italiano_4_tappe-350167027/,
Übersetzung mit Google-Translator; eine in den wichtigen Teilen fast wörtliche Wiedergabe des Textes
aus der italienischen Zeitung:
https://www.infosperber.ch/politik/italien-legt-uno-einen-plan-fuer-den-frieden-in-der-ukraine-vor/

41

Wer den Gesamttext von „Vom Kriege“ aufschlägt, könnte die grundlegenden Erkenntnisse, die die Jahrhunderte überdauern, unter den vielen zeitbedingten Abschnitten übersehen. Sie müssen deshalb besonders herausgestellt werden.

42

https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Prinzipien_der_Kriegspropaganda und Anne Morelli: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Zu Klampen, Springe 2004

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Dieses akademische Fach scheint, von den inneruniversitären Beschäftigungen abgesehen, inzwischen kaum noch mehr als Bedarfs-Journalismus, Meinungsseelsorge und ideologische Konzeptverkündigung mit Fußnoten zu sein. Die Erwartung des „Laien“, er bekomme hier durch Wissenschaft verlässliches Wissen, sei vor Unsinn sicher, wird kaum bedient. Der Laie muss sich vielmehr selbst über die Produkte dieser Wissenschaft seine eigene Auffassung bilden.

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https://deutsch.rt.com/meinung/132433-sergei-karaganow-russlands-neue-aussenpolitik/ – Weil die Internet-Seite des russischen Staatssenders RT in der EU blockiert wird, kann es sein, dass dieser Text inzwischen irgendwo anders im Netz zu finden ist. – Ein anderer Text von Karaganow, leichter zugänglich: https://www.tagesspiegel.de/politik/interview-mit-putins-vordenker-die-demokratie-in-ihrer-jetzigen-form-wird-im-grossteil-europas-nicht-ueberleben/28287068.html. Zur Person https://de.wikipedia.org/wiki/Sergei_Alexandrowitsch_Karaganow

Datum: \today

Autor: Dr. Horst Leps

Created: 2022-09-16 Fri 20:31

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